Auf dem Weg zur freien Urteilsbildung – Antwort an Henning Kullak-Ublick und den Bund der Freien Waldorfschulen

Freies Geistesleben und Verschwörungstheorien

01.12.2015

Übersicht über die Kontroverse Freies Geistesleben und Verschwörungstheorien
zwischen Henning Kullak-Ublick und Heinz Mosmann


Sehr geehrter Herr Kullak-Ublick,

vielen Dank für Ihr Interesse an meinem offenen Brief und für Ihre Erwiderung. Sie betonen darin eingangs, dass sich mein offener Brief (vom Oktober) auf Ihren internen Brief (vom Juli) beziehe, der das Ziel gehabt habe, „eine Debatte anzuregen“ – dies habe er „zweifellos erreicht“. Durch seine „virale Verbreitung via Internet“ habe sich „die Diskussion allerdings thematisch stark verengt“. Zudem zeigen Sie sich überrascht über die Schnelligkeit seiner Veröffentlichung.

Zur konkreten Vergegenwärtigung ein paar Fakten: Ihr Rundbrief an die Kollegien datiert vom 10. Juli, zu diesem Zeitpunkt gab es schon eine heftige Debatte um Einladungen „umstrittener Referenten“, wie beispielsweise Ken Jebsens durch die SMV der Göppinger Waldorfschule. Auf diese Situation nahm Ihr Schreiben Bezug: „Aus gegebenem Anlass möchten wir Sie allerdings mit einiger Sorge darauf hinweisen, dass bei der Einladung von Gästen, die mit den Schülerinnen und Schülern an diesen Themen arbeiten, darauf zu achten ist, dass man sich nicht irgendwelche Verschwörungstheoretiker ins Haus holt – oder Schülern unreflektiert gestattet, dies zu tun. Einer dieser Verschwörungstheoretiker ist Ken Jebsen…“ Kurz darauf wurde Ihr „Hinweis“ von Nachrichtenagenturen verbreitet (NNA am 16.), ebenso durch die Nachrichtenseite der „Erziehungskunst“. Am 18. Juli erschien in der Südwest-Presse postwendend ein Artikel „Dachverband warnt“: „In die umstrittene Auswahl der Referenten bei Projekttagen an der Freien Waldorfschule Filstal hat sich nun auch der Bund freier Waldorfschulen eingeschaltet…“

Sie erklären nun, Sie hätten mit dieser schnellen Verbreitung nicht gerechnet. Weiterhin führen Sie aus, dass Sie die internen Reaktionen, die Ihr Rundschreiben ausgelöst hat, ebenfalls nicht erwartet haben. Sie hätten bei den Waldorfschulkollegien vorausgesetzt, dass Ihr Schreiben „nicht als ‚Weisung‘ oder ‚Maulkorb‘ seitens des Bundesvorstandes missverstanden wird“. Somit war Ihnen auch nicht bewusst, dass ein solcher „Hinweis“, worauf bei der Einladung von Gästen „zu achten ist“, extreme Reaktionen auslösen könnte, von der artigen Befolgung bis zur empörten Ablehnung. Dass er somit auch polarisierend und spaltend in der „Waldorf-Community“ wirken könnte und eben solche Mechanismen auf den Plan rufen könnte, vor denen gerade gewarnt werden soll. Man muss sich also mit der schlichten Tatsache bekannt machen, dass Sie als Vorstand und PR-Beauftragter des Bundes der Freien Waldorfschulen die Folgen Ihrer Aktion in mancherlei Hinsicht falsch eingeschätzt haben.

Nun deuten Sie allerdings an, dass die Fehler weniger bei Ihnen lagen, als bei den Empfängern Ihrer Botschaft. Diese Lesart halte ich für ein durchaus verständliches Erklärungsmuster der Ereignisse: die Kolleginnen und Kollegen der Freien Waldorfschulen hätten eben so frei sein müssen, den Hinweis ihres Bundesvorstands lediglich als „Diskussionsbeitrag“ zu verstehen. Und erst die Reaktionen offenbaren nun, dass es oftmals mit dem freien Geistesleben an unseren Schulen nicht weit her ist. Damit verschiebt sich der Fokus unserer Betrachtung auf eine andere Ihrer Aussagen, nämlich dass Sie das Verständnis für ein „freies Geistesleben“ als „Basiswissen“ bei den Waldorfschulkollegien voraussetzten. Ich möchte Sie deshalb beim Wort nehmen und dieses Basiswissen im Folgenden näher in Betracht ziehen.

