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Zur Lage Deutschlands
Quelle
Zeitschrift „Goetheanum“
Jahrgang 49, Nummer 15, 12. April 1970, S. 118-119
Kurt Franz David schliesst seine knappe Deutschland-Betrachtung in Nr. 7 dieser Wochenschrift mit dem Satz: „Würde Deutschland heute (wie es 1919 versucht wurde) eine Neuordnung im Sinne des Dreigliederungsimpulses anstreben, so müsste es nicht nur wie damals den Kampf gegen das Unverständnis und die Gegner im eigenen Land aufnehmen, sondern überdies seine Einordnung in ihm wesensfremde Richtungen. Solange es sich daraus nicht befreien kann, wird es, sich selbst bekämpfend, für die Absichten von Ost und West missbraucht werden.“
Wie aber wäre es, so muss man fragen, wenn die Befreiung aus der Umklammerung, ja der physischen und geistigen Durchdringung Deutschlands von ihm „wesensfremden Richtungen“, nur dadurch möglich wäre, dass es eine Dreigliederung seiner Lebensverhältnisse gerade anstrebt?
Was Kurt Franz David konstatiert, berücksichtigt nicht, dass ein gravierender Unterschied besteht zwischen dem westlichen und dem östlichen Bereich des zerteilten Volkes. Dieser besteht darin, dass sein Osten weder im wahren Sinne deutschen, noch demokratischen, noch republikanischen Wesens ist, sondern in totaler Unfreiheit leben muss. Dreigliederung kann dort nicht angestrebt werden; denn das wäre „konterrevolutionär“. — Ganz anders im Westen. Dort ist immerhin die Möglichkeit gegeben, soviel Freiheit zu betätigen, dass daraus auch eine
[Goetheanum, Jahrgang 49, Nr. 15, 12. April 1970, Seite 118]
Neuordnung des Gemeinwesens im Sinne der Dreigliederung erfolgen könnte, wenn ... Und hier ist der springende Punkt: wenn man nur erkennte und wenn man nur wollte.
Aber wer will eine Neuordnung in jenem Geiste, der aus den Worten Rudolf Steiners spricht, die er in seinem „Aufruf an das deutsche Volk und an die Kulturwelt“ im Jahre 1919 ausgesprochen hat: „Nun müsste aus dem Unglück die Einsicht reifen.“ Das gilt auch heute, 50 Jahre nach dem Ersten und 25 Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg. Aber weiter: „Man müsste den Willen zum möglichen sozialen Organismus entwickeln. Nicht ein Deutschland, das nicht mehr da ist, müsste der Aussenwelt gegenübertreten, sondern ein geistiges, politisches und wirtschaftliches System“ mit ihren eigenen Verwaltungen müssten daran arbeiten, wieder ein mögliches Verhältnis zu denjenigen zu gewinnen, von denen das Deutschland niedergeworfen worden ist, das nicht erkannt hat, dass es im Gegensatz zu anderen Volksorganisationen als erstes darauf angewiesen ist, seine Kraft durch die Dreigliederung des sozialen Organismus zu gewinnen. Auch das gilt heute in unverminderter Kraft und Stärke. Und es ist realisierbar in jenem Teile Deutschlands, der - zwar unter dem militärischen Schutze der Nato stehend - Freiheit hat, sie zu einer wirklichen Neuordnung zu gebrauchen (wenn heute auch behindert durch die Bindung in die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft). Dann allerdings müsste dieses äusserlich freie Deutschland endlich begreifen, dass ein deutscher Einheitsstaat, so wie er 1870 begründet und - die Lehren des Schicksals nicht achtend - 1919 in Weimar wiederbegründet wurde, in Wirklichkeit „nicht mehr da ist“, und dass nur ein dreifach gegliederter sozialer Organismus dem Wesen seiner Volkheit, um diesen Ausdruck Goethes zu gebrauchen, entspricht.
Deutschland muss, ganz im Sinne der unermüdlichen Forderungen Rudolf Steiners im Ersten Weltkrieg, auch heute die seinem Wesen entsprechende Ordnung für seinen sozialen Organismus wirklich anstreben und auch, deutlich hörbar im Osten und im Westen, formulieren. Die Verhandlungen deutscher Vertreter sowohl in Washington, wie auch in Moskau und Warschau können ohne ein solches Fundament sich nur in Schwäche, immer der Niederlage nahe, vollziehen; denn der westdeutsche Einheitsstaat entspricht nicht dem Wesen der Volkheit.
Es geht unter grossen historischen Aspekten heute nicht so sehr um Augenblickserfolge. Aber das „Gleichgewicht des atomaren Schreckens“ hat - vielleicht - für Mitteleuropa noch eine Atempause gewährt. Diese muss genutzt werden. Z. B. wäre mit grösstem Nachdruck vor aller Welt zu erklären, dass es für Mitteleuropa, ja für, ganz Europa, nicht um die „Anerkennung“ trennender politischer Grenzen geht, ob sie nun an der Oder und Neisse oder sonstwo gezogen sind, sondern um die völlige Aufhebung alles Begrenzenden sowohl für alles geistige Leben, wie auch für die Wirtschaft. Vielleicht muss man im Augenblick sogar gewisse Grenzen anerkennen. Aber das hätte eine völlig andere Bedeutung, wenn man zugleich die Welt wissen lässt: die wirklichen Friedensgrenzen (als die man irreführend und propagandistisch die Oder-Neisse-Grenze vom Osten Europas her bezeichnet) sind die Grenzen sowohl für das Geistesleben wie auch für das Wirtschaftsleben gegenüber dem eigentlichen politischen Staat. Das freie Walten des Menschengeistes über alle bisherigen Grenzen hinweg, der brüderliche Austausch von Gütern des Wirtschaftsfleisses, dürfen nicht mehr vom Staat aus behindert oder gar verhindert werden, indem er beide Lebensgebiete zu Instrumenten blosser politischer Macht erniedrigt. Seinem Wirken müssen - friedensstiftende - Grenzen gezogen werden!
Deutsche Politik, eine Politik, die diesen Namen wirklich verdient, muss zwar auf augenblicklich notwendige Erfordernisse eingehen, aber sie darf dabei nie das grosse Ziel aus den Augen verlieren: das, was ordnen kann im Gemeinschaftsleben der Völker ist allein das Prinzip der Dreigliederung. Man muss jedoch noch hinzufügen: das freie Rumpfdeutschland von heute kann für sich nichts mehr wollen; es kann im Grunde nur für eine Neuordnung in Verbindung mit Osteuropa wirken, ja nicht einmal nur das, sondern für das gesamte Abendland.
Deutschland darf in solchem Bestreben niemals resignieren. Es kann sich selbst nur befreien, wenn auch die anderen Völker Europas mitbefreit werden. Es darf den Glauben nicht verlieren an das, was Rudolf Steiner „die Sieghaftigkeit des Geistes“ genannt hat. In diesem Falle: an die Sieghaftigkeit des Geistes, der in der Idee der Dreigliederung des sozialen Organismus lebt. Diese wird, so hoffnungslos das auch jetzt aussehen mag, nunmehr nicht nur Deutschland, sondern ganz Europa in eine fruchtbare Gärung versetzen müssen. Aber dazu gehört jener grosse geschichtliche Atem, in dessen Zeichen das Scheitern der Dreigliederungsbewegung von 1919 lediglich eine, wenn auch wesentliche, so doch nur eine historische Episode bedeutet. Die Zukunft steht noch bevor.
Fritz Götte
[Goetheanum, Jahrgang 49, Nr. 15, 12. April 1970, Seite 119]