Recht auf Arbeit versus Arbeitszwang

01.11.1999

In einem Leserbrief an Info3 spricht sich Sven Lauritzen für ein "Recht auf Arbeit" und sieht darin eine Forderung der sozialen Dreigliederung. "Recht auf Arbeit" und Arbeitswang laufen aber auf dasselbe hinaus: Sie lenken beide von der wirtschaftlichen Aufgabe ab, die Produktion an die Konsumbedürfnisse anzupassen (GA 188, S. 198-201, 1967):

Nach dem, was ich hier eben schon ausgesprochen habe, darf niemals das Bedürfnis durch einen sozialen Eigenprozeß, durch einen wirtschaftlichen Eigenprozeß erzeugt werden, sondern das Bedürfnis muß gerade von außen herein entwickelt werden durch einen andern, sei es durch einen ethischen oder einen andern Kulturprozeß. (...)
Das entsprechende Bedürfnis kann bestimmen, daß eine Ware, auf die sehr viele Arbeit aufgewendet wird, unter Umständen billig sein muß, das Bedürfnis kann bestimmen im gesunden volkswirtschaftlichen Prozesse, daß eine Arbeit, auf die wenig Arbeit aufgewendet werden muß, vielleicht sogar teurer ist; die aufgewendete Arbeit kann nicht entscheidend sein. Das ergibt sich aus der heutigen Auseinandersetzung. Daher ergibt sich für den, der diese Dinge durchschaut, die radikale Forderung, den Impuls zum menschlichen Arbeiten von ganz anderer Seite her zu holen als von dem volkswirtschaftlichen Wert der Ware, der eben bestimmt wird durch das angedeutete Spannungsverhältnis.
Der allein, der diese Dinge durchschaut, kann dann entscheiden über die zwei wichtigen heute sozial vorliegenden Fragen: Arbeitszwang, Zwang zur Arbeit, wie die Bolschewisten es wollen, oder Recht auf Arbeit, wie man es auch nenne. Derjenige aber, der nicht in solchen Tiefen schürft, auf welche wir heute hingedeutet haben, der wird immer nur konfuses, törichtes Zeug reden, gleichgültig ob er auf irgendeinem Posten oder zu irgendeinem Zwecke von Arbeitsrecht oder Arbeitszwang redet.

Den Sinn der Arbeit sieht Sven Lauritzen - anders als Steiner - eher in der freien Entfaltung der eigenen Persönlichkeit, der Selbstverwirklichung. Gerade deswegen besteht er auf ein Recht auf Arbeit. Bei der Arbeit geht es aber um die Entfaltung der fremden Persönlichkeit, durch die Befriedigung ihrer Bedürfnisse.

Steiner hat sich, so viel ich es sehen kann, nie für ein Recht auf Arbeit ausgesprochen, sondern nur dagegen (wie bei der oben angegebenen Stelle). Stattdessen setzt er sich dafür ein, die Arbeitszeit als eine rechtliche Frage zu behandeln. Dies klingt ähnlich. Daher auch vielleicht die Verwechslung von Sven Lauritzen. Die Umsetzung sieht aber ganz anders aus. Im ersten der von Ammon Reuveni besprochenen beiden neuen Bände der Gesamtausgabe Steiners gibt es dazu eine sehr interessante Stelle. Dort macht Steiner den Unterschied zwischen sozialer Dreigliederung und Arbeitszwang deutlich (GA 337a, S.79, 30.05.1919, 1. Auflage 1999):

Auf die Frage: Ist Arbeitszwang in Aussicht genommen?
Nun, sehr verehrte Anwesende, wer in den Geist meines Buches Die Kernpunkte der Sozialen Frage eindringt, der wird sehen, daß dasjenige, was nun wirklich jedem einigermaßen menschlich denkenden Menschen - das sage ich hier ganz unverblümt - als das Scheußlichste erscheinen muß, ein bürokratisch angeordneter Arbeitszwang, daß der in der Zukunft [in einem dreigegliederten sozialen Organismus] wegfallen kann. Natürlich ist ja jeder aus den sozialen Verhältnissen heraus gezwungen zu arbeiten, und man hat nur die Wahl, entweder zu verhungern oder zu arbeiten. Einen anderen Arbeitszwang als den, der sich auf diese Weise aus den Verhältnissen ergibt, kann es nicht geben [in einer sozialen Ordnung], in der doch die Freiheit des menschlichen Wesens eine Grundbedingung ist.

Sylvain Coiplet