Die besagten „Voraussetzungen“ erläutern Sie im unmittelbaren Zusammenhang mit Ihrem Bemühen, Rudolf Steiner gegen den Vorwurf des „Verschwörungstheoretikers“ zu verteidigen, indem Sie den Impuls der sozialen Dreigliederung und die Gründungssituation der ersten Freien Waldorfschule ins Spiel bringen: „Steiner hielt sich niemals damit auf, die Gesichter und Wirkmechanismen des ‚Bösen‘ bloß aufzuzeigen, sondern es ging ihm darum, die Menschen individuell und als soziale Gemeinschaft zu befähigen, mit vollem Bewusstsein gestaltend am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen… Von 1919 an verlagerte Rudolf Steiner seine diesbezüglichen Anregungen interessanterweise auf die Fähigkeiten, die notwendig sind, um eine moderne Gesellschaft zu organisieren.“ Nimmt man dies ernst, dann bestünde die Aufgabe eines Bundesvorstands allerdings weniger darin, das freie Geistesleben als „Basiswissen“ hypothetisch vorauszusetzen und das „Böse bloß aufzuzeigen“, als darin, sich selbst so zu verhalten, dass er zur Entwicklung jener Fähigkeiten und damit zur Freiheit des Geisteslebens (bzw. der Waldorfschulen) beiträgt. Darin jedenfalls müsste sich zeigen, inwieweit er seinerseits über das nötige „Basiswissen“ verfügt.

Sehr geehrter Herr Kullak-Ublick, ich begrüße diese von Ihnen angestoßene Wendung der Diskussion, weil genau diese Frage nach den auszubildenden Fähigkeiten erst die Möglichkeit eines fruchtbaren Gesprächs über die Zukunft der Waldorfschulbewegung eröffnet, ebenso natürlich wie die Möglichkeit eines sachgemäßen Urteils über den „richtigen“ Umgang mit Verschwörungstheorien und Verschwörungen. Mir war es in meinem offenen Brief in der Tat darum zu tun, Sie auf das für die Entwicklung eines freien Geisteslebens nötige Basiswissen höflich hinzuweisen, ohne dass dies belehrend wirken bzw. als „Weisung“ oder „Maulkorb“ verstanden werden sollte.

Ihre Replik wirft nun aber erneut so grundlegende Fragen auf, dass ich mich zu einigen Ergänzungen bzw. Klarstellungen veranlasst sehe. Allerdings befürchte ich, dass dies schon wegen des Umfangs mancherorts auf wenig Interesse stoßen wird. Auch bin ich mir darüber im Klaren, dass ich damit einer Polarisierung Vorschub leisten könnte, die ich nicht für hilfreich halte. Aus gegebenem Anlass möchte ich deshalb ausdrücklich betonen: weder will ich damit einen spitzfindigen Schlagabtausch provozieren, noch bin ich daran interessiert, mich in diesen Fragen, die mir persönlich wichtig sind, auf irgendeine „Seite“ zu stellen oder einer Parteiung das Wort zu reden.

Grundlegend für den Weg zu einem freien Geistesleben ist, nach meiner Überzeugung, damit zu beginnen, von Mensch zu Mensch zu sprechen, das heißt, das Gegenüber im Gespräch auch als solches zu meinen und konkret zu nehmen. Ich war bemüht, das in meinem offenen Brief an Sie zu befolgen. Umgekehrt hatte ich aber beim Lesen Ihrer Replik über weite Strecken nicht den Eindruck, Ihr Ansprechpartner zu sein. Es entsteht bei mir der Eindruck, dass Sie der Kritik an Ihrem Vorgehen eher ausweichen als begegnen, wenn auch mit vielen Worten. Denn zum einen gehen Sie auf die Kernaussagen meines offenen Briefes gar nicht oder nur peripher ein. Zudem richtet sich Ihre Antwort nicht nur an mich, sondern auch an „viele andere“, indem sie sich mit „einigen inhaltlichen Aspekten anderer Zuschriften“ auseinandersetzt, die Sie „in den letzten Monaten erreicht haben“. Einem „bestürzend“ großen Teil dieser vielen Zuschriften attestieren Sie außerdem ein besorgniserregend niedriges Niveau, was Sie mit einigen peinlichen Beispielen belegen.

