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Wie kann die Menschenarbeit ihre Bestimmung finden?
Jeder Mensch hat ein tiefes Bedürfnis, in seinem Leben an die Stelle zu kommen, an der er wirklich gebraucht wird, an der er seine Fähigkeiten am besten zum Wohl der Menschheit entfalten kann. Umgekehrt ist die Menschheit mit fortschreitender Arbeitsteilung mehr und mehr davon abhängig, dass jeder Einzelne tatsächlich an dem Platz ist, an dem er seine Fähigkeiten am besten auf die Befriedigung der Bedürfnisse seiner Mitmenschen verwenden kann. Dem Wirtschaftsleben fehlt jedoch eine Einrichtung, welche die Arbeit ihrer Bestimmung zuführen könnte. Der Bildung einer solchen Einrichtung steht im Weg, dass das Bewusstsein des Menschen in einer Dialektik gefangen ist, durch die das Wirtschaftsleben ins Unbewusste gedrängt wird. Diese Dialektik soll im Folgenden analysiert und dann durchbrochen werden, um das Idealbild der gesuchten Einrichtung sichtbar zu machen.
Der dritte Weg
Anfang des 20. Jahrhunderts suchten führende Wirtschaftswissenschaftler aus Deutschland und Österreich einen »dritten Weg« zwischen Sozialismus und Kapitalismus. Zwei unterschiedliche Erfahrungen gaben dafür den Anlass: Einerseits verfolgte man mit Schrecken die Entstehung des totalitären Staates in Russland. Andererseits hatte man zu spüren bekommen, dass eine reine Marktwirtschaft nicht geeignet war, einen »Wohlstand der Nationen« herbeizuführen. In der Freiburger und Österreicher Schule wollte man deshalb eine ganz neue Form für das Zusammenwirken von Staat und Wirtschaft finden, in der sich das vermeintlich Beste von beiden geltend machen sollte: Die Wirtschaft sollte weiterhin auf dem freien Spiel der »Marktkräfte« beruhen. Gleichzeitig sollte aber der Staat die Wirtschaft sozialisieren, indem er zum Beispiel für gleiche »Startbedingungen« der Markteilnehmer sorgte oder Kartellbildungen verhinderte. Diesen »dritten Weg« bezeichnete man als »Neoliberalismus«. Die Begründer des Neoliberalismus sind Walter Eucken, Alexander Rüstow, Franz Böhm, Alfred Müller-Armack u.a., also die späteren Gründer der sozialen Marktwirtschaft in Deutschland. Diese Menschen erlebten auch den Zerfall der Weimarer Republik und den Aufstieg der NSDAP. Sie erklärten diesen Prozess als Folge eines ungezügelten Wirtschaftsliberalismus. Die Wirtschaft habe über das Parlament Einfluss auf den Staat genommen, dadurch sei, so Walter Eucken, »ein staatlich gebundener Kapitalismus entstanden, der einer brauchbaren Steuerung entbehrt«.[1] Alexander Rüstow, der das Wort »Neoliberalismus« prägte, führt in seinem Buch »Die Religion der Marktwirtschaft«[2] aus, wie die Schwächung des Staates durch das Kapital dann dem Nationalsozialismus die Türen geöffnet habe. Die Antwort, so Rüstow, sei die »Erneuerung des Liberalismus von Grund auf, eine Erneuerung, die insbesondere auch allen berechtigten Einwänden und Forderungen des Sozialismus voll Rechnung trägt« mit Hilfe einer »Anpassungsintervention in der Wirkungsrichtung der Marktgesetze, zur Sicherung ihres möglichst reibungslosen Ablaufs« durch einen »starken Staat«.[3]
Die meisten Menschen stellen sich unter »Neoliberalismus« etwas anderes vor. Sie glauben zum Beispiel, Neoliberale wollten den Sozialstaat abschaffen – was selbst im Gedankensystem radikaler Vertreter des Neoliberalismus wie Friedrich August von Hayek oder Milton Friedman nicht existiert.[4]
Die Grundfrage des Wirtschaftslebens
Das Wort »Neoliberalismus« ist zu einer Projektionsfläche für Angst und Hass der Menschen geworden. Wer sich aber unbefangen auf die Arbeiten der neoliberalen Denker einlässt, der kommt nicht umhin, zuzugeben, dass er es in den meisten Fällen nicht mit irgendwelchen Bösewichten zu tun hat, sondern mit gewissenhaft denkenden Menschen. Nichtsdestotrotz machen sie Fehler. Auf das Wissen darum, wo der Neoliberalismus richtig trifft und wo seine Fehler liegen, kommt es an, wenn man ihm nicht nur Gefühle, sondern Taten entgegensetzen will.
