Freie Marktwirtschaft oder assoziative Wirtschaft?

Ein dritter Weg zwischen Westen und Osten

25.01.1956

Quelle
Zeitschrift „Die Kommenden“
10. Jg., 1956, Nr. 2, 25.01.1956, S. 3
10. Jg., 1956, Nr. 3, 10.02.1956, S. 3
Bibliographische Notiz

Auf diese Artikelserie sind wir durch Martin Cuno aufmerksam gemacht worden,
der sie wohl als Erster bei lfl-siegen.de Online gestellt hat.

I

Wer es heute unternimmt, die freie Marktwirtschaft kritisch zu beleuchten und neue Wege zu suchen, um diese Wirtschaftsform in vollkommenere Formen überzuführen, der läuft Gefahr, für einen Fanatiker gehalten zu werden, der aus ideologisch vorgefassten Meinungen heraus ein Wirtschaftsprinzip kritisiert, das augenscheinlich seine Bewährungsprobe in der Praxis glänzend bestanden hat. In der Tat, wenn man zurückschaut auf die Entwicklung der westdeutschen Wirtschaft seit dem Kriege, auf das „Deutsche Wunder“, auf die ungeahnt rasche Entwicklung der Produktionskräfte aus der völligen Zerstörung heraus – hat man es wirklich nicht leicht, darauf hinzuweisen, dass alles Richtige im Leben und in der Entwicklung zeitbedingt ist und dass in die Zukunft hinein neue Wege beschritten werden müssen, wenn nicht am Ende doch die bolschewistische Kollektivwirtschaft und damit der Verlust der Freiheit stehen soll.

Gewiss war nach dem verlorenen Kriege, nach jahrelanger Zwangswirtschaft mit strengster Verbrauchsdrosselung die Freigabe der wirtschaftlichen Initiative ein wirksames Mittel, um die Produktivkräfte in allen Wirtschaftszweigen zu entfesseln, um in kürzester Zeit die angestaute Nachfrage zu befriedigen und schließlich die Vollbeschäftigung mit einem relativ guten Lebensstandard aller zu erreichen. Aber wenn nicht alles trügt, haben wir den Höhepunkt der Konjunktur bereits überschritten und es tauchen am Horizont die bekannten Gefahren der freien Marktwirtschaft auf: übermäßige Expansion der Produktion ohne Rücksicht auf den Bedarf, maßlos anschwellende Investitionstätigkeit, steigende Preise, schließlich die Gefahr der Inflation mit ihren katastrophalen Folgeerscheinungen. Nun ist das ja alles schon zu oft dagewesen, als dass nicht diese Gefahren heute erkannt würden. Viele sind der Ansicht, dass man heute schon die Konjunktur so steuern könne – durch Kreditrestriktionen u.a. – dass der Umschwung der Konjunktur vermieden werden könnte. Bemerkenswert ist hierzu die von Bundeswirtschaftsminister Erhard in Augsburg am 3. November vor der Industrie- und Handelskammer gehaltene Rede, worin er ausführt, dass in der Bundesrepublik zur Zeit ein großer Experimentalbeweis laufe. Es sei die bisher in der Welt noch nicht gestellte Frage zu beantworten, ob es eine gesetzmäßige Notwendigkeit sei, dass auf jede Hochkonjunktur eine Krise folgen müsse, oder ob es nicht ein Verhalten gebe, das diesen magischen Kreis endlich einmal sprenge und die mit Vollbeschäftigung ausgestattete Hochkonjunktur als einen Normalzustand bewahren könne. Er fügte hinzu, dass dies seiner festen Überzeugung nach möglich sei, nur, der Wirtschaftsminister könne das allein nicht schaffen.

