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Wege aus der Bildungskrise
Auszug aus dem Buch "Der staatlich bewirtschaftete Geist – Wege aus der Bildungskrise", Econ Verlag: Düsseldorf, Wien, New York, Moskau 1993, S. 139-151.
Ein Ausweg aus der gegenwärtigen Bildungskrise wird nur gefunden werden können, wenn die Debatte grundsätzlich geführt wird. Erst wenn ein gesamtgesellschaftlicher Konsens darüber besteht, dass das Bildungsleben eine eigene Kategorie innerhalb des gesellschaftlichen Lebens ist, werden Schulen und Hochschulen »organisch« mit den übrigen gesellschaftlichen Funktionen zusammenwirken können. Es ist das Kennzeichen eines Organismus, dass bestimmte Lebensfunktionen von den einzelnen Organen in besonderer Weise wahrgenommen werden, sich also in einzelnen Organen als Tätigkeit verdichten. So verdauen wir nicht mit dem Gehirn, laufen nicht auf Händen usw. Genauso wie das Wirtschaftliche eine eigene Kategorie gegenüber dem Rechtlichen darstellt, ist die Bildung eine eigenständige Kategorie und abzugrenzen gegenüber dem Staatlichen und dem Wirtschaftlichen. Erst bei Entzerrung dieser Kategorien werden die Bereiche einander fruchtbar durchdringen bzw. fruchtbar zusammenarbeiten können. Die staatlich gelenkten planwirtschaftlichen Systeme des Ostens und auch die planwirtschaftlichen Systeme staatlicher Lenkung bei uns zeigen, wie es wird, wenn diese Grundregeln keine Beachtung finden.
Ich hoffe, in den vorherigen Kapiteln gezeigt zu haben, dass der Staat als direkter Funktionsträger seine durchgreifende Gestaltungsfähigkeit des Staatswesens, seine rechtliche Ordnungskraft, einbüßt. Ein gutes Beispiel dafür sind Gesetze oder Verordnungen über den Abbau von Subventionen. Sie werden in Parlamenten oder Ministerrunden beschlossen und sollen überall gelten, nur nicht im eigenen Wahlkreis oder dem heimatlichen Regierungsbereich. So entstehen die ausgefransten und durchlöcherten Gesetze. Die Ordnungsfunktion nach innen und die Regelung der Beziehungen zu anderen Staaten sind jedoch die besonderen, die eigentlichen Aufgaben des Staates, der überdies das Gewaltmonopol gegen Menschen und Sachen behalten muss. Physische Gewalt gegen Menschen und Sachen, wenn sie erforderlich ist, kann nur eine Aufgabe des Staates sein. Sie muss aus Gesetzen hervorgehen, vor denen jeder gleich ist, und diese staatliche gesetzliche Tätigkeit muss durch unabhängige Gerichte überprüfbar bleiben.
Um die Fähigkeit zur ordnenden Macht zu entwickeln, darf der Ordnungsgeber nicht in die Geschäfte selbst verwickelt sein, und er bedarf der Ideen, nach denen er seine Ordnung ausrichtet. Die Idee von der »Würde des Menschen«, von der Unantastbarkeit der Person, gleich welcher Rasse, Religion usw. sie angehöre, die Freiheit von Wort und Schrift, die Versammlungsfreiheit und die »Freiheit von Forschung und Lehre« sind solche verfassungstragenden Ideen des Grundgesetzes, in dem auch die Einschränkung der Freiheiten noch verfassungs- und damit freiheitsschützend ausgeführt sind. »Kunst und Wissenschaft, Forschung und Lehre sind frei. Die Freiheit der Lehre entbindet nicht von der Treue zur Verfassung.« So das Grundgesetz Artikel 5 Absatz 3.
Wollen wir Auswege suchen, müssen wir solche grundsätzlichen Ziele verdeutlichen, wenn wir nicht nur eine weitere Schraube am Rad drehen wollen.
Bei der Forderung nach Rückzug des Staates aus unserem Bildungswesen handelt es sich nicht um die Forderung nach »Privatisierung« des Bildungswesens im Sinne einer Kommerzialisierung. Dies hieße, das Bildungswesen wirtschaftlichen Kategorien zu unterwerfen, die ihm ebenso fremd und damit unzuträglich sind wie Kategorien der staatlichen Bewirtschaftung oder Verwaltung.
