Betriebsräte und Kulturräte

10.07.1919

Wenn die Dreigliederung des sozialen Organismus dasjenige werden soll, als was sie unbedingt gedacht werden muß, dann wird sie als ein Ganzes wirken müssen. Dann wird zum Beispiel nicht möglich sein, aus dem ganzen Gefüge des Planes zur Dreigliederung irgendeinen Teil, ein Glied herauszunehmen. Man würde zum Beispiel nicht in irgendeiner Zeit verwirklichen können den wirtschaftlichen Teil dieses Impulses, etwa so, wie er enthalten ist in dem sogenannten Programm, und ihn in die Welt hineinstellen für sich. Das würde man nicht können. Es muß unbedingt gleichzeitig angestrebt werden ein Nebeneinander-Hergehen, ein Nebeneinander-sich-Entwickeln der drei Glieder des sozialen Organismus. So wenig bei einem natürlichen Organismus jemals davon die Rede sein könnte, den Kopf für sich, oder die Brust für sich zuerst zu schaffen, und dann zu warten, bis der andere Teil aus den anderen Gliedern entsteht, so wenig kann in Angriff genommen werden irgendein Glied des dreigliedrigen sozialen Organismus für sich. Daher mußte, gerade als aufging die Saat, von der Sie ja heute gehört haben, daß sie noch nicht sehr hoffnungsvolle Früchte getragen hat-, als aber doch zunächst einmal sogar verheißungsvoll aufging die Saat des wirtschaftlichen Programms durch den Gedanken der Betriebsräte, da mußte sogleich daran gedacht werden, daß nicht einseitig bloß auf wirtschaftlichem Felde in unserem Sinne gearbeitet werde, sondern daß der Allseitigkeit Rechnung getragen werde. Daher entschloß sich die Leitung des Bundes für Dreigliederung des sozialen Organismus, gerade während des Arbeitens für die Betriebsräte auf der einen Seite, Persönlichkeiten um sich zu scharen, von denen man glaubte, daß sie Interesse haben müßten an der Schöpfung und an den Vorbereitungen für ein anderes Glied des sozialen Organismus, für das geistige Glied, für das Kulturglied. Und man versuchte, den Anfang damit zu machen, daß eine Art Kulturrat, oder wie man das nennen will, entstehe. Sie finden in dem Aufruf zur Begründung eines Kulturrates, wie er jetzt vorläufig erschienen ist, und wie er in Ihren Händen wohl sein wird, ja ausführlich dargestellt, was eigentlich mit dieser Begründung eines Kulturrates angestrebt wird. Daher werde ich nur weniges Ihnen heute über die Sache noch zu sagen haben.