Der Neoliberalismus trifft als Kritik an den bestehenden Systemen zunächst ziemlich genau die Fehler des Sozialismus und der sozialistisch gefärbten Wirtschaftspolitik. Letztere will mit Steuergeldern oder Beteiligungen des Staates dem nationalen Wirtschaftsraum, bzw. einzelnen Unternehmen oder Wirtschaftszweigen, zur Größe verhelfen. Tatsächlich sind die großen Konzerne dieser Welt durch staatliche Intervention zu ihrer Macht gekommen. Die Neoliberalen kritisieren das: Der Dienst des Staates an Kapitalunternehmen führe zum Nationalismus und forciere Ausbeutung und Ungerechtigkeit. Großkonzerne seien überdies unwirtschaftlich. Auch amerikanische Neoliberale wie Milton Friedman wollen daher Subventionen für die Konzerne und die Landwirtschaft des eigenen Landes abschaffen.[5] Der Neoliberalismus hat also an dieser Stelle wenig mit dem real existierenden Kapitalismus zu tun, denn weder der US-Kapitalismus noch der EU-Kapitalismus sind ohne eine massive Subventionierung durch den Staat denkbar.
Die Neoliberalen beschränken sich jedoch nicht auf eine Kritik am System, sondern entwickeln auch ein positives Bild der Wirtschaft. Und dabei machen sie dann Fehler. Im Vorfeld dieses positiven Teiles beweisen viele Neoliberale allerdings zunächst das richtige Gespür für die Grundfrage des Wirtschaftslebens.
Besonders deutlich tritt sie in den »Grundsätzen der Wirtschaftspolitik«[6] von Walter Eucken in Erscheinung. Eucken schildert zunächst die Situation einer kleinen Familienwirtschaft. Der Arbeitsleiter könne überblicken, ob es zu einem bestimmten Zeitpunkt für das Wohlergehen der ganzen Familie besser sei, dass ein bestimmtes Familienmitglied Getreide anbaue oder Holz hacke. In der arbeitseiligen Weltwirtschaft bestehe dieselbe Abhängigkeit aller von der konkreten Verwendung der Arbeitskraft des Einzelnen wie in der Familienwirtschaft, allerdings könne in der arbeitsteiligen Weltwirtschaft kein einzelner Mensch mehr die Wirkung von Arbeit und Konsum auf das Allgemeinwohl überblicken. Daraus ergibt sich für Walter Eucken die Grundfrage des Wirtschaftslebens: Gibt es für die Weltwirtschaft eine Entsprechung der Vernunft des Arbeitsleiters?
Die eine Ideologie
Die Antwort von Walter Eucken lautet: Ja, es sei die »Ordo«, die Wirtschaftsordnung. Diese »Ordo« stelle sich ein, wenn der Staat durch entsprechende Intervention, z.B. durch eine Monopolgesetzgebung, für eine »vollkommene Konkurrenz« der Marktteilnehmer sorge. Mit »Ordo« ist also weder das staatliche Regelwerk, noch das Zusammenspiel der Wirtschaftskräfte gemeint, sondern etwas Drittes, dass sich als Produkt aus beidem ergebe.
Real soll die Vernunft allerdings auch in diesem »deutschen Neoliberalismus«[7] über den Staat in die Wirtschaft kommen. Und dieses Merkmal haben alle neoliberalen Modelle miteinander gemein. Dieses Merkmal haben sie jedoch auch mit allen sonstigen Gesellschaftsentwürfen gemein, etwa mit dem Sozialismus. Der Unterschied zwischen Neoliberalismus und Sozialismus liegt nur darin, dass der Neoliberalismus wenig Vernunft wünscht, weil er an den Egoismus des Menschen glaubt. Hinter dem Egoismus vermutet er, wie der reine Liberalismus, die »unsichtbare Hand« Gottes, die in dem Augenblick, da der Mensch sich seinen niederen Instinkten überlasse, alles zum Guten wende. Für einen strenggläubigen Liberalen kommt ein bewusster Eingriff des Menschen in die Wirtschaft daher der Ketzerei gleich, und genau da setzt der Neoliberalismus mit seiner »liberalen Kritik am Liberalismus« an: ein wenig müsse der Mensch schon nachhelfen. Das kann er jedoch nur in seiner Eigenschaft als Bürger, also über den Staat. Der Staat soll zwar nicht selber wirtschaften, aber er soll eine »Wirtschaftsordnung« schaffen, indem er die »Rahmenbedingungen« setzt. Bewusst organisieren, gestalten, regeln – diese Tätigkeiten kann sich ein Neoliberaler auf gesellschaftlicher Ebene nur in Verbindung mit demokratisch-rechtlichen Prozessen denken. Der Sozialist glaubt dagegen überhaupt nicht an die niederen Instinkte – weshalb er allerdings den Staat an die Stelle des Marktmechanismus setzen und zum Unternehmer machen will. Neoliberalismus und Sozialismus haben somit gemein, dass sie sich als Korrelat der Vernunft im Sozialen nur demokratisch-rechtliche Prozesse denken können und das Wirtschaftliche als solches stets als Gegenpol des Vernünftigen definieren.