Das Hauptziel muss also heißen: Rückzug des Staates aus allen kulturellen, bildenden, künstlerischen Einrichtungen und ihre Überführung in freie, wirtschaftlich und rechtlich eigenständige Einrichtungen.
Und weiter: Rückzug des Staates aus allen direkt und indirekt wirtschaftlichen Betätigungen. Allein die Überführung der staatlichen Hochbauämter in Einrichtungen privatwirtschaftlicher Ausrichtung dürfte einen Rationalisierungsgewinn von 50 bis 60 Prozent ergeben. Dabei ist nicht gerechnet, dass für Bauten dann die tatsächlich zu erwartenden Kosten von vornherein veranschlagt und gehalten würden und sie nicht, wie heute in der Regel, sich während der meist überlangen Bauzeit um das Zwei- bis Vierfache erhöhen würden. Das heißt, es könnten etliche Milliarden Deutsche Mark auf diese Weise gespart werden, ohne-auf irgendeine Leistung verzichten zu müssen, ja, die Leistungen würden sogar schneller und besser erbracht werden.
Die Überführung der staatlichen Hochschulen in nichtstaatliche Einrichtungen muss zum gegenwärtigen Zeitpunkt ein Fernziel, das erst in etwa zehn Jahren zu erreichen ist, bleiben. Aber es muss als Ziel jetzt grundsätzlich für gültig erklärt werden, wenn die richtigen Schritte daraufhin unternommen werden sollen.
Die Situation des bundesdeutschen Schul- und Hochschulwesens ist grundsätzlich vergleichbar mit der Situation derjenigen Nachfolgestaaten der Sowjetunion, die eine freie Marktwirtschaft heute einführen wollen. Erstens erfolgt der Wechsel von planwirtschaftlicher Staats- und parteigelenkter Wirtschaft zur freien Marktwirtschaft nicht aus Einsicht der Machthaber, sondern aus dem Zusammenbruch des Systems. Zweitens war Russland in seiner Geschichte noch nie eine Demokratie, und die plötzliche Entlassung der staatsgelenkten Wirtschaft in die »Freiheit« wird nur unter großen Verlusten - so wie heute durchgeführt - erreichbar sein. Auch die deutschen Universitäten waren noch nie in der Geschichte frei, selbständig oder »autonom«. Man kann sie nicht in die Freiheit stoßen, sie würden so hilflos sein wie die russischen Leibeigenen, die mit der berechtigten Aufhebung der Leibeigenschaft auch den Schutz und die Versorgung durch ihre »Eigner« verloren. Diese überhastete Aufhebung der Leibeigenschaft stellte sich als eine Katastrophe für die betroffenen Leibeigenen dar, denn (141) sie standen plötzlich ohne Land, ohne Einkommen und ohne jeden Schutz im Leben.
Ein friedlicher Entwicklungsvorgang ist also allein vom Ziel her revolutionär bestimmt und kann nur in Teilschritten erreicht werden, wenn man nicht ein Chaos veranstalten will, wie es die Welt jetzt in den GUS-Staaten vorgeführt bekommt.
Vollziehen wir jedoch diesen programmatischen Schritt nicht sollten wir uns um den Erwerb der in den osteuropäischen Staaten überflüssig gewordenen Lenin-Statuen bemühen und sie zur Aufstellung vor unseren Kultus- und Wirtschaftsministerien bringen, um mit ihnen ständig daran zu erinnern, welcher Geist hier herrscht - gleichgültig welcher politischen Partei die Minister angehören mögen, die mit diesen Ministerien regieren. Auch Lenin wollte nur das Beste für die Entwicklung aller Gesellschaften.
Der grundsätzliche Wechsel heißt, dass wir einsehen: Der Staat hat seine geschichtliche Aufgabe erfüllt, die Hochschulen aus der Vorherrschaft der Kirchen zu lösen. Jetzt ist auch der Bürger im Bildungsleben zu bemündigen. Dass dies an der Zeit ist, zeigen Veränderungen in der Gesellschaft an vielen anderen Stellen. Die Wirtschaft hat diesen gesellschaftlichen Wandel bei uns schon lange bemerkt und sich entsprechend darauf eingestellt.