Nun, so sehr man wünschen kann, es möge dieser Experimentalbeweis gelingen, so sehr kann man daran zweifeln, dass das mit den alten Methoden und Denkweisen der freien Marktwirtschaft möglich sein soll. Für das vom Wirtschaftsminister geforderte „Verhalten“ der Wirtschaft müssten doch immerhin einige unentbehrliche Voraussetzungen geschaffen werden. Man kann sogar sagen, je „echter“ die freie Marktwirtschaft ist, das heißt, je näher sie ihrer Theorie kommt, um so weniger wird man ein solches Verhalten erwarten können. Denn dieses Verhalten muss ja notwendig ein soziales, ein gegenüber der Allgemeinheit verantwortungsbewusstes sein. Die Frage ist, ob überhaupt sich ein solches Verhalten innerhalb der freien Marktwirtschaft in genügender Weise entwickeln kann.

Die freie Marktwirtschaft beruht auf dem freien Wettbewerb. Diesem Wettbewerb schreiben seine Befürworter zu, dass er einmal ein Ansporn zur Höchstleistung ist, zum anderen ein echter Regulator der Märkte, das heißt, er soll eine ständige harmonische Ordnung und Steuerung des Wirtschaftsprozesses sowie die Bildung niedrigstmöglicher Preise gewährleisten. Nun – über die Notwendigkeit und Richtigkeit eines reinen Leistungswettbewerbs ist kein Wort zu verlieren. Aber es gibt viele Mittel, um ihn zu erreichen. Diesen Leistungswettbewerb haben ja auch die Kollektivwirtschaften des Ostens bereits in ihre Systeme eingebaut. Bleibt also die ständige harmonische Ordnung und Steuerung des Wirtschaftsprozesses, die die Überlegenheit dieser freien Wettbewerbswirtschaft gegenüber anderen Wirtschaftssystemen ausmachen soll (vgl. Wilhelm Röpke, Genf, „Die Doppelnatur des Wettbewerbs“ in Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 5. November 1955). Diese Ordnung wird angeblich erreicht durch das System einer ständigen unerbittlichen Auslese unter den Gütergattungen und Produktionsstätten. Es handelt sich also um ein Selektionsprinzip à la Darwin, das durch den Kampf aller gegen alle das Tüchtige und Lebenswerte zum Aufstieg bringt und das andere absterben lässt. Ein solches Prinzip auf die menschliche Wirtschaft übertragen heißt aber nichts anderes, als den wirtschaftenden Menschen zum intelligenten Raubtier stempeln, heißt, den nackten Egoismus, die Gewinnsucht und Machtgier zum Grundantrieb des Wirtschaftens zu machen. Wo bleibt da Raum für die Entwicklung von sozialen Antrieben, von Verantwortungsbewusstsein gegenüber dem Ganzen? Solche Antriebe sind darauf angewiesen, dass der Mensch eben nicht ein intelligentes Raubtier, sondern ein aus freien moralischen Impulsen handelndes Wesen ist. Studiert man die Geschichte der freien Marktwirtschaft in allen Erdteilen, findet man ja genügend Anschauungsmaterial, um zu beurteilen, in welchem Maße sich der Egoismus da ausgetobt hat. Das mag menschlich sein – oder in vielen Fällen auch untermenschlich – jedenfalls kann ein solcher „Kampf ums Dasein“ niemals ein tragendes Prinzip hergeben für eine menschliche Wirtschaft, in der man eben vom Einzelnen Verantwortungsbewusstsein gegenüber dem Ganzen verlangt. Schon ein russischer Philosoph hat einmal gesagt, man solle doch endlich aufhören, vom Kampf ums Dasein in der Menschenwelt zu reden. Man solle lieber an Stelle dieses Kampfes das Prinzip der gegenseitigen brüderlichen Hilfeleistung setzen.

Es bleibt der Grundirrtum der freien Marktwirtschaft, dass sie glaubt, aus einem asozialen Prinzip könnten soziale Wirkungen hervorgehen. Soziales entsteht grundsätzlich nur insoweit und in dem Maße, als neben rein egoistischen Gesichtspunkten auch solchen des Gemeinwohls Raum gegeben wird.

