Der Einzelne und sein Eigentum
Teil 1 Die Entdeckung der Hände – Ethischer Individualismus und Liberalismus

Autor/in:
Erscheinungsjahr: 1987
Quellenangaben: Die Drei, 57. Jg., 1987, Nr. 3, März 1987, S. 159–178

Zusammenfassung

„Anmerkungen zu einer Geschichte der Freiheitsidee“ verfasst Henning Köhler in diesem Aufsatz. Der Fokus liegt auf den Ideen der frühen Neuzeit, der Philosophie und Staatstheorie des Liberalismus: Hobbes, Locke, Macchiavell, Grotius. – Nachdem das Individuum sich aus der Geborgenheit und den Zwängen einer göttlichen Weltordnung, so wie man sie im Mittelalter empfunden hat, gelöst hat, stellen sich auch die elementaren Fragen von Freiheit und Gemeinschaft neu: Wie legitimieren sich Herrscher, die nicht mehr als durch göttliche Vorsehung eingesetzt empfunden werden? Welche Freiheitsrechte haben ihre Untertanen? Henning Köhler schreibt mit ständigem Blick auf den „ethischen Individualismus“ Rudolf Steiners, das freie Geistesleben und die Dreigliederung. In seine Betrachtungen bezieht er auch Sartre und Beckett mit ein. Er kommt zu dem Schluss, dass das Lebesgefühl des Mittelalters aus einer „träumenden Hauptesregion“ entsprang (Empfindungsseele) und das der frühen Neuzeit aus dem Gefühl für die Vernunft und Tüchtigkeit der Hände (Verstandes-/Gemütsseele). In der Gegenwart gilt es, eine individualistische Ethik zu entwickeln, die dem Gefühl entspringt: Ich gehe mit meinen Füßen der Zukunft entgegen (Bewusstseinsseele/Geistselbst). Aus dieser individualistischen Ethik ergibt sich auch klar die Notwendigkeit eines freien Geisteslebens, das den Bereich der Politik, in Unabhängigkeit von ihr, mit neuen Ideen zu befruchten weiß, und damit ein Element der Dreigliederung bildet.

Inhalt

  • Die Kardinalfrage der modernen Philosophie
  • Wider den kategorischen Imperativ
  • Die Anfänge der politischen Philosophie
  • Thomas Hobbes: Freiheit für die Staatsraison
  • Die Angst vor der Freiheit
  • John Locke: Vom Gebot zur Pflicht
  • Die Entdeckung der Hände
  • Dem Tüchtigen ein Königreich
  • «Der Weg ist das Ziel»
  • Macchiavell: Mündigkeit und Macht
  • Grotius: Recht und Eigentum

Zitate

Solange es ein ... soziales Leben gibt, kann es Freiheit nicht geben. Indem ich Mensch unter Menschen bin, kann ich nicht frei sein. Indem ich irgend etwas bin im Zusammenhang mit irgend etwas, bin ich unfrei, denn Zusammenhang ist Bewegungsbehinderung. Dies ist das unausweichliche, niederschmetternde Resultat jeder materialistischen Untersuchung der Freiheitsfrage.

Der soziale Organismus in seiner Freiheitsgestalt ist ein solcher, der zu jeder Zeit und auf allen Ebenen offengehalten wird für individuelle Gestaltungsimpulse; der also seine Entwicklungsrichtung je findet aus der Kraft überzeugender Ideen innerhalb eines freien Geisteslebens, wobei jegliches Privileg auf Autorenschaft heute der Sache nach entfällt.

Der Himmel schließt sich, und neben den Glauben stellt sich als rivalisierende Geistesmacht die nüchtern-logische Verstandeskultur: Ouvertüre des materialistischen Zeitalters. Indem der Einzelne in sich die Fähigkeit und den Drang wachsen fühlt, aus den Kräften persönlicher Klugheit und Tüchtigkeit sein Schicksal zu meistern, kommen auch Selbstsucht und Hinterlist hervor, willkürliche Gewalt und Übervorteilung aus Eigennutz. Das ist der Schattenwurf des neuen Persönlichkeitsgefühls, den schon im 15. Jahrhundert mit besonderer Schärfe der Italiener Macchiavell gezeichnet hatte. Die Rechtlosen und Unterdrückten am Sockel der Pyramide erleben mit nie dagewesener Wucht ihren Ausschluß aus dem Kulturprozeß und klagen die Teilnahme ein.

Der Menschheit erwächst die Chance, in freiem Wahrheitsstreben wiederzufinden, was sie als göttliche Wegzehrung aufgebraucht hat. Aus der Geistgeborgenheit entlassen, bereitet sie sich vor auf Geisterkenntnis und durchschreitet auf diesem Weg ein Stadium der Orientierungslosigkeit. Als Reaktion erfolgt die Zuflucht zur straff organisierten weltlichen Ordnung. Die Entwicklung geht dahin, daß das Verhältnis des Menschen zur Gottheit sich als ein persönliches gestaltet, während dasjenige zur weltlichen Obrigkeit auf einem davon getrennten Felde seine Regelung findet.

Indem der Mensch nur dem zu folgen lernt, was er an idealischen Lebenszielen und schöpferischen Impulsen in sich findet als das Eigentliche, Ursächliche, um dessentwillen er sich auf den Weg begeben hat, löst er den Widerspruch zwischen Freiheit und Pflicht, Wollen und Sollen tätig auf.

Nur als ein Freier kann sich der Mensch, der vollständig und rückhaltlos auf der Erde «Fuß gefaßt» hat, wieder hinwenden zur geistigen Welt, nur als Individualität, die ihre sittlichen Maximen und Lebensziele in sich selbst findet, – in freiem Prüfen und Entscheiden gegenübertretend alledem, was an Regeln, Pflichten, Ge- und Verboten zur Grundlage des «contract social» wurde in jener Zeit, als die Rückverbindung (religio) abriß. Jetzt erfährt sich das Ich in sich selbst. In seinen individuellen Lebenszielen sieht der Mensch vor sich aufleuchten, was hinter ihm verblaßte. Es gibt keine Gebote, keine Pflichten mehr. Die Sittlichkeit existiert nur noch in ihrer reifsten Form des Handelns aus (Selbst-)Erkenntnis, und solches Handeln kann niemals «böses» Handeln sein. Was uns zum Bösen drängt, ist ja gerade das unerkannt in uns Wirkende.