Man kann diesen Wertewandel nach Johannes Bircher wie folgt zusammenfassen:
Der Staat kann und wird nicht Einrichtungen erzeugen, die der Zeit entsprechen und die vielleicht sogar Zukunft ermöglichen. Es ist immer wieder zu betonen, dass es nicht das individuelle Unver-mögen der Beamten oder der Bürokraten ist, nein, es sind die Verhältnisse, die aus rechtlichen bzw. rechtsstaatlichen Kategorien hervorgehen und die am falschen Platz das falsche Resultat erzeugen. Genauso wie wir den »Professoren« nicht das Regieren des Staates überlassen sollten, wollen wir auch nicht den Staat der Wirtschaft unterworfen wissen. Aber wir dürfen nicht glauben, dass der Staat über Forschungsprogramme, über Schule und Bildung unsere geistige Zukunft zu planen und zu bewirtschaften das Recht habe.
Natürlich wird bereits der Gedanke daran, staatliche Einrichtungen in die »Freiheit« zu entlassen und damit in die Selbstverantwortung, einen Aufschrei der Empörung und des Entsetzens in diesen Einrichtungen auslösen. Und natürlich wird die staatliche »Nomenklatura der Unkündbaren« mit Sorge daran denken, dass sie zumindest sich Fragen zu ihrer menschlich moralischen Verantwortung wird stellen müssen, eine arbeitsrechtliche oder andere Verantwortung wird für sie und sollte wohl auch ausgeschlossen bleiben.
»Die zentrale Frage der Kulturpolitik ist: Was ist das Selbstbild der eigenen Gesellschaft, und wie kann es verwirklicht werden? Wie deutet sich die Gesellschaft selbst, was sind die wesentlichen Züge ihres Selbstbildes? Es ist offensichtlich, dass Pluralismus nicht die geeignete Antwort auf diese Frage sein kann. Die Antwort des Pluralismus besteht nur in der Rückgabe der Frage nach der Identität der Gesellschaft an den Fragenden: Das Selbstbild der Gesellschaft ist, dass es viele Selbstbilder, Deutungen und Auffassungen von wesentlichen Eigenschaften der Gesellschaft gibt. Pluralismus kann nicht die Antwort auf die Frage nach dem Sinn der Kultur, sondern nur die soziale und kulturelle Folge, das Resultat einer anderen, inhaltlichen Antwort sein. Vielfalt ist nicht der Sinn unserer Kultur, sondern die Folge der Erfüllung eines wichtigeren (143) Zweckes. Die Antwort des bloßen Pluralismus ist eine solche der Erschöpfung, des Eklektizismus und Nicht-mehr-gestalten-WoIlens. Kulturell ist Pluralismus eine zweifelhafte Position weil er den Kulturwillen in Beliebigkeit auflöst und in die gefährliche Nähe des Ressentiments gegen Kultur überhaupt gerät: Es soll Beliebigkeit statt Bemühens herrschen.« (vergl. Peter Koslowski: Die postmoderne Kultur. C. H. Beck, München 1988. S. 152)
Das »Bemühen« ist es, auf das es ankommt. Nicht die in der Politik demokratisch richtige Überzeugung, dass jede Meinung gleichwertig ist und deshalb die Stimmen ausgezählt werden müssen, sondern das Bemühen des einzelnen Menschen, ein Problem auch mit den Augen des anderen zu sehen, ist für die Kultur fördernd. Für die Gesellschaft ist es von daher günstig, in sich vielfältig und damit tatsächlich plural zu sein. Der innere Pluralismus des Menschen und der innere Pluralismus einer Gesellschaft sind fruchtbar. Das heißt: Im geistigen Bereich müssen wir mit ungelösten Fragen, mit Meinungsvielfalt und den dadurch ausgelösten Spannungen leben. Diese inneren Spannungen sind kulturell oft ausgesprochen fruchtbar. Die Demokratie ist ein politisches, rechtliches Verfahren, um trotz Meinungsvielfalt zu eindeutigen Entscheidungen zu kommen.
