Die soziale Dreigliederung arbeitet in den Tatsachen

01.06.2005

Die drei Funktionssysteme einer lebendigen, von allen gestalteten Gesellschaft

Aus dem französischen Aufbruch von 1789 zur Selbstgestaltung unserer Gesellschaft sind drei politische Hauptströmungen hervorgegangen: der Liberalismus zur Befreiung des Individuums, die Demokratie zur Schaffung der Rechtsgleichheit für alle und der Sozialismus zur solidarischen Befriedigung lebensnotwendiger Bedürfnisse. Aus dem großen Entwurf von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit sind aber bis heute nur drei Karikaturen erwachsen: Kapitalismus, Faschismus und Kommunismus, weil immer „Einheits- lösungen“ aus nur einem, höchstens zweien dieser Gesichtspunkte angestrebt wurden. Zwei Jahrhunderte extremer Experimente objektivierten seither unsere Urteilsbildung: Immer häufiger gliedern Soziologen die Gesellschaft in drei große Funktionssysteme: Kultur (oder Zivilgesellschaft), Staat (bzw. das Rechtssystem) und Wirtschaft, deren Über- oder Unterfunktion klar erkennbare Pathologien verursachen (C.Offe). N. Luhmann beobachtete, dass entwickelte Gesellschaften ganz eigenständige „selbstreferentielle Systeme“ ausbilden, die sich selber erzeugen und am Leben erhalten, da sie nicht mehr von einem zentralen Einheitsstaat abhängen. Schon von W. v. Humboldt forderte 1792, dass Erziehung und alle Fragen der kulturellen und ökonomischen Lebensgestaltung nicht vom Staat bestimmt werden dürfen.

Die konsequenteste Verselbstständigung der drei Funktionsbereiche zur Gesundung der Gesellschaft prognostizierte R. Steiner 1919 mit der Dreigliederung des sozialen Organismus.

So unabhängig sollten die Lenkungen von Kultur, Staat und Wirtschaft von einander werden wie souveräne Staaten, gerade weil sie sich im gesellschaftlichen Leben überall begegnen und durchdringen. Ihre Einheit liegt weder in der Religion noch im Einheitsstaat noch in der New Yorker Börse, sondern in jedem urteilenden und handelnden Individuum, das an allen drei Funktionen teilhat. In dem Maße, in dem diese Funktionssysteme Selbstständigkeit und Gleichgewichtigkeit gewinnen, können sie ihrem Eigengesetz gerecht werden: Kultur und Erziehung der Freiheit, Staat und Rechtsleben der Gleichheit, das Wirtschaftsleben eines solidarischen Weltmarktes der Brüderlichkeit. Die offensichtliche Widersprüchlichkeit der drei Ideale bewirkt nur solange Lähmung oder Zerstörung, wie man sie im Einheitsstaat zwangsverkuppelt.

Freiheit im Geistesleben

Dass Freiheit zum Kernimpuls des geistigen Lebens gehört, zeigt sich schon historisch an den sieben freien Künsten, der „Freiheit von Lehre und Forschung“ wie an Humboldts Forderung, alle Erziehung und Ausbildung von der notwendigerweise gleichmachenden Tendenz staatlicher Verwaltung zu trennen. Jeder Künstler, Erfinder oder Forscher weiß das aus eigener Erfahrung. Die Pädagogik aber leidet bis heute an ihrer Gängelung durch die Schulbürokratie. Die Erklärung der Menschenrechte schützte den Bürger vor staatlichen Übergriffen – die Kinder noch nicht! Als Steiner 1919 die Waldorfschule gründete, wurde sie weder als staatliche noch als „private Eliteschule“ konstituiert, sondern als erste öffentliche Einheits- oder Gesamtschule in freier Trägerschaft. Warum wollen heute nach dem Pisaschock 20 % der Eltern ihre Kinder auf freie Schulen schicken? Link: www.effe-eu.org

Im Erwachsenenbereich zeigen die neuen sozialen Bewegungen seit 1968 weltweit, dass die klassischen Motive von Profit und Machterhalt nicht mehr in der Lage sind, die komplexen Probleme moderner Gesellschaften zu lösen. Überall entstanden Bürgerinitiativen, die lokal, national oder international vernachlässigte Aufgaben in Angriff nahmen, einzelne mit Millionen von Mitgliedern und Etats, welche die Fachabteilungen der UN übersteigen. Der philippinische Landwirt und Bürgerrechtler N. Perlas nennt diese erwachende Zivilgesellschaft, die sich in den NGO’s (Non Gouvernemental Organisations ) artikuliert, die dritte globale Macht. Ihre Stärke wird davon abhängen, wie weit sie sich als Kulturbewegung ihrer grundsätzlichen Unabhängigkeit von Staat und Wirtschaft bewusst wird. Da unabhängige Urteilsbildung Ausgangspunkt aller gesellschaftlichen Veränderungen ist, liegt in dem befreiten Geistesleben die Quelle jeglicher Erneuerung .

Gleichheit im Rechtsleben

Unsere Rechte entwickeln sich aus den Beziehungen von Mensch zu Mensch, wie sie sich im Zusammenleben herausbilden. Alles geschriebene Recht vom Verein bis zur Verfassung stellt nur komplexere Ausformungen dieses Zusammenwirkens dar.

