Wohin führt das Kopftuchverbot ?

01.12.2004

In Deutschland ist seit 1998 ausgerechnet eine katholische Kultusministerin, Annette Schavan, als Vorreiterin eines Kopftuchverbotes an staatlichen Schulen in die Schlagzeilen geraten. Während es ihr in Baden-Württemberg erstmals nur um ein Kopftuchverbot für Lehrerinnen geht, verlangt der rechtspolitische Sprecher der CDU im Berliner Abgeordnetenhaus, Michael Braun, auch ein Kopftuchverbot für Schülerinnen.

Im September 2003 wurde Annette Schavan vom Bundesverfassungsgericht darauf hingewiesen, daß Religionen vor dem Gesetz gleich zu sein haben. Religiöse Symbole an staatlichen Schulen zu verbieten, sei nicht verboten, wenn es nur alle Religionen treffe. Das Gericht hielt es aber für geboten zu erwähnen, daß sich Gründe dafür anführen liessen, "die zunehmende religiöse Vielfalt in der Schule aufzunehmen und als Mittel für die Einübung von gegenseitiger Toleranz zu nutzen, um so einen Beitrag in dem Bemühen um Integration zu leisten."

Dies hinderte Annette Schavan nicht daran, im April 2004 ein Kopftuchverbotsgesetz in die Wege zu leiten und das christliche Kopftuch, die Nonnenkutte, davon auszunehmen, mit der Begründung, es handle sich dabei um eine Berufskleidung. Im Gesetz wurden solche Details wohlweislich ausgelassen, in der Hoffnung diesmal vor dem Bundesverfassungsgericht bestehen zu können. Es gehe doch nur um das Neutralitätsgebot der Staatsschulen. Nachdem aber jetzt am 12. Oktober 2004 die Lehrerin Fereshta Ludin aus persönlichen Gründen darauf verzichtet hat, weiter gegen das baden-württembergische Kopftuchverbot zu klagen, wird es möglicherweise gar nicht mehr zu einer solchen Prüfung kommen. Inzwischen rollt eine Welle von mehr oder weniger weitgehenden Kopftuchverbotsgesetzen über Deutschland - in Berlin sogar unter dem Deckmantel eines Antidiskriminierungsgesetzes.

Manche sprechen jetzt von einem Ende des Kopftuchstreites. Tatsache ist, daß der Widerstand gegen ein Verbot gebrochen scheint. Die Entrüstung weiter Teile der Öffentlichkeit über diesen Widerstand hat sich gelegt. Vielleicht ist es Zeit, von den aufgebauten Feindbildern wegzukommen, und zu prüfen, ob wir uns mit einem solchen Verbot nicht nur unglaubwürdig machen, sondern uns sogar auch noch selber verraten.

Kopftuchverbot und Kopftuchzwang

Das Christentum pauschal für die Verlogenheit einer Annette Schavan verantwortlich zu machen, ist wohl genauso verkehrt, wie den Islam mit Fundamentalismus und Terrorismus gleichzusetzen. Es gibt eben auch ehrliche Christen, wie die katholischen Nonnen, die ihre Kleidung als religiöses Bekenntnis verstanden wissen wollen, egal was es ihnen kostet. Und es gibt - quer durch alle Richtungen des Islams - Muslime, die für einen Gottesstaat nichts übrig haben. Es ist aber schon so, daß es auf beiden Seiten Prediger der Intoleranz gibt, die sich gegenseitig in die Hände spielen.

Der staatlich verordnete Kopftuchzwang in manchen muslimischen Ländern macht daraus ein Symbol der Unterdrückung der Frauen. Daß die Propaganda für das Kopftuch in anderen Ländern zum Teil durch Einnahmen Saudi-Arabiens aus dem Erdölgeschäft finanziert wird, macht es nicht schmackhafter. Nicht wenige Frauenbewegte verfallen dann mit Alice Schwarzer der Illusion, daß ein Verbot dieses Symbols zur Befreiung muslimischer Frauen in Deutschland beitragen könnte. Anders ist die überwältigende Mehrheit für ein Kopftuchverbot in der deutschen Bevölkerung nicht zu erklären.

Umgekehrt nutzt der Scheich der Azhar, die höchste Lehrautorität des sunnitischen Islams, das französische Kopftuchverbot aus, um jede Kritik am staatlichen Kopftuchzwang in muslimischen Ländern zurückweisen zu können. "Muslimische Frauen sind dazu verpflichtet, die Gesetze des nichtmuslimischen Landes zu befolgen, denn sie sind in diesem Fall gesetzlich dazu gezwungen. Ebenso erlaube ich Nichtmuslimen nicht, sich in meine muslimischen Angelegenheiten einzumischen, wie ich mir auch nicht erlaube, mich in die Angelegenheiten der anderen einzumischen". Bei einem solchen Handel sind die Frauen die Leidtragenden.