Wir stehen vor der Notwendigkeit eines grundsätzlichen Paradigmenwechsels, wenn wir die Hochschulmisere in den Griff bekommen wollen. Der grundsätzliche Paradigmenwechsel muss nicht dazu führen, überhastete Schritte zu machen, so wie es 1861 in Russland mit den Leibeigenen geschehen ist. Wir dürfen auch keine Angst davor haben, dass zum Beispiel verschiedenste Gruppen hochschulgründend auftreten würden (was gar nicht so wahrscheinlich ist). Der Staat kann vorgeben, dass bestimmte Gesetze auch in Universitäten zu achten sind; er soll und darf bestimmte Rahmenrichtlinien vorgeben. Der Staat muss ja auch nicht Unternehmer sein, um die Kinderarbeit zu verbieten; er darf und soll sogar überwachen, dass keine Kinderarbeit stattfindet.
Die Überführung oder Entlassung der Hochschulen in die Freiheit muss beachten, dass zuerst Leitungsstrukturen in den Hochschulen entstehen, die eine solche Freiheit bewältigen können, auch ist Zeit dafür notwendig, dass konkurrierende Ideen und Konzepte in den Hochschulen selbst entwickelt werden können.
In den Jahren 1988, 1989 und 1990 recherchierte die Bertelsmann-Stiftung auf internationaler Ebene, um die beste Hochschule und eine Persönlichkeit, die besonders viel für die Hochschulentwicklung ihres Landes getan hat, zu ermitteln. Ausgezeichnet wurden eine englische Universität und ein norwegischer Wissenschaftler.
Die Studie betont, dass alle wichtigen Grundsätze und Lösungen für eine Neugestaltung des Hochschulwesens bekannt seien. Insofern ginge es nur noch um die Implementierung der Reformansätze. In erster Linie müsse der Staat sich darauf beschränken, bildungspolitische Rahmenrichtlinien zu erlassen, den Hochschulen aber ansonsten weitgehende Autonomie einräumen. Um auch innerhalb der Universitäten größtmögliche Freiheit zu gewährleisten, sollten die Grundzüge einer Verfassung mit Zielen und Führungsstrukturen durchaus vom Staat vorgegeben werden, dieser habe sich aber jedes direkten Eingriffs zu enthalten. Die Berteismann-Stiftung hält die innere Freiheit der Universitäten nur dann für möglich, wenn der Grundsatz der Delegation von Verantwortung eingeführt wird.
Der Staat habe im Zusammenhang seiner bildungspolitischen Verantwortung auch bei Autonomie der Universitäten einen Teil der Kosten aus Forschung und Lehre zu tragen, wobei dieser Budgetspielraum von den Hochschulen über Drittmittel, Erträge aus wirtschaftlicher Tätigkeit und Studiengebühren ergänzt werden könne. (vergl. Bertelsmann-Stiftung (Hrsg.): Evolution im Hochschulbereich. Gütersloh 1990)
Diese Ergebnisse der Studie sind nicht nur für eine Übergangszeit, sondern von dauerhafter Bedeutung auch für ein freies, vom Staat aus der Bewirtschaftung entlassenes Universitäts- und Bildungswesen. Das gleiche gilt für viele der im Soll-Modell genannten Punkte; einige von ihnen haben nur Gültigkeit in einer Übergangszeit.
Tatsächlich sind die Ansätze zur Lösung des Hochschulproblems schon längst bekannt; dies zeigen auch die Vorschläge von Dieter Simon, dem gegenwärtigen Vorsitzenden des Wissenschaftsrates, die er in dem genannten Symposium 1990 der Bertelsmann-Stiftung »Evolution im Hochschulbereich« unterbreitet hat. Er forderte unter anderem, das Zulassungsrecht für Studenten an die Hochschulen abzugeben, wobei lediglich eine gewisse Mindestzahl von Studierenden vorgegeben werden könne. Nicht nur die Kapazitätsverordnung, auch die zahlreichen Vorschriften zur Gestaltung des Lehrangebots hält Simon für überflüssig: »Sicher muss es Mindestanforderungen zwecks Wahrung von Qualitätsstandards geben, aber deswegen brauchen wir keine staatlichen Prüfungsordnungen und keine staatlich genehmigten Studienordnungen. Das führt nur zur Verschwendung von Beamtenphantasie, die doch allemal der Etikettierungspotenz der Hochschullehrer nicht gewachsen ist.« Staatsprüfungen gehörten an das Ende des jeweiligen Referendariats, nicht aber in die Universitäten.