Es gelang wirklich, da einmal eine Art Zusammenarbeit zu organisieren, eine Zusammenarbeit einer größeren Anzahl von Menschen. Es waren die Interessenten der verschiedensten Gebiete des Geisteslebens wiederholt hier zusammen, und man besprach die Ideen eines solchen Kulturrates. Man ging aber auch dann in die Einzelarbeit. Jeder versuchte beizutragen, die Gedanken, die ihm gekommen waren, in diesen kleineren Versammlungen zusammenzutragen; die Gedanken, die dem einzelnen gekommen waren über Reformen, über Umgestaltung des Geisteslebens. Und aus dieser Zusammenarbeit ist dann wie eine letzte Redaktion die erste Fassung dieses Aufrufes zur Begründung eines Kulturrates entstanden. Da kam es dann darauf an zunächst, einen weiteren Kreis von Menschen zu gewinnen, die aus dem Bedürfnis der Gegenwartskultur heraus eingestimmt hätten in den Ruf: Es muß gerade auf dem Gebiete des Geisteslebens in unserer so ernsten Zeit etwas geschehen. Man hat dann versucht, heranzutreten an diesen oder jenen Vertreter des Geisteslebens. Es würde vielleicht, ich sage nicht ein bloß trauriges, sondern eigentlich ein sehr, sehr deprimierendes Kapitel sein, wenn man die Einzelheiten der Verhandlungen schildern wollte, die in Anknüpfung an die erste Gestalt dieses Aufrufes geführt worden sind. Jetzt sollte man namentlich erkennen in dieser ärmsten Zeit, daß vor allen Dingen eine Erneuerung, eine Neugestaltung des Geisteslebens, d. h. insofern es dem sozialen Organismus angehört, im tiefsten Umfang notwendig ist. Man muß das erkennen auf der einen Seite an dem Grundcharakter, den allmählich das Geistesleben der kultivierten Menschheit angenommen hat. Man muß es zweitens daraus erkennen, wie dieses Geistesleben heute verwaltet wird. Daß dieses Geistesleben doch zugrunde liegt dem, was eigentlich heute geschieht, was sich heute als Verwirrung im Chaos unserer Kultur und unserer ganzen Zivilisation darstellt. Das sollte man eigentlich erkennen. Erkennen sollte man, was für Früchte es gebracht hat, daß seit drei bis vier Jahrhunderten unser Geistesleben insbesondere in der Gestalt des Schul- und Erziehungswesens immer wieder und wiederum von der staatlichen Organisation aufgesogen worden ist. Erkennen sollte man, daß man heute eigentlich kaum mehr eine Empfindung hat für die innersten Bedürfnisse des Geisteslebens, die nur bestehen können in dem Drang nach einer freien Gestaltung dieses Lebens. Keine Empfindung hat man dafür, daß nicht nur für die Stellenbesetzungen, für die äußere Verwaltung gründlich ausschlaggebend war die Aufsaugung des Geisteslebens durch den Staat, sondern auch für den Inhalt dieses Geisteslebens selbst. Es konnte sich das in der vergangenen Zeit noch nicht so deutlich zeigen wie heute, in den großen Wendepunkten der Entwicklung der Menschheit, in denen wir stehen. In den letzten drei bis vier Jahrhunderten, während allmählich aufgesogen worden sind wichtigste Zweige unseres Geisteslebens durch das Staatsleben, da bildete sich zu gleicher Zeit aus eine solche Form unseres Geisteslebens, die nicht mehr imstande ist, Ideen aus sich hervorzubringen, welche den Tatsachen, die immer gewaltiger und gewaltiger, immer umfänglicher und umfänglicher sich geltend machen, gewachsen gewesen wären. So ist es gekommen, daß die Gedanken überall, wo sie abgeschlossen sind, zu kurz waren, um die Tatsachen zu beherrschen; daß diese Tatsachen ihren eigenen Weg gingen, in ihr eigenes Rollen kamen, und die gedankenentleerten Tatsachen waren es zuletzt, die Tatsachen, in die der Mensch nicht mehr in der Lage war, Gedanken hineinzusenden, die hervorgebracht haben unsere furchbare Weltkatastrophe, in der wir durchaus noch drinnen sind, ja, bezüglich welcher wir eigentlich erst jetzt in entscheidende Punkte eintreten, in entscheidende Etappen eintreten. An nichts mehr als an der Verfassung des für die heutige Menschenbewegung so bedeutungsvollen Proletariats zeigt sich gerade der Niedergang unseres Geisteslebens. Die bisher führenden, leitenden Kreise, sie empfinden schreckerfüllt dasjenige, was an Offenbarungen, an Programmen, an Parteimaximen aufsteigt aus dem Proletariat. Ich habe in meinem Buche «Die Kernpunkte der sozialen Frage» gerade auf diesen Punkt einschneidend hinweisen wollen. Ich habe darauf hinweisen wollen, daß dasjenige, was heute die Geistesverfassung gerade der führenden Glieder des Proletariats ist, ja nichts anderes ist als das Erbe des Geisteslebens des Bürgertums, des Geisteslebens der leitenden, führenden Kreise.