Übrig bleibt im Denken der Menschen, wenn man das Demokratisch-Rechtliche wegnimmt, der blinde Selbsterhaltungstrieb. Selbst eine unverdächtige Partei wie Bündnis90/Die Grünen formuliert es so: »Sich selbst überlassen sind Märkte sowohl ökologisch als auch in sozialer Hinsicht blind. Das ist der Grund des sich vor unseren Augen vollziehenden Scheiterns des Neoliberalismus. Funktionierende Märkte brauchen einen demokratisch legitimierten Rahmen und sie benötigen Regeln ... Die unsichtbare Hand des Marktes, die in Adam Smiths Metaphorik dafür sorgen soll, dass sich Eigeninteresse und Allgemeininteresse decken, kann nur funktionieren, wenn staatliche und internationale Ordnungssysteme zur Regulierung von Märkten bestehen.«[8] Hier wird, wie so häufig, das Wort »Neoliberalismus« populistisch benutzt, um der eigenen Forderung Nachdruck zu verleihen, die in Wahrheit ihrerseits eine exakte Formulierung des Neoliberalismus ist. Die Grünen sind damit nicht alleine. Es gibt derzeit keine Partei, keine NGO, keine Schule, die an dem neoliberalen Dogma rütteln würde, dass die Wirtschaft an sich blind sein müsse und deshalb nicht von dem Menschen, sondern nur von einer »unsichtbaren Hand« geleitet werden könne, weshalb die Demokratie sie auch nur von Außen regeln müsse.
Der Entzündungsherd liegt jedoch gar nicht auf der demokratisch-rechtlichen Seite, sondern innerhalb desjenigen Gebietes, das man mit dem Recht anfassen will. In dieses Gebiet führen Fragen wie: welche Bedürfnisse hat ein bestimmter Mensch, und welche Auswirkungen hat die Befriedigung dieser Bedürfnisse auf die Möglichkeit, dass ein bestimmter anderer Mensch seine Bedürfnisse befriedigen kann? An welcher Stelle muss ich meine Arbeitskraft einsetzen, wenn beides möglich sein soll? Die Antworten auf solche Fragen können niemals durch Festsetzen einer Regel oder eines Gesetzes gefunden werden. Mit absoluter Notwendigkeit muss uns dieses Gebiet deshalb in dem Augenblick, da wir Regeln oder Gesetze aufstellen, entgleiten. Wir kennen allerdings gegenwärtig keinen anderen Weg, im Sozialen mit Vernunft zu wirken, als den demokratisch-rechtlichen. Und das ist das Problem.
Die Maschine
Ein einzelner Mensch kann in der arbeitsteiligen Weltwirtschaft nicht überblicken, wie er durch Arbeit und Konsum mit anderen Menschen verbunden ist. Er nimmt nur wahr, was er selber haben will und was er dafür geben muss. Und er strebt danach, möglichst viel zu bekommen und möglichst wenig dafür zu geben. In diesem Bild erscheint das wirtschaftliche Leben als ein Chaos aus lauter kleinen, in sich selbst verschlossenen Bewusstseins-Atomen. In der Summe haben die Handlungen dieser Bewusstseins-Atome allerdings Konsequenzen für die Lebens- und Überlebenschancen großer Menschenkreise. Es stellt sich daher die Frage, wie die Handlungen der Menschen vernünftig zusammengeführt werden können, insofern demokratisch-rechtliche Prozesse nicht in Betracht kommen.
Die »epochemachende Entdeckung« des Adam Smith war nun »der Automatismus der Marktwirtschaft, die Selbstregulierung im Wettbewerbssystem durch den Mechanismus von Angebot und Nachfrage sowie die Harmonie, die durch den nicht bewusst herbeigeführten Ausgleich zwischen dem Egoismus des einzelnen und dem größten Wohl aller erreicht und aufrechterhalten wird.«[9]Heute kennt kaum ein Mensch eine andere Antwort auf die Frage nach der Koordination der wirtschaftlichen Handlungen der Menschen – sie wird von einer nicht bewussten Vernunft bewirkt, von einer Intelligenz, die nicht menschlicher Natur ist. Verständlich wird diese Antwort allerdings nur, wenn man weiß, dass Adam Smith Theologe war, und die klassische Wirtschaftslehre ihren Ursprung eben in einem religiösen Empfinden hat. So wie Gott das natürliche Leben schafft, so schafft er für die Liberalen auch das soziale Leben. Deshalb entstand für Smith und seine Anhänger aber auch das Bild eines Marktmechanismus. Denn was das religiöse Gefühl als Schöpfung verehrt, kann der Verstand nur als Naturgesetz beschreiben.