Auf diese Weise tragen Sie einmal mehr dazu bei, dass berechtigte Kritik mit dubiosen Verschwörungstheorien in einen Topf geworfen wird und es zu einer „Vermischung oder gar Verwechslung von bloßen Meinungen und Urteilen mit einer klaren, abwägenden Gedankenführung“ kommt, wovor Sie vordergründig warnen. Auch Ihre Erwiderung auf meinen offenen Brief entfaltet somit eine soziale Wirkung, ob bewusst oder unbewusst, gewollt oder ungewollt, sei dahingestellt. Indem Sie meine dezidierten Ausführungen zu aktuellen Zeitfragen und waldorfspezifischen Problemen mit irgendwelchen kuriosen Emails zusammenwerfen, die Sie erhalten haben, erreichen Sie, dass man Ihnen die Mühe ersparen möchte, auf weitere Fragen und Kritikpunkte einzugehen. Der Protest gegen das Schreiben des Bundesvorstands erhält dadurch den Ruch des Pöbelhaften, mit dem man sich nicht auseinanderzusetzen braucht. Im Internet weiß man dieses Material dankbar zu verwerten. Hier können Sie dann unter der Überschrift „Der anthroposophische Spießbürger in der Revolte“ Ihre besorgten Äußerungen ausführlich zitiert finden. Damit stellt man die Wirklichkeit auf den Kopf, indem man aus einem kritischen Einspruch und dem Widerstand gegen Bevormundung den rechtspopulistischen „Aufstand der Spießer“ drechselt.

Zum Grundverständnis des freien Geisteslebens gehört m.E. ferner, das offene und vielseitige Gespräch zu suchen. Ich verstehe nicht, inwiefern sich die Diskussion durch die „virale Verbreitung“ „thematisch stark verengt“ haben soll, wie Sie schreiben. Was ich beobachte ist vielmehr, dass sie sich erweitert und grundsätzliche Fragen aufgeworfen hat, die innere und äußere Situation der Waldorfschulbewegung betreffend, ihr kritisches Selbstverständnis, den Umgang mit Andersdenkenden und nicht zuletzt auch die Probleme und Schwierigkeiten gegenwartsgemäßer Urteilsbildung. Eben diese Erweiterung sollten wir begrüßen.

Sie versichern, dass Ihr Rundbrief nicht als „Weisung“ gedacht war, sondern als „Hinweis auf eine pädagogische Aufgabe“, die Sie „unseren Kollegen mitteilen und zur Diskussion stellen“ wollten. Wenn ich Sie beim Wort nehmen soll, muss aber auch der Hinweis auf einen weiteren, ganz wesentlichen Eckpfeiler des „Basiswissens“ erlaubt sein: die künstlerische Handhabung des Materials, so dass das Werk eben die Freiheitskräfte des anderen wachruft. Offensichtlich habe ich da ein anderes Stilempfinden. Ihr Rundbrief findet deutliche Worte, worauf „zu achten“ ist, nämlich „dass man sich nicht irgendwelche Verschwörungstheoretiker ins Haus holt“ und nicht „unsere Schulen zu Plattformen für die Verbreitung solcher Ideologeme“ macht, und „nachdrücklich“ wird gebeten, „unsere pädagogische und gesellschaftliche Verantwortung nicht im Namen eines vermeintlichen ‚freien Geisteslebens‘ zu konterkarieren“. Sie machen es dem Leser zumindest schwer, Ihre Ermahnungen als Ermunterung zur freien Diskussion und Urteilsbildung zu verstehen.

Sie behaupten fernerhin, ich hätte meinen offenen Brief mit der „Unterstellung“ und „Fehlinterpretation“ begonnen, dass Sie grundsätzlich Verschiedenes in einen Topf werfen. Was Sie de facto tun: Sie sprechen zunächst von nationalistischen Tendenzen und dann von zunehmender „Skepsis oder Ablehnung der bestehenden politischen Strukturen Europas oder der transatlantischen Beziehungen“, womit diese „einhergehen“. Letzteren Ausdruck gebrauchen wir gewöhnlich im Sinne eines inneren Begründungszusammenhangs (der Krieg geht mit großem menschlichen Leid einher). Beide Phänomene (Nationalismus und Skepsis), in einen solchen Zusammenhang gebracht, ergeben ein fragwürdiges Gemisch, aus dem stimmungsmachende Feindbilder entstehen, wie z.B. der pauschale Vorwurf des „Antiamerikanismus“. Gerade weil die genannten „Tendenzen“ zusammen auftreten können, ist es für eine sachgemäße Urteilsbildung unumgänglich, sie scharf voneinander zu trennen und in jedem individuellen Fall neu zu bedenken. Sonst muss man sich den Vorwurf gefallen lassen, mit assoziativen Gedankenverknüpfungen „Meinungsbildung“ zu betreiben und damit einem freien Geistesleben zuwider zu handeln. Auf dieses „Stilproblem“ wollte ich Sie aufmerksam machen, was mir aber offenbar nicht gelungen ist. Es lag keineswegs in meinem Interesse, Ihnen „pauschale Verurteilung von gesellschaftlichen Protestbewegungen“ zu unterstellen. Ich wollte darauf hinweisen, dass es Vertretern der Waldorfschulbewegung schlecht ansteht, unkritisch „gegenüber einfachen Feindbildern“ zu sein, die durch unsere Medien geistern.