Sehen Sie, neulich haben zwei den Arbeiterkreisen angehörige Mitglieder des Bundes für die Dreigliederung des sozialen Organismus in einer öffentlichen Volksversammlung Vorträge gehalten. Daran hat sich dann eine Diskussion angeknüpft, in die eingegriffen haben weit nach links stehende Persönlichkeiten des Proletariats. Ich habe dann einige Worte gesprochen, die darauf hinausliefen, daß im Grunde genommen diese weit nach links stehenden, bis in die kommunistischen Kreise hineingehörenden Persönlichkeiten für mich nichts anderes getrieben haben in ihren Reden als die schlimmsten Ableger des geistigen Erbgutes der führenden, leitenden Kreise. Man möchte sagen, man habe niemals so bürgerlich reden gehört, als bei diesen unabhängigen und kommunistischen Persönlichkeiten es der Fall war. Das haben die Leute gelernt von ihren bürgerlichen Vorfahren. Das mußten sie lernen. Und wer tiefer hineinschauen kann in die ganze offizielle Entwicklung unseres Geisteslebens, in die Verwaltung unseres Geisteslebens, der weiß, daß dieses Geistesleben endlich zur völligen Verdorrung der geistigen Produktion geführt hat, und daß nichts mehr gediehen ist, da wo es sich um geistige Angelegenheiten handelt, als die Phrase. Wir leben in der Welt der Phrasen. Es gibt noch immer Leute, die diese Dinge nicht einsehen wollen. Es gibt in Mitteleuropa noch Leute - man sollte es kaum glauben -, die diese Dinge nicht einsehen wollen, die noch immer sich den Illusionen hingeben wollen, durch die sie sich so lange betäuben ließen über das Hineinsausen in die selbstverschuldete Vernichtung. Selbstverschuldet aus dem Grunde, weil man sich nicht vorurteilslos entgegenstellen will dem, was ist; weil man nur festhalten will an alten Denkgewohnheiten und Empfindungsgewohnheiten.

Dasjenige, was einem Kulturrat, wie er heute gedacht ist, vorschweben muß, das ist eine völlige Umgestaltung des gesamten Erziehungs- und Unterrichtswesens. Man kann so etwas ja in Angriff nehmen, ich möchte sagen, in kleinem Stil. So soll es in Angriff genommen werden durch die Begründung der hiesigen sogenannten «Waldorf-Schule». Diese Waldorf-Schule soll von unserem Freunde, Herrn Molt, ins Leben gerufen werden zunächst für die Kinder der Arbeiterschaft der WaldorfAstoria. Diese Schule soll so ins Leben gerufen werden, daß für die Kinder zwischen dem sechsten und fünfzehnten Lebensjahr der Unterricht geleitet wird nicht so, wie bisher der Unterricht auf dieser Schulstufe geleitet worden ist: aus dem bloßen Bedürfnisse des Schablonenstaates heraus. Sondern es soll dieser Unterricht so erteilt werden, wie es die menschliche Natur zwischen dem siebenten und fünfzehnten Jahr nach einer gründlichen Erkenntnis dieser menschlichen Natur selbst verlangt. Dasjenige, was den Menschen vorschweben kann als sogenannte Einheitsschule, die nicht herausgeboren ist aus etwas anderem als aus der menschlichen Natur, die insbesondere in diesen Jahren für alle Menschen eine Einheit ist; dasjenige, was nur aus dieser Erkenntnis desjenigen, was mit den Menschen hineinwachsen soll in die Welt, das, was auf diese Erkenntnis als Unterricht gebaut werden soll, das soll zugrunde liegen der ganzen Konstitution der Waldorf-Schule. Es soll ernsthaftig da gearbeitet werden durch eine Lehrerschaft, welche entgegennehmen soll eine Pädagogik, die auf wirkliche Anthropologie, auf eine umfassende Anthropologie gebaut ist. Von dieser Lehrerschaft soll geleistet werden dasjenige, was in den Menschen ausbildet die in dem Menschen veranlagten Kräfte, die ausgebildet werden müssen während der Kindheit, so daß vermieden wird in der Zukunft etwas, was jeder Menschenbeobachter, der Psychologie im Leibe oder in der Seele hat, heute so klar sehen kann.

