Fenster zu möglichen Welten? Bemerkungen zum Mindestlohn

01.06.2013

Kleine Vorbemerkung zu diesem Text = [1]

1. Das Ausgangsproblem: Kommodifizierung der Arbeit

(1) Kommodifizierung der Arbeit findet auf zweierlei Weise statt: einerseits als Verdinglichung lebendiger Arbeit im Wertschöpfungsprozess und andererseits als Reduktion des Menschen zur Ware im Zuge des Vermarktungsprozesses.

(2) Für Karl Marx sind die Fronten (allzu) klar: In der Sphäre der Zirkulation (also dem Markt) herrschen „Freiheit, Gleichheit und Bentham“, dort gibt es nur Käufer und Verkäufer und die „einzige Macht, die sie zusammen und in ein Verhältnis bringt, ist die ihres Eigennutzes…“ (Marx, MEW 23, 190). Somit konzentriert sich Marx bei der Analyse von Arbeitskämpfen auf den Widerstand gegen die maximale Vernutzung der Arbeit in der Produktion, dort - so Marxens Analyse - wird es geradezu zwangsläufig zum Widerstand kommen, da Arbeiter ein vitales Interesse daran haben müssen, ihre Arbeitskraft zu erhalten, verfügen sie doch über keinerlei andere Einkommensquelle.

(3) Karl Polanyi [2] und Rudolf Steiner (GA 23) hingegen bezeichnen Arbeitskraft – wie auch Boden und Kapital – als fiktive Waren, da sie nicht für den Markt produziert wurden. Ihre Behandlung als Waren führt notwendigerweise zu einer Umwandlung der Gesellschaft in ein Anhängsel der Ökonomie, was – ohne entsprechende Gegenmaßnahmen – zu einer Zerstörung der gesellschaftlichen Grundlagen führt. [3]

(4) Zu unterscheiden sind also zwei Formen der Kommodifizierung: auf Arbeitsmärkten wird Arbeit zur Ware reduziert, in der Produktion wird diese Ware dann bewirtschaftet, d.h. vernutzt. Beide Formen der Kommodifizierung rufen Widerstand – Arbeitskämpfe - hervor. Beverly Silver [4] nutzt diese Differenzierung in marx-typische und polanyische Arbeitskämpfe um in ’Forces of Labor‘ die Dynamik und Muster der Gegenbewegungen zu ordnen. Historisch sehr verkürzt kann konstatiert werden (Michael Burawoy [5]), dass es den Gegenbewegungen im 19. (hier insbesondere den Gewerkschafts- und Genossenschaftsbewegungen) und im 20. Jahrhundert (zu nennen sind die letztlich auf staatlichem Handeln basierenden Gegenbewegungen des New Deals, der keynesianisch geprägten Sozialdemokratie, aber eben auch des Faschismus und Stalinismus) gelungen ist, sowohl der ersten und als auch der zweiten „große Transformation“ Einhalt zu gebieten und sie zurückzuschlagen.

(5) Während Karl Polanyi davon ausging, dass die Gesellschaften mit der Katastrophe des zweiten Weltkrieges ihre Lektion gelernt hätten und die Kommodifizierung zu einem Ende gelangt sei, ist festzustellen, dass mit der neoliberalen Revolution eine erneute, dritte große Transformation ihren Siegeszug angetreten hat. Seitdem wächst die Sehnsucht nach neuen Gegenbewegungen. Beverly Silver bleibt in ihrer Suche nach einem neuen ‚product fix‘, i.e. einer erfolgversprechenden neuen Gegenbewegung, zwar erstaunlich optimistisch, letztlich indes auch erfolglos. Michael Burawoy hingegen zeichnet mit unsicheren und vorläufigen Strichen ein pessimistisches Bild, wonach es dem Kapitalismus gelungen sei, mittels intelligenter Kombinationen der jeweiligen Kommodifizierungsformen von Arbeit, Kapital und Natur, alle Gegenbewegungen nachhaltig ihrer Substanz zu berauben