Den Mechanismus denkt man sich wie folgt: Zunächst wird ein Gut knapp. Es reicht nicht mehr für alle. Diejenigen, die es sich leisten können, bieten mehr für das Gut, um ihre eigene Versorgung zu sichern. Der Produzent kann mehr für seine Produkte nehmen, kann die Preise erhöhen, weil er immer noch genug Menschen findet, die es dann noch kaufen. Die Möglichkeit, erhöhte Preise zu nehmen, weckt die Gier anderer Menschen. Diese fangen an, in Erwartung der hohen Preise, dasselbe Gut zu produzieren. Das führt aber dazu, dass das Gut vermehrt wird. Dadurch wird es wieder billiger. Irgendwann gibt es ein Gleichgewicht zwischen Angebot und Nachfrage.
In der Realität bedeutet das: Zunächst wird ein Gut knapp, das heisst, es hungern Menschen. Wenn nicht die Vorräte der knappen Güter aufgekauft werden, um die hungernden Menschen damit zu erpressen, wie das häufig geschieht, dann gehen Produzenten aus Gier auf die durch den Hunger möglichen hohen Preise in den betreffenden Sektor. Das Gut wird billiger. Über kurz oder lang zeigt sich dann, dass es zu billig geworden ist. Die Konzerne, die jetzt einen Markt bedienen wollen, für den ein Konzern gereicht hätte, können ihren Arbeitern keine gerechten Preise mehr zahlen. Sie zögern das Ende hinaus, indem sie die Produktion in Billiglohnländer verlegen, aber irgendwann läuft das nächste Rädchen der Maschine an. Zwei von drei Konzernen gehen Pleite, und die Menschen verlieren Arbeit und Einkommen. Inzwischen hat sich aber schon die nächste Katastrophe angebahnt: weil jetzt viele Menschen von der Gier in einen bestimmten Sektor getrieben wurden, fehlen in einem anderen Sektor Arbeitskräfte. Die entsprechenden Güter werden knapp und teuer, und so herrscht da wieder Not.
Die Maschine funktioniert durchaus, aber sie funktioniert eben so, dass dabei Menschen umkommen. 36 Millionen Menschen verhungern jedes Jahr.[10] 963 Millionen Menschen sind derzeit vom Hungertod bedroht.[11] Diese Menschen sind nicht von uns abgeschnitten, sondern sie sind über das Wirtschaftsleben mit uns verbunden. Sie leben in den Ländern Asiens oder Afrikas, z.B. in Äthiopien, wo sie auf Plantagen deutscher Unternehmer Schnittblumen für den Blumenfreund in Deutschland anbauen. Die Deutschen bezahlen ihnen bis zu 1 Euro Tagesgehalt.[12] Das Kilo Hirse kostet in Äthiopien 1,30 Euro. Gleichzeitig schuften tagtäglich Millionen Deutsche für etwas, das kein Mensch gebrauchen kann. Was bedeutet es für die Weltwirtschaft, dass abertausende Menschen ihre Arbeitskraft für die Produktion von Autos der Marke Opel hingeben, die dann verschrottet[13] werden müssen, weil die Weltwirtschaft so viele Opels nicht verdauen kann? Hätte man stattdessen nicht vielleicht besser seine Arbeitskraft darauf verwandt, eine Gegenleistung für die Blumen aus Äthiopien zu erbringen?
Die natürliche Vorraussetzung der Vernunft
Im Denken Walter Euckens ist ein Sprung. Wie oben dargelegt, beschreibt Walter Eucken eine Familienwirtschaft, in der das Familienoberhaupt überblicken kann, wie es sich auf das Wohlergehen der Familie auswirkt, wenn ein Familienmitglied diese oder jene Tätigkeit ausübt. Dann schaut er sich die Weltwirtschaft an und findet, dass ein Einzelner hier unmöglich den Überblick behalten kann. Und dann kommt der Sprung. Dann fragt sich Eucken nämlich: Wenn ein Einzelner nicht den Überblick haben und also die Wirtschaft nicht vernünftig regeln kann, was ist dann das Äquivalent der Vernunft für die Weltwirtschaft? Nach diesem Sprung ist Eucken wieder konsequent: Das Äquivalent ist »die Ordnung«. Die Vernunft in der Wirtschaft gerät Eucken also zu einem starren Skelett, in das der Mensch eingespannt ist – kein Wunder, denn die Verbindung zum Menschen ist Eucken bei seinem Sprung abgerissen.