Ja, was ist denn das wichtigste und wesentlichste Charakteristiken im Leben unserer Zeit? Was ist dasjenige, was sich einem heute als eine größte Kultursorge so schwer auf die Seele legt? Sehen wir uns heute dasjenige an, was unter den Menschen waltet, so finden wir, daß die Menschen heute am häufigsten sind, die ich die sogenannten geknickten Naturen nennen möchte, diejenigen Menschen, die dem Leben nicht gewachsen sind, deren Wollen und Empfinden und Denken durch die Schicksale des Lebens geknickt werden. Warum wird das geknickt? Aus dem Grunde, weil unsere Schulerziehung für die Kinder eine solche ist, daß die wichtigsten Kräfte der Seele nicht so erstarkt werden, daß sie später nicht mehr geknickt werden können, daß der Mensch dem Leben gewachsen ist. Das soll die Sorge sein bei der Einrichtung der Waldorf-Schule, daß der Mensch so ins Leben gestellt werde, daß dasjenige, was nur in der Kindheit an Seelenkräften und Gemütskräften entwickelt werden kann, entwickelt werde, so daß der Mensch dem Leben gewachsen wäre. Dazu gestellt ist alles, was an sog. Lehrfächern gelehrt werden soll, erst das zweite. Alles, was an sog. Lehrfächern figuriert, das wird immer befragt werden: Wie trägt es bei zur Entwicklung der Kräfte der menschlichen Seele. Wann ist das und das, in welchem Lebensalter ist das oder das an das Kind heranzubringen? Aus umfassender Menschenkunde sollte Unterricht erteilt werden. Dann werden die Menschen, die aus einer solchen Schule hervorgehen, stark sich ins Leben hineinstellen können. Nicht kleinere, sondern größere Überwindung wird der Mensch haben in dem Zeitalter, das da hofft auf die soziale Gliederung, im Gegensatz zu den Gliederungen in Klassenunterschiede und dergleichen, die vor dem da waren. Es müßte natürlich später gestaltet werden auch dasjenige, was Mittelschule, Gymnasium, Realschule usw. heute ist, und was durchaus anders werden soll für die Zukunft, wenn man Menschen haben will, die für das Leben taugen sollen; es müßte gestellt werden auf eine höhere Stufe als die Unterstufe der Volksschule, und die Umgestaltung müßte sich hinauferstrecken bis in die höchsten Gebiete des Unterrichts, wenigstens bis in die Hochschule. Wie das im einzelnen zu denken ist, finden Sie in dem Aufruf zur Gründung eines Kulturrates.

Wie gesagt, man kann im kleinen Stile so etwas machen, wie die Waldorf-Schule ist, mit jemand, der wirklich so tiefes Verständnis hat, wie unser Freund, Herr Molt, für dasjenige, was im Sinne der Dreigliederung zu geschehen hat. Der Einzelne kann segensreich wirken, wenn er eine solche Gründung macht. Aber mit einer solchen Einzelgründung ist heute das Nötige nicht getan. Heute handelt es sich darum, daß in dem weitesten Umkreis in den Menschen das Bewußtsein entsteht: Dasjenige, was für eine solche Einzelheit beabsichtigt werden kann, es müßte Allgemeingut der Menschen werden, wenn wir nicht in den Untergang der europäischen Kultur hineinsegeln wollen. Es sieht heute immer aus, als ob man nur irgendeine Phantasterei vor die Welt hinstellte, wenn man sagt: Wir stehen vor dem entweder - oder. Entweder, wir müssen uns entschließen zu großen Dingen, oder aber wir müssen uns vertraut machen mit dem Gedanken, daß die europäische Zivilisation in ihre Vernichtung hineinsegelt. Wer an dieses «Entweder - Oder» heute noch nicht glaubt, der versteht eben die Zeit nicht. Nicht an unsere Zaghaftigkeit, sondern an unser mutiges Wollen ergeht heute der Ruf. Und da muß ich schon sagen: da ist es angesichts alles dessen, was im Zusammenhang gesagt worden ist über die Umwandlung des geistigen Lebens im Sinne der Dreigliederung, - da ist es wahrhaftig eine der schwersten Enttäuschungen, daß jetzt, nach Wochen der Bemühungen, nichts anderes vorliegt, als der Versuch zu einem solchen Aufruf, der allerdings eine Anzahl von Unterschriften gefunden hat, aber selbstverständlich lange nicht genug. Denn dasjenige, was heute geschehen soll, muß gut begründet sein im weitesten Umkreis des Massenurteils. Nur auf diese Weise kommen wir vorwärts.