Kompromisslos pessimistisch im Sinne Burawoys wäre es indes auch, erst einmal zu untersuchen, weshalb sich die vormaligen ‚fixes‘ als weniger nachhaltig erwiesen haben, als zu hoffen gewesen wäre. Oder anders formuliert: was waren die ‚Sollbruchstellen‘, die dazu führten, dass die ‚fixes‘ der Transformation nicht standhielten? Ursachen der unzureichenden ‚fixes‘:

(6) An erster Stelle zu nennen wäre ein verkürztes Verständnis der globalen Arbeitsteilung. Arbeitsteilung wird nicht begriffen als – so Hans Georg Schweppenhäuser - ‚struktureller Altruismus‘; gemeint ist damit eine globale Struktur der Wertschöpfung, die dazu führt, dass sich global alle erbrachten Leistungen wechselseitig bewerten. Mit der Entwicklung der globalen Arbeitsteilung hat die Entwicklung der arbeitspolitischen Organe nicht Schritt gehalten. Zwar hatten sowohl Genossenschafts- wie Gewerkschaftsbewegung Formen der Solidarität entwickelt. Diese haben sich indes als zu – im Wortsinne – borniert erwiesen, handelte es sich in der Regel doch um exklusive Solidarität (Solidarität die auf eine nur begrenzte Menge von Akteuren gerichtet war und alle anderen Akteure ausschließt, so exkludieren etwa Arbeitsplatzbesitzer Arbeitslose, Akteure des Zentrums die der Peripherie, Akteure produktiver Branchen diejenigen der weniger produktiven etc.) – notwendig gewesen wäre jedoch eine inklusive Solidarität, die sich als nicht ausschließend definiert. Ansatzpunkte von Formen inklusiver Solidarität finden sich in der Idee des Gesamtarbeitsvertrages oder in der Idee eines Welttarifvertrages.

(7) Zweitens wurde der Widerspruch von Kapital und Arbeit in den vormaligen ‚fixes‘ immer nur befriedet – niemals jedoch gelöst. Wie Polanyi jedoch in der ‚Great Transformation‘ zeigte, bedarf eine Marktgesellschaft immer der Integration aller drei Faktormärkte. Soll das Problem der Kommodifizierung nachhaltig gelöst werden, so bedeutet das auch, dass Arbeit, Kapital und Natur aus der Marktform ausgegliedert werden müssen.

(8) Drittens ist das Verhältnis zwischen Staat und Wirtschaft in den Fokus zu rücken. Staatliches Handeln erweist sich zunehmend als unfähig gegenüber ökonomischen Dynamiken auf Augenhöhe zu kommen. Erste Versuche die Kommodifizierung zu bremsen treffen auf einen engagierten Lobbyismus, welcher Veränderungen blockiert. Zu suchen ist daher nach Möglichkeiten souveränen staatlichen Handelns.

2. Der Mindestlohn

(1) Mindestlöhne können entweder in Tarifverträgen vereinbart werden (üblicherweise gelten sie dann für die tarifvertraglich gebundenen Betriebe der jeweiligen Branche), sie können tarifvertraglich vereinbart und allgemeinverbindlich erklärt werden und erlangen durch die Allgemeinverbindlichkeitserklärung des Bundesarbeitsministers Gültigkeit für die gesamte Branche oder aber es können branchenübergreifende Mindestlöhne festgelegt werden (vgl. Abbildung Mindestlohn 2012).

(2) Aus den Erfahrungen anderer europäischer Länder lassen sich für die Umsetzung eines allgemeinen Mindestlohns folgende Grundprinzipien ableiten. Entgegen einer weitverbreiteten Vorstellung ist es in der Regel nicht einfach der Staat, der die Höhe des gesetzlichen Mindestlohns bestimmt. Die konkrete Festlegung und Anpassung erfolgt vielmehr in enger Kooperation mit Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden. Letztere werden über bi- und tripartistische Beratungsgremien in die Ausgestaltung der Mindestlohnpolitik institutionell eingebunden. Ein besonderer Ansatz wurde in Großbritannien entwickelt, wo eine drittelparitätisch aus Arbeitgebern, Gewerkschaften und Wissenschaft zusammengesetzte Low Pay Commission auf der Grundlage umfangreicher Studien jährlich Empfehlungen zur Erhöhung des Mindestlohns ausspricht