Wo genau liegt der Sprung? Eucken fragt sich: Was ist die Instanz, die für die Weltwirtschaft das leistet, was das Familienoberhaupt für die Familienwirtschaft leistet? Das ist aber gar nicht die Frage, die sich unmittelbar aus der Beobachtung von Eucken ergibt. Denn die Grundlage dafür, dass das Familienoberhaupt mit seiner Vernunft in die Wirtschaftsprozesse eingreifen kann, ist, dass das Familienoberhaupt den gesamten Wirtschaftsprozess überblickt: die Arbeit der Familienmitglieder, ihre Bedürfnisse und alle relevanten natürlichen und geistigen Bedingungen der Produktion. Die unmittelbar nächste Frage ist also nicht: was entspricht in der Weltwirtschaft der Vernunft, sondern: was entspricht in der Weltwirtschaft der Wahrnehmung des Familienoberhauptes?
Ein Grund, warum die Menschen lieber den Staat anrufen, anstatt sich der Wirtschaft zuzuwenden, ist, dass das Gesetz mit dem Rechtsempfinden eine Wahrnehmungsgrundlage im Menschen hat. Dem Recht entspricht eine Wahrnehmung, und diese Wahrnehmung enthält alles, was für die Gesetzgebung relevant ist. Was ein Mensch am anderen Menschen für Empfindungen hinsichtlich der Natur des allgemeinen Menschenwesens entwickelt, ist dasjenige, was bei der Gesetzgebung in Betracht kommt. Gleicherweise kann nicht behauptet werden, dass dasjenige, was ein Mensch im Verkehr mit seinen Mitmenschen an Wahrnehmungen entwickeln kann, schon enthält, worauf es bei der Verwendung seiner Arbeitskraft in der arbeitsteiligen Weltwirtschaft ankommt.
Angenommen, wir warten nicht erst, bis ein Gut knapp wird, sondern sorgen dafür, dass stets genügend viele von uns ihre Arbeitskraft auf die Produktion desjenigen Gutes verwenden, das knapp zu werden droht. Und umgekehrt: Angenommen, wir warten nicht, bis ein Gut zu billig geworden ist, sondern wenn es zu billig zu werden droht, legen wir einen Betrieb in der betreffenden Branche still und arbeiten stattdessen etwas anderes. Auf diese Weise machen wir genau das, was sonst der Marktmechanismus macht, indem er Menschenleben streicht: wir sorgen dafür, dass sich dasjenige gegenseitige Verhältnis der Branchen, bezogen auf die Zahl der Arbeitskräfte, einstellt, das gemessen an den vorhandenen Bedürfnissen der Menschen real möglich ist. Was ist dazu nötig? Wenn man nicht mit Gott, sondern mit dem Menschen rechnet, dann ist dazu nötig, dass jeder Mensch an seinem Platz eine genaue Vorstellung davon haben kann, welche Bedürfnisse ein jeder andere Mensch an seinem Platz hat und wie sich die natürlichen und geistigen Bedingungen für die Arbeit in jeder anderen Branche verändern. Die Wahrnehmung des anderen ist die Voraussetzung dafür, dass ein Mensch aus Liebe zu einem anderen Menschen handeln kann, dass er das Motiv für seine Arbeit in der Befriedigung der Bedürfnisse des anderen findet. Das entsprechende Wahrnehmungsorgan bildet sich jedoch im Unterschied zum Rechtsempfinden nicht von selbst, sondern muss als Institution des sozialen Lebens errichtet werden. Falls es ernstzunehmende Gründe gibt, warum das nicht gelingen können sollte, hat allerdings der Neoliberalismus recht, dann ist tatsächlich nur der blinde Egoismus möglich, dann ist aber auch alles weitere Reden über das Soziale eine Lüge.
Die Organbildung im Wirtschaftsleben
Zunächst ist es nötig, dass ein Arbeiter eines Betriebes von seinen Kollegen dazu bestimmt wird, sich mit einem Arbeiter aus einem anderen Betrieb derselben Branche zu treffen. Das geschieht in jedem Betrieb der betreffenden Branche, so dass sich ein Betriebsrat bildet, der nicht der Rat für einen einzelnen Betrieb ist, sondern für alle Betriebe einer bestimmten Branche. So können Informationen über die Änderung bei den natürlichen und geistigen Bedingungen der Produktion sowie über den Absatz der Waren von dem einen Betrieb in den anderen gelangen. Das ist deshalb nötig, weil innerhalb einer Branche die Erfahrungen des einen Betriebes für den anderen Betrieb in der gleichen Weise relevant sind. Durch seine Verbindung mit dem überbetrieblichen Betriebsrat würde also jeder einzelne Arbeiter zunächst einen Überblick über die Gesamtlage seiner Branche bekommen.