Wenn man sich nun die Automatik der Selektion näher anschaut, durch die in der freien Marktwirtschaft die ständige harmonische Ordnung und Steuerung des Wirtschaftsprozesses bewirkt werden soll, so stellt man an Hand der bisherigen Erfahrungen fest, dass diese Wirtschaftsform zunächst zu einer gewaltigen Expansion der Produktion führt, zu anschwellenden Hochkonjunkturen, in denen es meist allen, auch den Schwächeren, gut geht, bis dann der Zusammenbruch der Konjunktur die gewünschte Auslese und die Ordnung der Märkte im Sinne einer Wiederanpassung der Produktion an den Bedarf vollzieht. Diese Automatik hinkt aber doch stark hinter den Ereignissen her. Sie führt zuerst bis zu einer sinnlosen Verschwendung von Kapital und Arbeitskraft, um diese dann unter Vernichtung zahlreicher Existenzen, Stilllegung von überflüssigen Produktionsstätten usw. wieder zu bereinigen. Wieso kann man das eine ständige harmonische Ordnung des Wirtschaftsprozesses nennen?

Und was nun die niedrigen Preise betrifft, die die freie Konkurrenzwirtschaft der Allgemeinheit beschert, so ist es zwar selbstverständlich, dass eine echte, rücksichtslose Konkurrenz grundsätzlich preissenkend wirken muss, aber diese Wirkung kommt praktisch nur gelegentlich zur Erscheinung, nämlich hauptsächlich da, wo wirklich eine Zersplitterung der Produktion in viele einzelne selbständig handelnde Betriebe – und somit eine wirkliche Konkurrenz – gegeben ist. Die Atomisierung der Produktion in die Einzelbetriebe ist die Voraussetzung des Funktionierens der Preisautomatik. Alle Zusammenschlüsse, jedes gemeinsame Handeln auf den Märkten ist der Tod der freien Marktwirtschaft. Daher der leidenschaftliche Kampf gegen alle marktregelnden Abreden der Wirtschafter untereinander. Aber hier liegt ja das Kernproblem. Diese Atomisierung der Wirtschaft ist ja in weitem Umfang gar nicht mehr vorhanden. Sie entspricht im Grunde einem Anfangszustand der freien Marktwirtschaft, der aber automatisch im Laufe der Entwicklung übergeht in Zusammenschlüsse aller Art. Das kann gar nicht anders sein. Denn derselbe Egoismus, der die Triebfeder in der freien Konkurrenz ist, führt mit logischer Notwendigkeit zu Zusammenschlüssen, die in der Ersparung von Kosten, in der Beherrschung des Marktes, in der Hochhaltung der Preise ihre Vorteile sehen. Diese Entwicklung zu marktbeherrschenden Zusammenschlüssen geht in der freien Marktwirtschaft mit derselben elementaren Gewalt vor sich wie die Expansion der Produktion selbst. Ist es zweckmäßig, eine solche Entwicklung mit gesetzlichen Verboten zu bekämpfen? Hat die Antitrustgesetzgebung in USA es vermocht, die Machtzusammenballungen der Produktion zu verhindern oder gar zu beseitigen? Die weitgehende Beherrschung der Märkte durch die Produktion ist notwendig der Endzustand der freien Marktwirtschaft, wenn man die in dieser lebenden Antriebe sich frei auswirken lässt. Diese Beherrschung kann sogar ihre positiven Seiten haben. Kartelle können beispielsweise im besten Sinne marktregelnd wirken, wenn sie Machtmissbrauch vermeiden, sich dem Studium des Bedarfs widmen und die Produktion durch Quotierung oder durch Verhinderung von Produktionserweiterungen dem Bedarf anpassen. So gab es ja schon vor dem ersten Weltkrieg und zwischen den beiden Weltkriegen internationale Kartelle, die vom Standpunkt der Ordnung der Märkte eine durchaus nützliche Tätigkeit entfalteten. Und es gab ja auch Kartelle, die ihre Macht über die Preise in durchaus gemäßigter Weise handhabten. Von einer freien Marktwirtschaft und einer freien Preisbildung kann freilich bei einer solchen marktbeherrschenden Stellung der Produktion keine Rede mehr sein.