Kopftuchzwang und Kopftuchverbot schaukeln sich gegenseitig hoch. Was wir brauchen, ist eine Strategie der Deeskalation, ein ernsthaftes Interesse an der Selbstbestimmung der Frauen. Was ist zu tun, damit jede Frau möglichst selbst darüber entscheidet, ob sie ein Kopftuch tragen will oder nicht?

Diese Frage scheint sich Alice Schwarzer gar nicht zu stellen. Wie könnte sie sich sonst auf den Imam der Großen Pariser Moschee berufen, der den Schleier in französischen Schulen mit der Begründung ablehnt, daß er "das Anderssein betont und die Integration behindert"? Mit demselben Argument läßt sich doch ein Kopftuchzwang in muslimischen Ländern rechtfertigen.

Staat macht Schule

Es ist eigentlich nicht so lange her, daß die europäischen Staaten die Kontrolle über das Erziehungswesen übernommen haben. Bis ins 19. Jahrhundert hinein waren die Kirchen dafür zuständig und konnten ungehindert ihre Werte in die jungen Seelen einpflanzen. Und diese Werten glichen mehr denjenigen heutiger islamischen Fundamentalisten als derjenigen unserer demokratisch-freiheitlichen Grundordnung. Wenn das staatliche Schulwesen uns damals geholfen hat, den christlichen Fundamentalismus loszuwerden, warum sollte er uns nicht heute vor dem islamischen Fundamentalismus schützen können - zum Beispiel durch ein Kopftuchverbot?

Das staatliche Schulsystem hat inzwischen etwas mit uns gemacht. Die Menschen denken selbständiger - oder haben wenigstens den Anspruch, selbständiger zu denken. Wir sind nicht mehr die armen Christen, die gegen unseren Willen befreit werden müssen. Wir sind vielmehr Menschen, die uns nun vom staatlichen Schulwesen befreien müssen, wenn wir diese gewonnene Freiheit konsequent ausbauen wollen. Wir sind durch die Staatsschule über die Staatsschule hinaus gewachsen. Wir können nicht auf ein Problem von vorgestern wie das Kopftuch mit einer Lösung von gestern antworten. Lehrer sollen endlich über sich selbst bestimmen können, über Inhalte und Methoden ihrer Pädagogik. Sonst stehen sie vor den Kindern wie das eine Mädchen, das nur deswegen ein Kopftuch trägt, weil ihr Vater es befohlen hat. Nur daß es sich bei den Lehrern um den Vater Staat und seine Lehrpläne handelt. Wie sollen sie dem Mädchen aus seiner Bevormundung helfen, wenn sie sich nicht einmal selber helfen können?

Der Staat liegt wie ein Schleier über dem Schulwesen und verstrickt es in unlösbare Widersprüche. Einige versuchen das Dilemma dadurch zu lösen, daß sie eine strikte Trennung von Staat und Kirche ablehnen. So heißt es bei Johannes Rau, ein prominenter Gegner des Kopftuchverbots: "Ich befürchte nämlich, daß ein Kopftuchverbot der erste Schritt in einen laizistischen Staat ist." Nicht der laizistische Staat ist aber das Problem, sondern die laizistische, neutrale und möglichst keimfreie Schule. Mancher Gegner eines Kopftuchverbots mag natürlich nicht so weit gehen, eine Trennung von Staat und Schule zu verlangen. Er will einfach Toleranz auch an staatlichen Schulen und nicht nur in den wenigen freien Schulen. Ihm ist meistens der Gedanke fremd, daß die Staatsschule nur eine Zwischenlösung auf den Weg zur Toleranz sein konnte, inzwischen aber daran hindert, weiter in diese Richtung zu kommen. Auch bei dem deutschen Grundgesetz und den Richtern des Verfassungsgerichts sucht man vergeblich nach einer solchen Einsicht.

Echte Staatsschulen können mit dem Kopftuch nichts anfangen. Es sei denn, der Staat ist - wie in Schweden - nur noch formal Träger der Schulen, hält sich aber weitgehend zurück. Da gibt es keinen Grund mehr, wie nun in Baden-Württemberg den Lehrern in den Schulen jede "politische, religiöse und weltanschauliche Bekundung" zu verbieten, weil es jedem klar ist, daß solche Bekundungen nicht vom Staat, sondern vom einzelnen Lehrer ausgehen und zu seiner Individualität gehören. In Schweden entscheiden keine Kultusminister, sondern die Schulen selber, welche Lehrer sie einstellen. Eltern, die Probleme damit haben sollten, daß eine Lehrerin ein Kopftuch trägt, könnten sich eine andere Schule aussuchen. Dies gilt wohlgesagt auch für die Staatsschulen - die aber eigentlich keine sind. Das Ergebnis: In Schweden gibt es bisher kein Kopftuchproblem.