Die Betriebsräte der Branchen bestimmen dann wiederum jeweils einen, der sich mit den Vertretern der Betriebsräte anderer Branchen trifft, so dass ein neuer Rat entsteht, diesmal ein branchenübergreifender. In diesem branchenübergreifenden Rat wird man sehen, welche gegenseitigen Abhängigkeiten bestehen. Angenommen etwa, die Branche der Textilindustrie rechnet aufgrund einer Verschlechterung der natürlichen Bedingungen mit einer Verteuerung ihres Angebots und äußert das in dem branchenübergreifenden Rat. In diesem Rat sind nun aber z.B. auch Automobilbauer und Lehrer vertreten. Und die werden sagen: da wir also die teuren Kleider werden kaufen müssen, müssen wir auch so und so viel mehr für unsere Arbeit nehmen. Das hat natürlich wieder eine Auswirkung auf die Preise in anderen Branchen. Und dann wird es sich unter Umständen zeigen, dass das Überleben aller nur möglich ist, wenn so und so viele Automobilbauer und Lehrer ihren Beruf an den Nagel hängen und in die Textilbranche gehen, um das Angebot an Textilien wieder zu verbilligen.
In einem solchen branchenübergreifenden Rat werden also die wechselseitigen Abhängigkeiten der Arbeiten der Menschen sichtbar werden. Seinen Wert bekommt das Arbeitsergebnis allerdings von den Bedürfnissen der Menschen. Wenn sich in obigem Beispiel mit der Verschlechterung der natürlichen Bedingungen der Produktion von Textilien gleichzeitig die Bedürfnisse der Menschen dahingehend ändern würden, dass sie entsprechend weniger Textilien brauchen, könnte alles beim Alten bleiben. Die Arbeiter müssen ihre Entscheidungen also auf Grundlage eines Wissens um die Bedürfnisse der Menschen fällen können, denn erst die geben ihren Handlungen einen Sinn.
Erfahrungen mit den Bedürfnissen der Menschen macht ja der Händler. Der Händler kann anhand der Preisentwicklung abschätzen, bei welchem Gut die Nachfrage steigen oder sinken wird. Das Händlerwissen wird man rücksichtslos offen legen müssen, und dabei wird man auch nicht außer Acht lassen dürfen, dass die heutigen Unternehmer in Wahrheit reine Händler sind. Das Händlerwissen ist allerdings nicht die einzige Informationsquelle, die herangezogen werden muss, wenn sich die Arbeit am Bedarf orientieren soll.
Die neoliberalen Markttheoretiker rechtfertigen die Produktion durch den Verkauf: Die Ware wurde verkauft, also wurde der Bedarf getroffen. Das ist jedoch eine Illusion. Wenn man einem hungernden Menschen eine Cola anbietet, dann wird er nach der Cola verlangen. Aus der gestiegenen Nachfrage nach Cola kann man deshalb nicht schließen, dass auch der Bedarf an Cola gestiegen ist. Es wäre fatal, wenn man aufgrund der gestiegenen Nachfrage nun anfangen würde, mehr Cola zu produzieren. Denn in Wahrheit ist der Bedarf an Brot gestiegen. Und das kann man den Verkaufszahlen von Cola nicht entnehmen. Es muss also noch etwas Drittes zu den Betriebsräten und der Offenlegung des Händlerwissens hinzutreten: die Menschen müssen ihre Bedürfnisse real artikulieren.
Da ist ein Bedürfnis, günstig Brot zu kaufen. Dann ist da ein Bedürfnis, günstig Schnittblumen zu kaufen. Beide Bedürfnisse finden in einem Konsumentenverband eine Vertretung. Die Konsumentenvertreter kommen jetzt wieder zusammen mit den Händlern und dem branchenübergreifenden Zusammenschluss der Betriebsräte. Es wird sich also eine Art Spitze herausbilden. In ihr könnte sich dann z.B. folgendes Gespräch ergeben: Der Vertreter der Getreidebauern sagt zum Vertreter der Blumengärtner: Ja, wenn so und so viele Bauern Blumen anbauen, dann wird entsprechend weniger Getreide angebaut. Der Händlervertreter, der auch mit am Tisch sitzt, hört das und sagt: Ja, wir haben die Erfahrung gemacht, dass die Nachfrage nach Getreide steigt. Das hören wiederum die Konsumentenvertreter, und die müssen jetzt eine Entscheidung treffen: wollen wir billig Blumen haben und dafür hungern, oder wollen wir satt werden und dafür ein bisschen mehr für die Blumen bezahlen?
Da würde sich also zum ersten Mal das objektive Wertverhältnis der Waren, gemessen an den wahren Bedürfnissen der Menschen, zeigen, und zwar vor der Produktion. Und den Produzenten bliebe nichts anderes übrig, als mit diesem Wertverhältnis zu rechnen und in demjenigen Bereich zu arbeiten, in dem aufgrund der tatsächlichen Bedürfnisse der Menschen eben gearbeitet werden muss, denn davon hinge ihr Einkommen ab.