Aber es dürfte kaum möglich sein, auf dem Wege der Verbotsgesetzgebungen diese Entwicklung zurückzuschrauben und eine Atomisierung der Wirtschaft zu erzwingen. Um die Preise zu halten, genügen sogar stillschweigende Übereinkünfte, die um so mehr wirksam sind, als das gemeinsame Interesse der Konkurrenten an der Hochhaltung der Preise stärker zu sein pflegt als das Konkurrenzmoment selbst. Welcher Metzger wird sein Schweinefleisch bei einem Sinken der Schweinepreise billiger verkaufen, wenn die anderen Metzger der Stadt die Preise halten? Welcher Autoproduzent wird die Differenzgewinne, die er durch Rationalisierung oder überhaupt durch günstigere Produktionsbedingungen gegenüber seiner Konkurrenz erzielen kann, in Preissenkungen verwandeln?

Damit soll nicht gesagt sein, dass es keinen echten Preiswettbewerb gäbe. Aber er ist nur eine Teilerscheinung. Gelegentlich werden ja die Preise auch einmal gesenkt und außerdem ist ja in der Fertigwarenindustrie in der ungeheuren Mannigfaltigkeit der Waren auch ein Preiswettbewerb vorhanden. Aber auf weiten Gebieten ist jedenfalls festzustellen, dass das Prinzip der freien Konkurrenz gegenüber der allgemeinen Tendenz zur Hochhaltung der Preise durchaus versagt. Wir haben also gar keine freie Marktwirtschaft im Sinne der Theorie.

[Die Kommenden, 10. Jg., 1956, Nr. 2, 25.01.1956, S. 3]

II

Ein dritter Weg zwischen Westen und Osten

In einer ersten Untersuchung der freien Marktwirtschaft wurde dargestellt, dass die Forderung, durch die Automatik der freien Marktwirtschaft zu einer sozialen Ordnung des Wirtschaftslebens zu kommen, schon deshalb nicht erfüllt werden kann, weil diese in ihren Antrieben auf dem menschlichen Egoismus beruht. Dieser Egoismus aber ist der Gegenpol alles Sozialen. Auch trifft die Voraussetzung der Theorie der freien Marktwirtschaft, nämlich das Vorhandensein von sich gegenseitig konkurrenzierenden Einzelbetrieben, insofern nicht mehr zu, als auf weiten Gebieten der Wirtschaft marktbeherrschende Zusammenschlüsse ihre Herrschaft angetreten haben. Wo liegt nun der Weg zu einer sozialen Lösung?

Um zu einer Ordnung der Märkte und zu einer echten Preisbildung zu kommen, wird man das Prinzip des Kampfes ums Dasein und der Atomisierung der Produktion fallen lassen müssen. Man wird den entgegengesetzten Weg beschreiten müssen. Anstatt die Wirtschaft in frühere Entwicklungsstadien zurückzuwerfen, muss man den Drang zu immer allgemeinerem Zusammenschluss, der in der Natur der arbeitsteiligen Wirtschaft liegt, in solche Bahnen lenken, dass den Zusammenschlüssen jeder Machtcharakter genommen wird. Die Wirtschaft muss so organisiert werden, dass sie durch die Organisation selbst höhere Antriebe zur Arbeit, die ja an sich in jedem Menschen auch vorhanden sind, begünstigt und zur Entfaltung bringt. Das kann die freie Marktwirtschaft mit ihren Prinzipien nicht leisten.