Die Verhandlungen haben vielfach gezeigt, daß auch bei dieser Angelegenheit das alte Übel auftritt: der eine will dies, der andere jenes; dem einen hat ein Satz nicht gefallen, einem anderen die Stilisierung nicht; der findet es nötig, wochenlang über eine Sache Diskussionen anzustellen. Ja, man muß schon sagen: Die Bedenken, die sich gerade bei der oder jener Persönlichkeit, auf die man gerechnet hat bei diesem Kulturaufruf, gezeigt haben, sie waren von solcher Art, daß sie so recht bewiesen, wie notwendig die Umgestaltung unseres Geisteslebens ist. Bei nichts mehr konnte man die schlechte Verfassung dieses unseres Geisteslebens erkennen, als an dem Geistesleben, das solche Einwände hervorbrachte, wie diejenigen, die uns entgegengetreten sind. Daher muß heute schon auch über diesen Kulturaufruf gesprochen werden.

Sehen Sie, spricht man über dasjenige heute, was die allgemeine Menschheit angeht, was so deutlich zeigt, durch die ganze Konfiguration unserer Zeit, daß es die ganze Menschheit angeht, was erfährt man da? In diesen Tagen las ich in verschiedenen Zeitungen Stuttgarts die Beschreibung dessen, was die Waldorf-Schule will. Diese Beschreibung war auch enthalten in dem hiesigen Sozialdemokratenblatt der U.S.P., im «Sozialdemokrat». Zu dieser Beschreibung, die objektiv gehalten war, konnte der «Sozialdemokrat» nicht umhin, aus seiner «unabhängigen Gesinnung» heraus die Bemerkung zu machen: Die Sache wäre ja ganz schön, aber sie kommt von Fabrikanten, und: das wollen wir uns nicht gefallen lassen!

So ist die Geistesverfassung der gegenwärtigen Menschheit gestaltet. Diese Geistesverfassung der gegenwärtigen Menschheit zeigt sich aber ganz besonders in dem, was einem entgegengetreten ist in der sog. «bürgerlichen Nationalökonomie», namentlich der erleuchtetsten Nationalökonomen unserer Hochschule. Der führenden Nationalökonomen unseres Hochschulwesens.