Die Frage nach der Finanzierung wird eine Gretchenfrage für viele sein. Sie werden nicht glauben können, dass der Staat - entlastet um die Ausgaben für die Bildung - diese durch Steuersenkung an die Bürger zurückgibt und dass die Bürger dann tatsächlich in Bildung investieren würden. Ich sehe hier das grundsätzliche Missverständnis oder Misstrauen der Regierenden gegenüber dem Bürger: Sie bezweifeln schlicht seine Mündigkeit. Sie glauben, dass die Menschen die Kinder nicht mehr zur Schule schicken würden, wenn der Staat sie denn nicht hineinzwinge. Der Staat darf das Recht des Kindes auf Bildung durchsetzen - er muss nicht die Bildung selbst »produzieren«.
In allen Gesellschaftsbereichen versuchen wir, die feudal-hierarchischen Gesellschaftsstrukturen abzubauen. In der Industrie bewirkt dies eine höhere Motivation und Eigenverantwortung der Arbeiter, freigemeinnützige Krankenhäuser und freie Schulen arbeiten in aller Regel wirtschaftlich effizienter und im Falle der freien Schulen mit einem weitaus höheren Engagement der Eltern an den Schulen. Auch die moderne Hochschulfinanzierung muss sich neu orientieren! Dieter Simon nennt dazu folgende Elemente:
»
- finanziert wird die Aufgabe und nicht die Institution;
- die Vergabe geschieht im Wettbewerb auf Grund von Leistung;
- die Finanzierung ist längerfristig, aber nicht auf Dauer;
- die Verantwortung der Hochschule bleibt erhalten;
- der Staat steuert indirekt über die Höhe der Mittel und nicht über detaillierte Regeln.« (Veröffentlicht 1990, Bertelsmann-Stiftung, Gütersloh 1990)
Vorausgesetzt, wir sind uns über die Richtung im klaren, das heißt über die Entstaatlichung des Bildungswesens, sind diese Vorschläge für eine Zwischenzeit als außerordentlich positiv zu erwägen.
Die Entstaatlichung kann nur schrittweise erfolgen, um den Hochschulen Zeit zur inneren Umstellung zu geben. Es wird zum Beispiel wichtig sein, innerhalb der Hochschulen einen Konsens darüber zu erlangen, dass Selbständigkeit auch Verantwortung für sich selber heißt und dass Autonomie bedeutet, im eigenen Namen zu handeln und dies auch wiederum zu verantworten. Ich betone das deshalb, weil viele Hochschulangehörige glauben, die Autonomie bestehe darin, dass der Staat alles zu zahlen habe und die einzelnen dann tun und lassen könnten, was sie wollten, wobei sie natürlich von der Vorstellung ausgehen, dass jede ihrer Tätigkeiten - und sei es das Rosenschneiden im heimischen Garten - für die Gesellschaft außerordentlich nützlich sei. Man muss also den Menschen Zeit geben, sich auf den neuen Status vorzubereiten, aber es ist auch erlaubt, diese Zeit zu befristen. Fünf bis zehn Jahre dürften genügen.