Die Vertreter der westlichen freien Wirtschaftsformen glauben, die Arbeitermassen, die ja die unentbehrlichen Partner des Unternehmers sind, durch bloße Hebung des Lebensstandards für sich und die westliche Wirtschaftsform gewinnen zu können. Und darin sind ja die westlichen Wirtschaftsweisen durch die weit stärkere Entfesselung der Produktionskräfte den östlichen weit überlegen – vorausgesetzt allerdings, dass es möglich ist, die Vollbeschäftigung zu wahren und katastrophale Krisen zu vermeiden. Aber der Arbeiter will ja im Grunde genommen noch etwas anderes. Es heißt ihn unterschätzen, wenn man glaubt, dass er ausschließlich nach materieller Besserstellung strebt. Warum hat denn der Ruf nach Sozialisierung, den vor 100 Jahren Karl Marx erhob, in der Arbeiterschaft aller Länder so gezündet? Weil die Arbeiterschaft instinktive Vorstellungen hat von einer Wirtschaftsorganisation, die nicht auf Gewinn- und Machtsucht der Einzelnen, sondern auf dem kameradschaftlichen brüderlichen Zusammenarbeiten aller für das Gesamtwohl beruht. Mögen die östlichen Wirtschaftsformen auf den westlichen Menschen abstoßend wirken durch die Vernichtung der Freiheit – sie erhalten ihre Anziehungskraft dadurch, dass hier versucht wird, das brüderliche Prinzip in der Wirtschaft durchzusetzen. Der Arbeiter strebt nicht in erster Linie nach Freiheit – die ist ja ohnehin für ihn nur begrenzt – er strebt nach Zusammenarbeit und möchte diese in der Wirtschaft verwirklichen.

Der Ruf nach Sozialisierung verstummt nicht mehr

Wenn man glaubt, man könne gegen den Bolschewismus einen Damm errichten ausschließlich dadurch, dass man durch die Produktionskraft der freien Marktwirtschaft einen hohen Lebensstandard sichert, so muss das als eine Illusion betrachtet werden. Der Ruf nach Sozialisierung wird in der Welt nicht mehr verstummen, und es bleibt die entscheidende Frage, in welcher Form man ihn verwirklicht.

Die heutige Menschheit kennt drei große Grundforderungen, in denen sich die eigentlichen Impulse unseres Zeitalters aussprechen: Individualismus, Demokratie und Sozialismus. Es sind die gleichen Forderungen, die schon die Französische Revolution verkündete als die unveräußerlichen Menschenrechte: Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit. Denn das Wesen des Individualismus ist die individuelle Freiheit, das Wesen der Demokratie die Gleichheit, der Kern des Sozialismus ist die Brüderlichkeit. Aber es ist immer noch zu wenig erkannt, dass diese drei Menschheitsforderungen drei verschiedenen Funktionen des sozialen Lebens entsprechen und dass es gefährlich ist, sie aus demjenigen Bereich, wo sie jeweilig hingehören, auf andere Bereiche des sozialen Lebens zu übertragen. Individuelle Freiheit ist das Lebenselement des Geisteslebens. In diesem kommt es nämlich nicht auf Gleichheit oder brüderliche Zusammenarbeit an, sondern auf die individuellen Fähigkeiten der Einzelnen und ihre freie Entfaltung. Demokratische Gleichheit ist das Grundelement des rechtlich-staatlichen Lebens, wo es entscheidend darauf ankommt, dass vor dem Rechte, in allem, was die Regelung des Verhältnisses von Mensch zu Mensch betrifft, alle mündig gewordenen Menschen gleich sind. Und schließlich ist das Element des Wirtschaftslebens die brüderliche Zusammenarbeit, das „Alle für Einen, Einer für Alle“, das ja – wenn auch kaschiert durch das egoistische Gewinnstreben – naturgemäß der arbeitsteiligen Wirtschaft zugrunde liegt.