(3) In zahlreichen europäischen Ländern gibt es außerdem Verfahrensregeln zur regelmäßigen Anpassung des gesetzlichen Mindestlohns. So haben einige Länder einen bestimmten Stichtag festgelegt, an welchem – meistens einmal pro Jahr – der Mindestlohn erhöht wird. In anderen Ländern finden sich zudem inhaltliche Kriterien für die Entwicklung des Mindestlohns. So wird z. B. in Belgien und Luxemburg der Mindestlohn regelmäßig an die Preissteigerungsraten angepasst, während in Frankreich und den Niederlanden darüber hinaus auch die durchschnittlichen allgemeinen Lohnzuwächse als Richtschnur für die Erhöhung des Mindestlohns dienen (Produktivitätswachstum).

(4) Ein branchenübergreifend festgelegter aber nationaler Mindestlohn hat die Funktion, im Arbeitsmarkt ein gesellschaftliches Einkommenslevel zu definieren, welches nicht unterschritten werden darf. Er wird üblicherweise in einem relationalen Verhältnis zum Medianlohn festgelegt. Damit leistet ein solcher Mindestlohn im neoklassischen Arbeitsmarkt zumindest eines: er definiert eine Schranke, unter welche der Preis für Arbeit nicht sinken darf. Insofern findet eine partielle Dekommodifizierung statt.

(5) Dennoch bleibt die Dekommodifizierung unvollkommen:

a. Arbeit bleibt Ware, lediglich der Preis der Ware kann – für ein bestimmtes Niveau - garantiert werden.

b. Mindestlohn kann – wie Heinrich August Winkler kürzlich vorbrachte – zum Spielball der politischen Auseinandersetzung werden. Und der Mindestlohn ist nicht davor gefeit, sich im internationalen Wettbewerb in ein ‚race to the bottom‘ –Spiel zu verwandeln. Kommt die nationale Wertschöpfung unter Druck, senkt man das Lohnniveau. Mindestlohn unterliegt einer vehementen Gefahr erneut Gruppen exklusiver Solidarität zu begründen, die sich dann wechselseitig bekämpfen.

c. Der Widerspruch Kapital-Arbeit wird nicht thematisiert.

3. Welche Ansatzpunkte bietet die Mindestlohndebatte, um wirkliche Dekommodifizierung zu erreichen?

Es existiert ein Fall eines globalen Branchentarifvertrages welcher starke Elemente inklusiver Solidarität enthält und überdies Ansätze bietet, Quotenverhältnisse im Sinne eines Gesamtarbeitsvertrages zu entwickeln. Diesen Tarifvertrag hat das ITF-Maritime Department mit den entsprechenden Arbeitgeberverbänden ausgehandelt. Ausgangspunkt war die verheerende Niederlage der nationalen Gewerkschaften in den 1980er Jahren gegenüber den unter Billigflagge fahrenden alle Standards negierenden Reedern. Die Gewerkschaften zogen aus dieser Niederlage jedoch die richtigen Konsequenzen: Der Rahmen – so die Erkenntnis - für einen tarif- und organisationsstrategischen Neubeginn konnte nur die globale Ebene sein. Die Herausbildung einer Weltgewerkschaft für Seeleute vollzog sich in der Form eines Funktionswandels der Internationalen Transportarbeiterföderation ITF bzw. ihres Seeschifffahrtsbereichs. Zunächst klassischer Dachverband 533 nationaler Verkehrsgewerkschaften aus den Bereichen Flugverkehr, Bahnverkehr, Touristik, Straßentransport, Häfen, Fischerei und Seeschifffahrt modifizierte die ITF Zug um Zug ihr Maritime department von einem Branchendachverband zu einer Weltbranchengewerkschaft für Seeschifffahrt.