Zeit ist den Hochschulen auch dafür zu gewähren, darüber nachzudenken, in welcher Form sie ihre Selbständigkeit erlangen wollen. Denn die Überführung der staatlichen Universitäten in selbständige Einrichtungen ist auf vielerlei Wegen denkbar. Sie könnten die Form von selbständigen oder nichtselbständigen Stiftungen annehmen, sie könnten aber auch in Form von gemeinnützigen Aktiengesellschaften, gemeinnützigen Gesellschaften mit beschränkter Haftung und anderen Rechtsformen auftreten - vielleicht würden die Juristen auch kreative neue Formen erfinden, die für Einrichtungen des Kulturlebens überhaupt und für Universitäten im besonderen besser passen würden. Es sollte auch nicht nur wieder eine »Hochschulreform« entstehen, die zu neuer Einheitlichkeit führt, sondern es sollten viele Reformmodelle entstehen dürfen, die untereinander konkurrieren und im Wettbewerb stehen würden. Der Zeitpunkt für die Entlassung der Universitäten aus der staatlichen Vormundschaft, aus der staatlichen Bewirtschaftung, ist günstig, da in den kommenden zehn Jahren über 50 Prozent aller Hochschullehrer die Altersgrenze erreichen werden und ein noch größerer Anteil der wissenschaftlichen Mitarbeiter in diesem Zeitraum wechseln wird. Die neuen Hochschullehrer würden dann nicht mehr in den Beamtenstatus aufgenommen werden, sondern würden Angestellte der jeweiligen freien Einrichtungen.
Im folgenden soll gezeigt werden, dass die gängigsten und zum Teil an der Sache vorbeigehenden Einwände leicht entkräftet werden können.
Eine der häufigsten Sorgen ist die, dass bei einer Privatisierung des Bildungswesens dieses kommerzialisiert und damit gleichzeitig unsozial würde, da es sozial schwache Studierende ausschlösse. Dagegen ist anzuführen, dass man sich durchaus Finanzierungen vorstellen kann und muss, die die Unkosten eines Studiums nicht ausschließlich auf die Studierenden abwälzt. Auch der Staat kann als Stifter auftreten, es können Einnahmen aus Forschungen und Dienstleistungen erzielt werden, und zu einem geringen Teil können (148) auch die Studierenden beteiligt werden, zum Beispiel über Bildungsgutscheine usw. In einem freien Bildungswesen würden sich Stiftungen privater Vermögen sehr viel eher ergeben als zur Zeit, da alles staatlich verwaltet und bezuschusst wird. Heute »lohnt« es sich gar nicht, zu stiften.
Die Verselbständigung des Bildungslebens muss nicht notwendigerweise zu einer Privatisierung in dem Sinne führen, dass das öffentliche Interesse der Gesellschaft für Universitäten in die Einflusssphäre einzelner genommen wird. Es ist aber genauso wenig einzusehen, dass es der Einflusssphäre politischer Parteien zugesprochen werden soll, wie es heute der Fall ist. Eine große Sorge besteht darin, dass bestimmte weltanschauliche Gruppen innerhalb eines unabhängigen Bildungslebens ihre eigenen Bildungseinrichtungen aufbauen könnten. Erstens ist zu fragen, warum diese gesellschaftlichen Gruppen, wenn sie denn innerhalb der Gesellschaft existent sind, dieses Recht nicht haben sollten; und zweitens, woher sich einzelne Weltanschauungsgruppen das Recht nehmen, nicht nur Teile, sondern gleich das Ganze im Sinne ihrer Weltanschauung beeinflussen zu wollen.
Witten/Herdecke hat die Form der »Privatheit« gesucht, nicht um eigene Interessen zu verfolgen, sondern um eine öffentliche Aufgabe, die innerhalb des staatlichen Systems prinzipiell nicht angehbar gewesen wäre, zu ergreifen und zu einer Lösung zu führen. Und nur unter der Voraussetzung der Privatheit war es erreichbar, dass es Witten/Herdecke, obwohl sie die kleinste Universität ist, obwohl sie die schwächste Universität ist und ständig mit finanziellen Sorgen zu kämpfen hat, dennoch gelungen ist, zum Beispiel den vom Wissenschaftsrat 1992 wieder eingeforderten »Paradigmenwechsel in der Ausbildung Medizin« schon lange zu verwirklichen oder in der Wirtschaftswissenschaft ein stark praxisorientiertes, internationalisiertes und durch die Studenten mitgestaltetes Studium anbieten zu können.
Es ist der Freiheit eigen, dass Lösungen auftreten können, an die vorher keiner gedacht hat und die überraschend sind. Dieses ist (149) eben ein Charakteristikum der Freiheit. Die Begründung der Universität Witten/Herdecke hatten manche ganz anders vorgedacht, als sie dann tatsächlich eingetreten ist. Man darf aber auch formulieren, dass dieses Abweichen von den in sie gesetzten Erwartungen von der Lebendigkeit der Einrichtung zeugt. Denn nur mit Schrecken könnte ich mir vorstellen, dass die Universität Witten/ Herdecke sich nach den begrenzten Vorstellungen einzelner ausrichten würde. Entsprechend begrenzt hätte dann auch ihre Entwicklung nur sein können.