Die westlichen Wirtschaftsformen haben das Prinzip der Freiheit zu stark – und vor allem in zu egoistischer Weise – in die Wirtschaft hineingetragen und dadurch die Brüderlichkeit ausgeschlossen. Die östlichen Wirtschaftsformen wollen die Brüderlichkeit und ersticken die Freiheit. Aber wenn einmal erkannt ist, wie die drei funktionellen Glieder des sozialen Organismus, das Geistesleben, das Rechts- oder Staatsleben und das Wirtschaftsleben mit ihren verschiedenen Grundprinzipien, harmonisch ineinanderwirken müssen, dann wird man auch begreifen, wie in der Privatinitiative des Unternehmers ebenso wie in den technischen Erfindungen die geistige Freiheit in das Wirtschaftsleben in berechtigter Weise hineinwirkt und die Produktion befruchtet. Diese freie Initiative darf sich aber im Wirtschaftsleben nicht ausleben als Gewinn- und Machtsucht, sondern muss sich eingliedern in das Ganze zum Wohle der Gesamtheit.

Die Wirtschaftsvorgänge überschaubar machen

Worum also muss es sich handeln? Es handelt sich darum, eine Synthese zu finden zwischen dem westlichen Freiheitsgedanken und dem östlichen Ideal, in Brüderlichkeit für das Gemeinwohl zu arbeiten. Das kann geschehen durch freiwilligen Zusammenschluss der Wirtschaft, wobei – wie bei jedem Zusammenschluss – der Einzelne von seiner Freiheit einen Teil aufgibt, um auf der höheren Ebene des Gemeinwohls mitzuwirken. Dass das grundsätzlich möglich ist, wird durch zahlreiche Produktionsverbände der Vergangenheit und Gegenwart bewiesen. Aber die hier gemeinten Zusammenschlüsse müssen auch über das einseitige Produktionsinteresse hinauswachsen. Zweck alles Wirtschaftens ist die Befriedigung des menschlichen Güterbedarfs. Und an einem Warenmarkt sind die Produzenten, Händler und die Verbraucher mit gleich starken Interessen beteiligt. Es ist durch nichts gerechtfertigt, dass der Verbraucher in unserem Zeitalter der Produktionswirtschaft so völlig an die Wand gedrückt wird, wie das tatsächlich geschieht. Es müssen Konsumentenverbände ins Leben gerufen werden – es wäre das z.B. eine Aufgabe für die Gewerkschaften – die in voller Gleichberechtigung sich mit den Vertretern der Produzenten und Händler zusammensetzen und mit ihnen die Probleme des Marktes besprechen. Alles, was überhaupt an einem Markte interessiert ist, wäre in einem solchen Gremium vertreten. Und es kann sich aus den Verhandlungen eine wirkliche gemeinsame Überschau über den Markt und eine Erkenntnis der sonst dem Einzelnen undurchschaubaren Zusammenhänge ergeben, die dann zu vernunftgemäßen Lösungen die Möglichkeit bietet. Freilich müssen die Partner in solchen Gremien mit aller Offenheit und mit dem Willen zu gegenseitigem Vertrauen sich gegenüberstehen. Mögen auch die Interessengegensätze noch so stark aufeinanderplatzen, man wird sich letzten Endes auf das Vernunftgemäße einigen: Niemand, der weiß, welche Unsummen von Missverständnissen, Fehldispositionen usw. nur auf dem Mangel an Fühlungnahme zwischen den Wirtschaftspartnern beruhen, wird den Wert solcher Aussprachen gering schätzen können. Was man in der freien Marktwirtschaft dem chaotischen Spiel der freien Kräfte mit ihrer fragwürdigen Automatik überlässt, das wird in Zusammenschlüssen wie den hier gemeinten in die bewusste vernunftgemäße Planung hineingenommen, aber nicht eine zentrale Planung von irgendwelchen staatlichen Stellen aus, sondern eine Planung der Beteiligten selbst aus der gemeinsam erarbeiteten Einsicht heraus. In solchen Gremien müssen auch die Preise diskutiert werden, und es wäre die Möglichkeit zu einer gerechten Preisbildung gegeben.