Die neue gewerkschaftliche Organisation entsteht hier also nicht in Form eines aufwendigen und komplexen mergers mit Zielbestimmung, Zeitplan, Widersprüchen und Interessenausgleichen und Gründungskongress, sondern in Form eines pragmatisch geprägten, durch konkrete Erfordernisse der Gewerkschaftsarbeit induzierter Prozesses, dessen Ergebnis jedoch alle Charakteristika einer Gewerkschaft kennzeichnet. Die ITF (maritime department) mit Sitz in London kennt neben 600000 mittelbaren Mitgliedschaften über ITF-Mitgliedsorganisationen zunehmend auch unmittelbare Mitgliedschaften von inzwischen 20000 Seeleuten aus Ländern ohne Mitgliedsgewerkschaft, sie unterhält einen eigenen Apparat mit 120 Gewerkschaftssekretäre, sogenannten ITF-Inspektoren zur Betreuung der Seeleute in den wichtigsten Häfen von 40 Ländern. Sie verfügt mit ihrem "fair-practise-Ausschuss" über eine Welttarifkommission von Seeleuten und Hafenarbeitern und hat mit dem ITF-Vertrag einen globalen Flächentarifvertrag mit Mitteln des Arbeitskampfs (in Verbindung mit Boykottmaßnahmen von Hafenarbeitern) zu erkämpfen.

Als Gegengewicht zu der erstarkenden ITF sahen sich die Reeder gezwungen, einen internationalen Arbeitgeberverband zu gründen, die IMEC, mit der inzwischen der ITF-Vertrag als Welttarifvertrag für Seeleute, allerdings mit dem Erfordernis von Anwendungstarifverträgen (Reeder für Reeder) vereinbart werden konnte. Durch die Herstellung eines Organisationsrahmens, der die gesamte Branche wieder erfasst, können globale Standards definiert werden. Tarifpolitische Erfolge und steigende Mitgliederzahlen in einer Gewerkschaftslandschaft, die ansonsten von dem Gegenteil geprägt ist, belegen die Richtigkeit dieses Ansatzes (vgl. Abbildung Mitgliederentwicklung ITF).

Die Entwicklung der ITF zu einer globalen Gewerkschaft stellt einen Präzedenzfall dar, der dem oben genannten kompromisslosen Pessimismus eines Michael Burawoy standhält: Auch wenn in der soziologischen Forschung umstritten ist, wie weit die inklusive Solidarität reicht, stellt der Tarifvertrag ein Moment inklusiver Solidarität dar – er zeigt: Dekommodifizierung von Arbeit ist möglich.

Abbildungen

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Abbildung Mindestlohn 2012

Abbildung Mitgliederentwicklung ITF

Anmerkungen

[1] Ich klammere in diesem Thesenpapier die Auseinandersetzung mit dem Grundeinkommen aus. Meine Position zum Grundeinkommen als Scheinlösung habe ich zuletzt auf der von EMES ausgerichteten Karl Polanyi Conference in Paris (15. 02.2012) vorgetragen: André Bleicher : The de-comodification of labor as a fallacy – The German basic income debate revisited. Das Vortragsmanuskript scheint mir sowohl als elektronische Version wie auch als hard copy infolge meines überstürzten Umzuges abhanden gekommen zu sein.

[2] Polanyi, Karl (2001): The Great Transformation: The political and economic origins of our time . Beacon, Boston, in deutscher Übersetzung: ders. (1973): The Great Transformation. Politische und ökonomische Ursprünge von Gesellschaften und Wirtschaftssystemen. Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft stw, 8. Aufl. Frankfurt

[3] Polanyi und Steiner unterscheiden sich nicht hinsichtlich ihrer Aussage, wohl aber in ihrer Analyse: während Polanyi methodisch ein historisch-empirisches Vorgehen wählt, greift der Essentialist Steiner zu einer organismisch-funktionale Analyse.

[4] Silver, Beverly (2003): Forces of Labor: Workers’ Movements and Globalization Since 1870. Cambridge: Cambridge University Press, in deutscher Übersetzung: dies (2005): Forces of Labor: Arbeiterbewegungen und Globalisierung seit 1870. Assoziation a, Berlin und Hamburg

[5] Burawoy, Michael (2010): From Polanyi to Pollyanna: The false optimism in global labor studies. In: Global Labor Studies, Vol. 1, Issue 2


Vom Autor überarbeitete Fassung eines Beitrags zum Forschungskolloquium: Soziale Sicherung in Deutschland. Mindestlohn, Grundeinkommen, Wege aus der Altersarmut, Teil IV: Mindestlohn und Grundeinkommen.