Die Beantwortung der Grundfrage der Wirtschaft
Der Rat schafft die Wahrnehmungsmöglichkeit, hat jedoch nichts zu entscheiden. Nicht im Entferntesten ist an eine Planwirtschaft oder gar eine geistige Hierarchie gedacht. Es geht vielmehr um die Frage: wie kann die Information von dem einen Betrieb in den anderen gelangen, so dass jeder Mensch etwas von den Bedürfnissen und Erfahrungen des andern Menschen wissen kann? Und wenn man diese Frage praktisch beantworten will, dann ergeben sich eben Schnittstellen. Die »Spitze« ist lediglich der Punkt, über den jeder mit jedem verbunden ist, und man könnte daher stattdessen auch von dem »Knotenpunkt« eines Netzwerkes sprechen.
Alle Entscheidungen fallen auf individueller Ebene. Im Hinblick auf die Information des Rates etwa, dass der Bedarf an Hemden steigen wird, tun sich zwei Schneider mit einem Designer zusammen und machen einen Vertrag über die Aufteilung des Ertrages, den sie gemeinsam erwirtschaften werden. Ist es nach Informationen des Rates zu erwarten, dass die Nachfrage nach Hemden wieder sinkt, wird der Vertrag gegenstandslos, und man schliesst neue Verträge in neuer Konstellation über etwas anderes. Vorausgesetzt werden muss dafür selbstverständlich, dass es keine Unternehmer im heutigen Sinn, d.h. keine Arbeitsplatzeigentümer mehr gibt – das wäre dann aber endlich das, was auf rechtlichem Gebiet anzustrengen ist. Die Auflösung des alten Eigentums[14] an Produktionsmitteln vorausgesetzt, hat keiner eine bessere Verhandlungsposition als der andere, das heisst aber, keiner kann die Arbeitszeit des anderen kaufen, und keiner kann Lohn geben. Jede Arbeit beruht darauf, dass Individuen miteinander Verträge über Leistung und Gegenleistung schließen, und jedes Einkommen beruht darauf, dass Individuen miteinander Verträge über die Aufteilung des gemeinschaftlich Erwirtschafteten schließen.
Rudolf Steiner, der dieses Organ zum ersten mal beschrieben hat, nannte es eine Assoziation. Die Assoziation hat zwei Pole, einen Aktionspol und einen Bewusstseinspol. Der Bewusstseinspol, das sind die Zusammenschlüsse aus Arbeitern, Produzenten, Händlern und Konsumenten. Diese ermitteln zunächst sowohl den Bedarf als auch die natürlichen und geistigen Möglichkeiten in den verschiedenen Branchen, um dann einschätzen zu können, welche Preisverhältnisse durch Anregung oder Reduzierung welcher Arbeiten real möglich sind. Im Hinblick auf das Wissen der tatsächlichen weltwirtschaftlichen Auswirkung ihrer Arbeit und ihres Konsums schließen die Menschen dann Verträge über Leistung und Gegenleistung. Das ist der Aktionspol. Das Bewusstsein ist gewissermaßen »kollektiv«, die Handlung dagegen rein individuell. Im Wechselspiel zwischen diesen beiden Polen gestaltet sich das wirtschaftliche Leben.
Obschon es innerhalb der Assoziation weder Abstimmungsprozesse noch Gesetze gibt, ist die Assoziation gleichwohl nicht zahnlos. Ihre Macht ist nur von anderer Art als die Macht des Staates oder die Macht des Geistes. Die Macht der Assoziation beruht darauf, dass sie dem Einzelnen die Möglichkeit gibt, zu wissen, was die gesamtwirtschaftliche Bedeutung der eigenen Arbeit ist, und zu wissen, was die gesamtwirtschaftliche Bedeutung der Arbeit eines anderen Menschen ist. Das Urteil der Assoziation wird sich dadurch Gehör verschaffen, dass derjenige, der an irgendeiner Stelle gegen die reale Bedürfnislage arbeiten will, keine Partner und keine Käufer finden und daher auch kein Einkommen haben wird.
Walter Eucken fragt: was entspricht in der Weltwirtschaft der Vernunft des Menschen? Wir können, wenn wir den nächsten Schritt im Denken nicht auslassen, auch diesen übernächsten Schritt beantworten, zu dem Walter Eucken springt. Wir können ihn dann so beantworten: Es gibt überhaupt keine Entsprechung, sondern nur eine Identität. Wir geben der menschlichen Vernunft bloß ein Wahrnehmungsorgan, damit sie sich auch in der Wirtschaft betätigen kann. Die Vernunft in der Wirtschaft ist dann immer noch dieselbe Vernunft, nämlich die Vernunft eines jeden einzelnen Individuums. Wir brauchen deshalb nicht auf die »Ordo«, auf den ahrimanischen Ersatz für die menschliche Vernunft auszuweichen. Wir machen den Menschen selbst zum Gestalter seines Lebens. Das ist allerdings nur dann die Wahrheit, wenn wir sie tun.