Ich bitte Sie, kaufen Sie sich dieses Heft, welches den Titel trägt «Das gelbe Blatt», die gerade jetzt aufliegende Nummer. Sie finden da einen Artikel von Professor L. Brentano über den Unternehmer. Selbstverständlich bringen heute die Zeitungen über diesen Unternehmer-Artikel des Professors Brentano überall dasjenige, was sie eben zu bringen pflegen, auf ihren Autoritätsglauben hin. Denn unsere Zeit, die nach ihrer Illusion keine autoritätsgläubige ist, sie ist autoritätsgläubiger als jemals in früheren Zeiten die Katholiken ihren Kirchenfürsten gegenüber waren. Aber versuchen Sie doch einmal unter Emanzipation von all diesem Autoritätsglauben mit Ihrem gesunden Menschenverstand diesen Artikel des Professors Brentano über das Unternehmertum zu lesen. Man möchte, daß möglichst viele Menschen heute solchen Dingen gegenüber gesunden Menschenverstand aufbringen. Da finden Sie zunächst eine Definition des Unternehmertums. In drei Punkten wird das Unternehmertum charakterisiert. Und ein Begriff von dem Unternehmer wird geschaffen, ein Begriff, durch dessen Handhabung die Leuchte der nationalökonomischen Wissenschaft Professor Brentano zuletzt das zustande bringt, daß für ihn unter den Begriff des Unternehmers auch der gewöhnliche proletarische Arbeiter fällt. Denn der gewöhnliche proletarische Arbeiter ist nach der Anschauung des Professors Brentano der Unternehmer für seine eigene Arbeitskraft, die er auf eigene Rechnung und Gefahr auf den Markt bringt. Es ist heute unser Geistesleben so geschaffen, daß der reine Nonsens die größte Berühmtheit genießt. Ehe man das ganze Gewicht einer solchen Tatsache nicht ins Auge fassen kann, eher entwickelt man nicht Gefühl und Empfindung für das, was notwendig ist. Und ehe man nicht dieses Gefühl und diese Empfindung entwickelt, eher wird man auch nicht einsehen, was man an innerem Mut aufzubringen hat für diese Umgestaltung unseres Geisteslebens; wie zu fordern ist eine wirklich gründliche Erneuerung dieses unseres Geisteslebens, namentlich des Erziehungs-und Unterrichtswesens.

Oh, man möchte noch die Gabe ganz anderer Worte und Wortprägungen haben, um der heutigen Menschheit zum Bewußtsein zu bringen dasjenige, was man sich wahrhaftig unter blutigen Lebenskämpfen erringen mußte. Denn glauben Sie, daß es einem leicht wird, solches zu sagen, wie ich es sagen mußte gegen eine sogenannte Leuchte der heutigen Wissenschaft? Wenn man solches sagt, sieht einen ja jeder als einen wütigen Krakeeler an, als einen Menschen, den man unschädlich machen muß. Und nur das heiligste Pflichtgefühl kann einen heute dazu bringen, über diese Dinge die Wahrheit zu sagen. Und diese Wahrheit, sie ist ernst, sehr ernst. Denn wozu haben wir es in den Einzelheiten schon gebracht? Ich möchte erinnern an den Vortrag, den ich in Heilbronn gehalten habe über die Dreigliederung des sozialen Organismus, der schon von Herrn Molt heute erwähnt worden ist. In der Besprechung, von der Herr Molt gesprochen hat, steht so manches — es interessiert mich nicht. Denn was ein Zeilenschinder schreibt über das, was aus dem heutigen Lebensernst gesprochen ist, ist mir höchst gleichgültig. Aber wenn diese Zeilenschinderei zum Symptom wird für das, was in den heutigen Herzen und Köpfen lebt, dann muß es doch ein wenig betrachtet werden. Da hat es doch ein solcher Zeilenschinder zuwege gebracht, zu sagen: daß ich zurückgegriffen habe auf «die drei alten Schlager Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit»! Nun, soweit hat es dieses Geschlecht gebracht, daß man heute ungehindert sagen darf, diese drei großen Güter der Menschheit, Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit, seien «Schlager». Daß man verhöhnen darf, was den Menschen am heiligsten ist. Da wird man wohl erinnert an das Hamletwort: Schreibtafeln her, Schreibtafeln her, daß man notieren kann, daß man lächeln und immer lächeln kann und doch ein Schurke sei. Und man möchte sagen: Schreibtafeln her, daß man im Angesicht der gegenwärtigen Menschheit als ein gebildeter Mensch gelten kann, und sogar Zeitungen schreiben darf, und dennoch in blödester Weise die höchsten Ideale der Menschheit verhöhnen darf!