Wie man solche Zusammenschlüsse nennt, ist an sich gleichgültig. Rudolf Steiner, der sie vor nunmehr fast 40 Jahren erstmalig vorschlug, nennt sie Assoziationen. Ihm kam es weniger auf schematische und programmatische Festlegung der Tätigkeit solcher Verbände im einzelnen an, sondern darauf, zunächst einmal ein Instrument zu schaffen, um die Wirtschaftsvorgänge für alle Beteiligten überschaubar zu machen und die Lösung der immer wieder auftretenden Schwierigkeiten und Probleme aus der Vernunft aller Beteiligten heraus zu ermöglichen. Die Bezeichnung Assoziation hat den Vorzug, dass sie nicht mit Begriffsinhalten vorbelastet ist wie andere Bezeichnungen, etwa Wirtschaftsbünde oder Genossenschaften. Solche Assoziationen würden sich wie ein Netzwerk von Branche zu Branche über die ganze Wirtschaft hinziehen, denn jede Branche ist auf der einen Seite Produzent bestimmter Waren, auf der anderen Seite Konsument von Rohstoffen, Halbfabrikaten, Investitionsgütern usw. Von besonderer Bedeutung sind selbstverständlich Assoziationen in der reinen Konsumgütersphäre. Also beispielsweise würde die Landwirtschaft mit den Vertretern der Konsumentenverbände auf der einen Seite, aber auch mit den Industrien, von denen sie ihre Roh- und Hilfsstoffe, Düngemittel, Maschinen usw. bezieht, Assoziationen zu bilden haben. Man kann ermessen, welche Bedeutung solche unmittelbaren Aussprachen angesichts der gefährlich sich verschärfenden Gegensätze zwischen Landwirtschaft und Industrie erlangen könnten.

Nicht über Lösungen diskutieren, sondern sie gestalten

Nun hört man ja vielfach gegenüber solchen Vorschlägen den Einwand, die Menschen seien für eine solche Zusammenarbeit noch nicht reif. Dazu ist zu sagen, dass eine große Zahl von Menschen, Unternehmer und Arbeiter, durchaus dazu reif sind, dass aber die heutige Organisationsform der Wirtschaft es kaum gestattet, solche Arbeitsantriebe auszuleben, die neben Gewinn und Machtsucht auch durchaus in jedem Menschen vorhanden sind. Gerade in Deutschland, das ja in sozialer Hinsicht viele Erfahrungen hinter sich hat und auf das die Welt hinblickt, wenn es sich um die Lösung von Menschheitsproblemen handelt – gerade hier wäre die Möglichkeit gegeben, solche wahrhaft sozialistischen Einrichtungen zu realisieren.

Der Bundeswirtschaftsminister hat in seiner schon früher zitierten Augsburger Rede auch erklärt, er werde seine psychische Seelenmassage so weit treiben, dass sich jeder schäme, volkswirtschaftlich nicht vertretbare Preise zu fordern. Das ist eine Abkehr von den bisherigen egoistischen Arbeitsantrieben der freien Marktwirtschaft und ein Appell an das Verantwortungsbewusstsein jedes Einzelnen gegenüber der Allgemeinheit. Aber kann in einer Wirtschaft, die grundsätzlich auf Zusammenschluss verzichtet und in der Atomisierung den Konkurrenzkampf erstrebt, sich überhaupt ein solcher Gemeinsinn entfalten? Notwendig ist, die Organisation der Wirtschaft erst so zu gestalten, dass sich wirklich der Gesichtspunkt des Allgemeinwohls durchsetzen kann. In Assoziationen, wie den hier gemeinten, kann und muss sich eine Mentalität entwickeln, die in voller Offenheit die Probleme des Marktes zu behandeln und zu einer vernunftgemäßen Lösung zu bringen ermöglicht. In solchen Gremien ist die Möglichkeit gegeben, dass sich wirklich einer schämt, wenn er seine egoistischen Interessen in ungerechtfertigter Weise vertritt. Dasselbe in der freien Marktwirtschaft mit ihren charakterisierten Grundprinzipien zu erreichen dürfte einigermaßen schwierig sein. –

[Die Kommenden, 10. Jg., 1956, Nr. 3, 10.02.1956, S. 3]