Der Mensch muss als wirtschaftendes Wesen erwachen. Das ist die große Aufgabe der gegenwärtigen Zivilisation. Er muss sich in dem Bereich selbst erkennen und selbst ergreifen, worin er gegenwärtig die unsichtbare Hand Gottes vermutet. Der Mensch stellt sich der Wirtschaft äußerlich gegenüber, indem er sie als einen Marktmechanismus beschreibt, indem er sie von Außen durch den Staat geregelt denkt. Er wird sich in diesem Äußeren selbst wieder finden müssen, wenn er eine Gesellschaft errichten will, in der jeder Mensch leben und seine Fähigkeiten für die Menschheit geltend machen kann.
Anmerkungen
- [1] Zitiert nach Hauke Janssen: Walter Eucken, in: Klassiker des ökonomischen Denkens, Band 2, München 2009, S. 196.
- [2] Alexander Rüstow: Die Religion der Marktwirtschaft, Berlin 2009.
- [3] Alexander Rüstow, a.a.O., S. 50ff.
- [4] Hayek hielt am Sozialstaat fest. Siehe Friedrich August von Hayek: The Road to Serfdom, London 2001, S. 66ff. Friedman hat sich bereits ab 1962 für ein bedingungsloses Grundeinkommen eingesetzt. Siehe Milton Friedman: Kapitalismus und Freiheit, München 2004, S. 227ff., http://www.archiv-grundeinkommen.de/friedman/kap12.htm
- [5] Milton Friedman: Chancen, die ich meine, Berlin 1980, S. 51ff.
- [6] Walter Eucken: Grundsätze der Wirtschaftspolitik, Tübingen 1968.
- [7] Zwar haben sich nur die Deutschen zum Neoliberalismus bekannt, die hier charakterisierte und als »Neoliberalismus« bezeichnete Denkrichtung eint jedoch deutsche, österreichische und amerikanische Schule. Außerdem waren und sind die Vertreter aller Schulen Mitglieder der von Friedrich August von Hayek gegründeten und später von Milton Friedman geleiteten Mont Pelerin Society (www.montpelerin.org), darunter übrigens auch Ludwig Erhard. Die MPS gilt als der einflussreichste Think-Tank des 20. Jahrhunderts. Von ihr gingen die Initialzündungen für die Gründungen der meisten anderen großen Think-Tanks aus, laut Dieter Plehwe u. Bernhard Walpen (Dieter Plehwe u. Bernhard Walpen: Buena Vista Neoliberal?, in: Klaus-Gerd Giesen: Ideologien in der Weltpolitik, Wiesbaden 2004, S. 49-88) stehen 93 weitere Think Tanks in direkter Beziehung zu Mitgliedern der MPS.
- [8] Aus dem Parteiratsbeschluss von 2007 Nachhaltig und gerecht: Grüne Marktwirtschaft der Partei Bündnis 90/Die Grünen, abrufbar unter: http:// www.gruene-partei.de/cms/ themen/rubrik/13/13357. wirtschaftspolitik.htm
- [9] Alexander Rüstow, a.a.O., S. 18ff.
- [10] UN-Menschenrechtskommission, Resolution 2002/25.
- [11] FAO, 9.12.2008, Rom, http://www.fao.org/news/ story/en/item/8836/icode/
- [12] Deutschland ist der weltweit größte Abnehmer Äthiopischer Produkte und investiert laut auswärtigem Amt im »Zuge der Liberalisierung« vor allem in den Blumen- sektor. Die Liberalisierung, sprich die Landnahme durch die Europäer, wird dabei von der Bundesregierung erzwungen, indem sie die Hungerhilfe von der Kapitalisierung des Bodens abhängig macht, so z.B. durch das Investitionsschutzabkommen von 2004 und das Cotonou-Abkommen von 2000. Siehe auch epo.de vom 27.10.2009: Äthiopien: Plantagen für Biosprit und Blumenexport schüren Hunger. Vergl. auch format.at vom 01.12.2009: Die Landnahme: Inmitten von Hungersnöten verkauft Afrika Millionen Hektar Grund.
- [13] Gemeint ist die staatlich prämierte Verschrottung von Autos, siehe de.wikipedia. org/wiki/Verschrottungsprämie. Opel berichtete, es habe dank der Verschrottungsprämie 50% mehr Neuwagen an Privatkunden verkauft.
- [14] Geschichte, Wesen und Überwindung des alten Eigentums: Johannes Mosmann: Herrschaft eines toten Geistes, die drei 2009/3.