Die Gleich-Gültigkeit der Rechtsnormen unabhängig vom Ansehen der Person lebt als Gefühl spontan bei jeder Verletzung durch das sog. „ Recht des Stärkeren“ und ist als Grundsatz in allen Rechtsstaaten anerkannt. Dennoch steht die Rechtsgleichheit im täglichen Kampf mit der Lebenswirklichkeit und wird damit zum Prüfstein der Demokratie. Wenn wirtschaftlich oder politisch Mächtige durch Lobbyismus ihre Interessen in der Gesetzgebung durchsetzen, verliert das Recht seine Legitimität und erzeugt bei den Unterdrückten Unruhe bis hin zum Umsturz. Die Rechtsautorität kann also zerfallen, wie in unregierbaren Staaten, oder in Diktatur ausarten. Humboldts kritische Frage – wo soll der Staat regulieren, wo führt das zu Fehlentwicklungen? – ist heute wieder höchst aktuell und umstritten: Aus unternehmerischen Einrichtungen zieht er sich durch Privatisierung zurück, um Haushaltslöcher zu stopfen, sogar aus der Grundversorgung. Die Rechtschreibreform zeigt , dass sein Eingriff ins Geistesleben wenig Durchsetzungskraft hat, aber erhebliche Wirtschaftsschäden verursacht. (FAZ, Spiegel und Springer müssen sich nicht beugen, aber Lehrer und Schüler!) Der Berliner Bankenskandal, der seine Bürger täglich enteignet, kann allen vor Augen führen, dass die strikte Trennung politischer und wirtschaftlicher Mandate überlebensnotwendig wird. Liegt hier nicht ein völliges Versagen unseres Rechtssystems vor? Welches Gesetz stellt solche Kriminalität unter Strafe?

Ein demokratischer Urinstinkt hat aus der alten Erfahrung, dass Herrschende tendenziell etwas außerhalb der Gesetze stehen, die direkte Demokratie eingeführt, nicht zum Ersatz, aber zur Kontrolle der Parlamente, Er-Volkskontrolle sozusagen. Zeigt sich das Abheben der politischen Klasse von ihren Pflichten nicht unübersehbar in der überdimensionalen Staatsverschuldung? Jeder Privat- und Unternehmenshaushalt muss mit dem Geld auskommen, das er hat, und für Schulden den Kreditgeber fragen. Wie schnell wären unsere Staatshaushalte saniert, wenn zukünftig Schulden über eine Minimalgrenze hinaus nur noch durch Volksbefragung möglich wären?

Solidarität im Wirtschaftsleben

Sicher ist es eine Zumutung, sich von 200 Jahre alten Vorurteilen zu lösen und von einer Wirtschaft des Egoismus zu einer der Brüderlichkeit umzudenken. Hat aber die sog. „Marktwirtschaft“ mit tausend Entlassungen täglich allein in Deutschland ihren Höhepunkt nicht längst überschritten? In der arbeitsteiligen Weltwirtschaft arbeitet jeder für jeden um Bedürfnisse zu befriedigen, der Egoismus des Geldsystems aber konzentriert das Kapital in wenigen Händen und zerstört mit sinkendem Masseneinkommen seine eigene Geschäftsgrundlage. Friedensforscher Galtung schlug schon vor, pro 1000 Arbeitslosen immer einen Ökonomieprofessor „freizusetzen“, damit der Aberglaube sich nicht ewig fortpflanzt. Gegen den menschenverachtenden, naturzerstörenden System-Egoisms haben seit Jahrzehnten Non- Profit-Unternehmen, Fair Trade Organisationen und Umweltverbände Weichenstellungen eingeleitet, die 1999 in Seattle zum ersten globalen Paukenschlag ausholten. Link: www.transfair.org Seitdem wird jeder Weltwirtschaftsgipfel vom Weltsozialforum der Globalisierungskritiker kontrastiert. BMW-Chef Milberg mahnte, dass Aktien-Gesellschaften nicht nur Aktionären, sondern auch Gesellschaft und Umwelt zu dienen haben und nachhaltig geführte Unternehmen sogar die besseren Kurse verzeichnen.

Die Ökonomie der Dreigliederung baut auf Assoziationen, in denen die Wirtschaftspartner vom Konsumenten über den Händler bis zum Produzenten sich zusammenschließen, um einen gerechten Preis und eine gerechte Arbeitsverteilung aus bewusstem Handeln zu ermitteln. Das Kapital, das aus der Summe der geleisteten Arbeit hervorgeht, hat diesem Prozess zu dienen. Es entsteht durch die individuellen Fähigkeiten aller Produzenten in einem Gesamtprozess und muss in diesen zurückgeführt werden, wenn die Produktionsleiter ihre Funktionen nicht mehr wahrnehmen. Der Ägypter Abouleish hat für die praktische Umsetzung dieser „Wirtschaft der Liebe“, die den Kunden, Produzenten und Händlern dient, nicht nur den alternativen Nobelpreis erhalten, sondern die zweite Einladung zum Weltwirtschaftsforum in Davos, weil selbst dort die Notwendigkeit umzudenken erkannt wurde.( I.Abouleish, Die Sekem-Vision, Stuttg. Berlin 2004) Experimente mit alternativen Lokalwährungen beginnen inzwischen an vielen Orten der Bundesrepublik.

Eine Frage steht immer noch wie einst die Sphinx vor dem modernen Menschen: Fühlen wir uns eher als Objekte (dann sollten wir uns als Untertanen mehr oder weniger wohl fühlen!) oder als Subjekte der Geschichte? Dann sollten wir den großen Freiheitsbau der Gesellschaft (Schiller) zu dem unsrigen machen!

Die Dreigliederung ist – wie man aus dem Zeitgeschehen vielleicht ahnen kann – längst unterwegs. Sie arbeitet seit 1789 in den Tatsachen. Sie zu erkennen und daran mitzuarbeiten, sehen wir als unsere Aufgabe. Wenn sie Interesse an dieser Arbeit haben , sind Sie herzlich eingeladen.