Das häufig gehörte Vorurteil, bei einer Privatisierung kehrten »amerikanische Verhältnisse« hier ein, berücksichtigt nicht die Ursachen der Schwierigkeiten im dortigen Bildungssystem. Wie zum Beispiel John Silber in seinem Buch »Ist Amerika noch zu retten?« ausführt, liegen diese Probleme in einer gesamtgesellschaftlichen Krise begründet, nicht per se in der Privatisierung.
Auch die Vergleichbarkeit der Abschlüsse wäre nicht gefährdet, im Gegenteil: Sie würde eigentlich erst hergestellt. Denn unsere heutigen Abschlüsse sind nur formal vergleichbar, nicht aber inhaltlich. In einem nichtstaatlichen Bildungswesen würde die Qualität der Abschlüsse sehr viel transparenter dargelegt und somit auch wirklich vergleichbar werden. Freiheit bedeutet nicht Willkür, ein freies Hochschulwesen bedeutet nicht einen Mangel an Zusammenhang mit der übrigen Gesellschaft. Gerade selbstverantwortliche Universitäten werden diesen Zusammenhang von sich aus suchen müssen, wenn sie sich nicht in ihrer Existenz gefährden wollen. Sie werden darauf achten müssen, dass ihre Absolventen in der Praxis angenommen werden und nicht für die Arbeitslosigkeit ausgebildet werden. Letzteres würde sie hart treffen, nicht nur moralisch, sondern auch existentiell, da sie dann vom Untergang bedroht wären. Heute dagegen werden sie staatlich weiter subventioniert.
Das verfassungsmäßige Recht auf Freiheit von Forschung und Lehre würde erst bei einer Entstaatlichung verwirklicht sein. Denn jeder im Geltungsbereich unseres Grundgesetzes, gleichgültig (150) ob er an einer Universität tätig ist oder ob er nur Privatmann ist, darf dieses grundgesetzlich garantierte Recht in Anspruch nehmen. Er darf dabei nur nicht, genauso wenig wie die Universitäten, gegen die Verfassung verstoßen. Die staatliche Verwaltung hingegen hebt diese Freiheit auf.
Erste und unabdingbare Voraussetzung für eine Entwicklung der Hochschulen wäre der gesellschaftliche Konsens über das Ziel: Entstaatlichung des Bildungswesens. Mit diesem Ziel im Hintergrund könnte schon jetzt eine Reihe von Maßnahmen ergriffen werden, die zu einer Entlastung der Hochschulen und der staatlichen Haushalte führen würden.
Als zweites wäre der Verfassungsrahmen künftiger Hochschulen festzulegen und die Zeit zu definieren, in der die Hochschulen ihre zukünftige Struktur erarbeiten müssen. Während dieser Zeit ist dafür zu sorgen, dass Staatsprüfungen nicht mehr an Hochschulen abgelegt werden, sondern nur als Eingangsprüfungen vorgesehen werden für solche Absolventen von Hochschulen, die beim Staat (zum Beispiel im diplomatischen Dienst oder als Richter) in den Dienst treten wollen. Die Berufsgruppen oder ihre Verbände, zum Beispiel Ärzte und Rechtsanwälte, können ihre eigenen Zugangsprüfungen entwickeln. In einer Zwischenzeit könnten die staatlichen Prüfungen während des Studiums zum Beispiel in der Medizin ersatzlos entfallen und nur noch eine Prüfung am Ende des Studiums für die Übergangszeit erhalten bleiben.
Nach der Übergangszeit sollten viele Institutionen die Möglichkeit haben, die Ausbildung anzubieten, die sie leisten können. Dadurch würde das Bild außerordentlich vielgestaltig werden, und es würde diese Differenzierung dazu führen, dass die unterrichtenden Institutionen und die eine Ausbildung suchenden Menschen in ein durchaus freies gegenseitiges Verhältnis treten.