Rechtschreibreform - Für mehr kreativen Ungehorsam

01.10.2004

Die unglückselige Rechtschreibreform, die vor einigen Jahren von der Kultusverwaltung angeordnet wurde und im kommenden Jahr für Alle verbindlich werden soll, trifft auf zunehmenden Widerstand. Anfängliche Proteste von vielen Seiten waren zunächst einfach beiseite gewischt worden; jetzt zeigt sich, dass der Widerstand stärker zu werden scheint. So kündigten das Wochenmagazin Der Spiegel, das Boulevardblatt Bild und die Süddeutsche Zeitung an, zur früheren Rechtschreibung zurückzukehren und damit dem Vorbild der FrankfurterAllgemeine zu folgen, die bereits kurz nach den eigenwilligen Beschlüssen der Kultusminister ihre Verweigerung beschlossen hatte. In der Tat steht eigentlich eine breite Front der pauschalen Neueinführung kritisch bis ablehnend gegenüber, zu denen vor allem die meisten deutschen Schriftsteller gehören. Stellvertretend für sie sei der bekannte Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki genannt, der kürzlich die Neuerungen zusammenfassend "eine Katastrophe" nannte. Viele deutsche Verlage bleiben ohnehin bei den alten Regeln oder modifizieren die Reform. Vom Schulbuchverlag Klett war zu hören, dass er seine sämtlichen anderen Titel, die nicht zum Schulbuchbereich gehören, nach den Regeln der alten Rechtschreibung veröffentlicht.

In der Tat gibt es durchaus berechtigte Kritik an manchen der Neuerungen. Wenn man Jemanden in den "wohl verdienten Ruhestand verabschiedet, wird er sich über diese deutliche Skepsis weniger freuen, als wenn ihm mit voller Anerkennung der wohlverdiente Ruhestand bescheinigt wird. Mit ihrem ,,Kammmacher" und ihrer ,,Schifffahrt" bewiesen die Schreibreformer, dass sie auch vor dem Unästhetischen im Schriftbild nicht zurückscheuten. Und dass sinnvollerweise der "Große Teich" neuerdings auch beim Adjektiv großgeschrieben wird (wohlgemerkt: nicht "groß geschrieben", also besonders raumgreifend), gleichzeitig aber der berühmte Letzte Wille" in Zukunft mit kleingeschriebenem "letzte" nicht mehr als Benennung in namensähnlichem Sinne gelten soll, das gehört zu den schwer nachvollziehbaren Mysterien dieser expertokratischen Reform; der tatsächlich "letzte" Wille war ja nach dem Schreiben des Testaments vielleicht noch: "Mehr Licht!" oder Ähnliches.

Da es auch einige sinnvolle Neuerungen bei dieser Reform gegeben hat, gesteht der Autor dieses Berichtes, Germanist und ehemaliger Deutschlehrer, dass er die angebotene einstweilige Freiheit genutzt hat und sich aus beiden Versionen jeweils das ihn am meisten Überzeugende herausgesucht hat. Das hat ihn auf den Geschmack der Freiheit in der Schreibung des sprachlichen Ausdrucks gebracht. Ein gewachsenes Bewusstsein bei der Gestaltung des schriftlichen Sprachausdrucks war die Folge. Was könnte sich ein Liebhaber der Sprache, also ein "Philologe", Besseres wünschen?! Er möchte jetzt nicht mehr zurück in die Bevormundung durch ein von Experten ausgedachtes teilweise willkürlich wirkendes Schriftkorsett. Wenn sogar die Schriftsteller übergangen werden, also diejenigen, die am sensibelsten mit der schriftlichen Form der Sprache umgehen und die in ihrer überwiegenden Mehrheit die neue Rechtschreibung ablehnen, mit welchem Recht maßen sich dann sogenannte Experten und Kulturfunktionäre an, darüber Beschlüsse zu fassen, wie alle Anderen zu schreiben haben. Verrät sich hier nicht eine überschießende Regelungswut? Sollten die Grammatiken und Rechtschreib-Wörterbücher nicht umgewandelt werden zu Empfehlungen und Anregungen für die Schreibbewussten und zu Leitfäden für die Verunsicherten? Wozu brauchen wir dann noch sprachliche Vorschriften? Oder soll demnächst die "falsche" Schreibung unter Strafandrohung gestellt werden? Unser Mitgefühl gilt der jeweiligen Lehrer- und Schülergeneration, die hier zu Geiseln der Kulturverwaltung gemacht wurde. Immerhin sei daran erinnert, dass es zur Zeit der deutschen Klassik und Romantik, also in der Zeit, in der die deutsche Sprache und Kultur am allermeisten weltweite Beachtung fand, weder eine von irgendeiner Duden-Redaktion, noch von einer Kultusministerkonferenz festgelegte Rechtschreibung gab. Hat Goethe sich nach dem Duden gerichtet? Nein: Wenn, dann eher umgekehrt! Es gab nur Vorbilder, aber keine Vorschriften!

Wer liest nicht heute noch mit größtem Vergnügen die kreative Rechtschreibung von Frau Aja Textor Goethe, der Mutter des Weltberühmten. Hat ihre originelle Schreibung den kleinen Wolfgang in seiner Sprachentwicklung behindert? Oder in seiner sprachlichen Genialität eher gefördert? Überlassen wir die Antwort der Phantasie! So weit wie Aja Textor brauchen wir ja gar nicht zu gehen. Aber: Ob uns Deutschen nicht etwas mehr kreative Individualität und etwas weniger Autoritätsgläubigkeit guttäte?! Gerade auch bei der Gestaltung unserer Schreibung, bei der wir den individuellen Ungehorsam und die sprachlich einfühlsame Autonomie täglich einüben können?! Auch ein wenig mehr gegenseitige Fehlertoleranz würde uns eher guttun, etwa bei der gegenseitigen Anerkennung der kreativen Schreibung des jeweils Anderen.

Das Volk insgesamt jedenfalls wurde nicht gefragt. Noch heute lehnt die Mehrheit der Deutschen die neue Rechtschreibung ab. Und das einzige Mal, als das Volk darüber abstimmen durfte, nämlich beim damaligen Volksentscheid in Schleswig-Holstein, da gab es eine klare Ablehnung der neuen Rechtschreibung. Mögen also die expertokratischen Beschlussfasser doch beschließen, was sie wollen.

Stellt Euch einfach vor, es gibt eine neue Rechtschreibung und keiner macht mit!


Quelle: Novalis 10/2004, mit freundlicher Genehmigung des Herausgebers.