Gerade das Gegenteil kann man in der Türkei beobachten, wo das Kopftuch inzwischen von Staats wegen sogar an freien Schulen verboten ist. Dort hilft nur noch das Auswandern. Der dadurch schwelende Konflikt hat mit dazu beigetragen, daß jetzt eine islamische Partei an der Macht sitzt und versucht, sie für eigene Zwecke zu nutzen. Die beiden Töchter des islamischen Ministerpräsidenten Erdogan studieren aber erst einmal weiter in den USA.

Jetzt wo die deutschen Kopftuchverbote juristisch kaum mehr zu stoppen sind und es - trotz der Pisa-Pleite - kein Anzeichen gibt, daß die deutschen Kultusminister von Schweden lernen wollen, ist es wohl an den freien Schulen zu zeigen, wie weit sie es mit der Toleranz gebracht haben. Hoffentlich zeigen die Waldorfschulen angesichts der angespannten Situation etwas Fingergefühl und behaupten nicht - wie einmal schon geschehen - gegenüber Moslems, welche die Waldorfpädagogik z.B. durch Sekem in Ägypten kennengelernt haben und jetzt ihre Tochter in eine Berliner Waldorfschule anmelden wollen, die Waldorfschulen seien christliche Schulen. Die Waldorfschulen wurden vor Jahrzehnten vor allem dazu gegründet, um das dreigliedrige Schulsystem durch eine menschengemäße Pädagogik zu überwinden. Dieselbe Pädagogik eignet sich, um die Grabenkämpfe zwischen Kulturen und Religionen zu überwinden.

Sich selbsterfüllende Prophetie

Der Staat macht in Deutschland noch in einem anderen, weiteren Sinne Schule. Seit der Debatte um ein Kopftuchverbot mehren sich in der privaten Wirtschaft die Stellenanzeigen mit dem Zusatz "nur ohne Kopftuch". Das hat zum einen natürlich damit zu tun, daß das Kopftuch - nicht selten wider besserem Wissen - immer wieder mit Fundamentalismus gleichgesetzt wird. Es liegt aber zum anderen auch daran, daß der Staat in Deutschland oft eine Leitbildfunktion inne hat. Es geht also nicht nur um den Lehrerberuf.

Wer nicht nur über das Kopftuch redet, sondern auch mit Frauen redet, die ein Kopftuch tragen, erfährt bald, was diese Entwicklung für sie bedeutet. Dies geht bis in die Berufswünsche. Mädchen rechnen schon nicht mehr damit, irgendwo angestellt zu werden, sondern meinen, daß sie nur eine Chance haben, eine Arbeit zu finden, wenn sie sich selbständig machen. Wer später z.B. Psychologie studieren will, ist schon darauf eingestellt, dann eine eigene Praxis gründen zu müssen. Manche trauen sich aber einen solchen Kraftakt nicht zu und blicken resigniert in die Zukunft.

Als ich mich bei der letzten Kundgebung gegen ein Kopftuchverbot im Berliner öffentlichen Dienst wunderte, wie wenig Frauen anwesend waren, bekam ich von ihnen eine nachvollziehbare und zugleich erschreckende Antwort. Die meisten, die angesprochen worden waren, hatten eine Teilnahme damit abgelehnt, daß sie sowieso nur Hausfrauen und daher nicht betroffen seien. Mir wurde klar, mit welchem Teufelskreis wir hier zu tun haben. Ein Gesetz, das mit dem Anspruch antritt, die Unterdrückung der Frauen durch den islamischen Fundamentalismus zu bekämpfen, liefert die Frauen genau diesem Fundamentalismus aus, indem er ihnen immer mehr Zukunftsperspektiven außerhalb der religiös überkommenen Rollenbilder verbaut.

In den letzten Jahren ist es in Deutschland immer öfters vorgekommen, daß sich Frauen ihr Kopftuch neu erfunden haben. Dies liegt daran, daß der Islam hier im Unterschied zum Christentum in der Minderheit steht. Wer sich trotzdem dazu bekennt, ist wenigstens kein Mitläufer. Das Kopftuch konnte so zum Symbol der Selbstbehauptung umgedeutet werden. Wer das nicht anerkennt und das Kopftuch pauschal mit Tradition verbindet, wird es erst recht zum Symbol der individuellen Freiheit machen. Nur daß die Realität immer weniger mit dem Symbol zu tun haben wird.

Sylvain Coiplet


Quelle: Die Drei 12/2004, unter dem Titel Muslime und säkularer Staat - Ist ein Ende des Streites um das Kopftuch in Sicht, vom Autor genehmigter und überarbeiteter Nachdruck