Diese Dinge liegen auf dem Boden unserer gegenwärtigen Zeitkultur. Daß sie gesehen werden, daß dasjenige, was jeder, der es mit der heutigen Zeit ernst nimmt, herbeisehnen möchte, und daß aus diesem Sehnen das sich entwickele, das wiederum eine Gesundung unseres sozialen Organismus ergeben kann.

Wir stehen wirklich dicht vor der Katastrophe, die auf den verschiedensten Gebieten des Lebens heraufzieht. Dasjenige, was wir brauchen, das ist, daß wir jetzt gerade die Möglichkeit finden, unseren ganzen inneren Menschen zusammenzunehmen. Daß wir die Möglichkeit finden, besonders aus der Not, die Mitteleuropa droht, alles zu tun, was aus diesen innersten Menschenkräften getan werden kann. Die Not Mitteleuropas zum Veranlasser werden zu lassen, das zu tun, was aus dem innersten Menschen heraus getan werden kann. Man wird diesem Mitteleuropa viel nehmen, man wird es sehr, sehr arm machen. Und wahrhaftig, man wird immer wieder erinnert an dasjenige, was man jetzt schon sehr, sehr bitter aus dem Leben heraus immer wiederum auf sich wirken lassen mußte: es war mir immer ein schmerzlicher Anblick, wenn ich während dieser Kriegsjahre da und dort ein junges Kind im intimeren Kreise gesehen habe, denn da mußte man fühlen: Die Alten haben wenigstens etwas hinter sich, haben eine Erinnerung an etwas; diejenigen aber, die jetzt Kinder sind, sie wachsen in furchtbare Zeiten hinein. Und heute tritt einem nicht nur durch die allgemeinen Weltverhältnisse diese Empfindung so recht vor die Seele; heute tritt sie einem auch vor die Seele, wenn man bemerken muß, wie schläfrig die allgemeine Menschheit ist gegenüber dem Beobachten dessen, was notwendigerweise heute beobachtet werden kann. Beobachtet werden muß, wie wir unbedingt in die Vernichtung hineinsegeln, wenn wir nicht von solchen Gesichtspunkten ausgehen, wie ich sie, allerdings sehr unvollkommen, mit ein paar Worten auch heute wiederum hier charakterisieren konnte.

Noch einmal sei es gesagt: Viel wird man diesem Mitteleuropa nehmen, sehr arm wird man es machen. Retten wird man es nur können, wenn es sich auf etwas stellt, was man ihm nicht nehmen kann: auf die innersten Kräfte der Seele. Und es liegt wirklich gerade auch in den Volkskräften dieses Mitteleuropas, diese innerste Kraft der Seele zu pflegen. Wir haben sie nicht gepflegt in den letzten Jahrzehnten in Mitteleuropa. Das ist unsere große Schuld. Lernen wir aus der Not heraus, sie zu pflegen.

Das ist dasjenige, was sich einem heute auf die Zunge legt, wenn man sprechen will über so etwas wie über die Begründung eines Kulturrates. Es ist schon aus solch ernsten Untergründen heraus, daß dieser Aufruf zur Begründung eines Kulturrates verfaßt ist. Möge er in seinen einzelnen Sätzen gut oder schlecht gefunden werden, mir ist es ganz gleichgültig, wie diese einzelnen Sätze heißen - auf den Geist, der dahintersteht, kommt es an! Und von diesem Geiste möchte man wünschen, daß er erkannt werde. Daß erkannt werde, wie er nicht bloß in der Vorstellung erfaßt werden kann, sondern wie er erfaßt werden muß als ein Anreger zu wirklichen Taten für eine Erneuerung, eine Umwandlung, eine Neugestaltung unseres Geisteslebens.

Veröffentlichungen

»Mitteilungsblatt des Bundes für Dreigliederung des sozialen Organismus«, Nummer 4/5, Dezember 1919
Nachdruck in »Beiträge zur Rudolf Steiner Gesamtausgabe«, 1989, Nummer 103, S. 10-17