Es ist Kritikern Ihres Schreibens aufgefallen, dass vieles von dem, wovor Sie warnen und worum Sie sich sorgen, auf Sie selbst bzw. Ihren Brief zurückfällt. Dies bezieht sich nicht nur auf die „einfachen Feindbilder“, sondern auch auf die Sorge darum, dass unsere Schüler „sich eigenständig ihre Urteile bilden können“. Natürlich, wenn in einer Oberstufe die Schülerinnen und Schüler keine Ahnung hätten, „wie unsere modernen Gesellschaften funktionieren, einschließlich solcher historischer Errungenschaften wie der Gewaltenteilung“, wäre dort einiges schiefgelaufen. Diesen – hoffentlich seltenen – Notstand als Argument dafür zu nehmen, sie könnten nicht gebildet genug sein, sich ein Urteil über einen Gastredner zu erarbeiten, halte ich für eine erhebliche Unterschätzung unserer pädagogischen Arbeit. Hier sollte man beispielhaft vorangehen und den Schülern im Sinne eines freien Geisteslebens das nötige Vertrauen entgegen bringen. Ich traue unseren Schülern durchaus zu, sich mit Verschwörungstheorien kritisch auseinandersetzen zu können, zumal wenn es mit pädagogischer Begleitung geschieht, wie die Filstaler Schüler in ihrem Brief betonen.

Was unser freies Urteil herausfordert, ist doch gerade die Frage: Wo hört der kritische, hinterfragende Zeitgenosse auf und wo fängt der Verschwörungstheoretiker an? Das wäre eine offene Diskussion wert! Schauen Sie sich um, wie wir – hundert Jahre nach dem Krieg, in den wir angeblich „hineingeschlittert“ sind – in Gewaltkonflikte geradezu hineingetrieben werden, und fragen Sie sich, ob hier jene Verschwörungstheoretiker, die Sie im Visier haben, wirklich die entscheidende Bedrohung sind. Ich schreibe dies unter dem unmittelbaren Eindruck der schrecklichen Ereignisse von Paris. Jeder vernünftige Mensch, der die Geschichte der vergangenen Jahrzehnte verfolgt hat, weiß, dass diese Verschwörung gegen die Menschlichkeit nicht zufällig aus dem Untergrund auftaucht, sondern zum großen Teil die Folge einer ignoranten und verantwortungslosen Macht- und Interessenpolitik ist. So ist es doch verständlich, wenn geschichtsbewusste „Skeptiker“ bei den Kriminalisten in die Schule gehen und genau hinschauen: Verunsicherung und Angst, die hier entstehen, und die ganze Chaotisierung der Verhältnisse, wem nützt das alles, wer alles hat dafür ein Motiv? Sind wir so sehr in Urteilsmustern befangen, dass wir diese Frage nicht zu stellen vermögen? Oder ist das eine zu einfache Frage für einen komplexen Zusammenhang?

Wo Hass gepredigt wird und Gewalt und Krieg inszeniert werden, dort müssen wir uns vorsehen, ganz gleich, in wessen Namen und auf welcher Seite dies geschieht. Sie weisen zu Recht darauf hin, „in welchem Ausmaß die Welt seit ‚9/11‘ und schon vorher irregeführt wurde“, und dass man in der Folge „auch heute von vergleichbaren Manipulationen ausgehen“ müsse. Sie fordern deshalb einen „investigativen Journalismus“, der aber auch – wohl mit dem Seitenblick auf Herrn Jebsen – „die kontroversen Standpunkte so gegenüberstellt, dass sich die Leser ein eigenes Urteil bilden können“. Ich bin ganz Ihrer Ansicht. Man verfolge die Berichterstattung unserer „Leitmedien“, beispielsweise des „Spiegel“ über Russland. Man schaue sich etwa das geschmacklose Titelbild von Ende Juli vorigen Jahres (31/2014) an, wo die Opfer des ungeklärten Absturzes von „MH17“ mit dem Titel „Stoppt Putin jetzt!“ für antirussische Stimmungsmache und Feindbildpropaganda instrumentalisiert werden – und man bilde sich ein eigenes Urteil über diesen Journalismus!

Im Hinblick auf ein freies Geistesleben begrüße ich auch Ihre Initiative, sich ein eigenes Bild von der Persönlichkeit zu verschaffen, vor der Sie in Ihrem Rundschreiben gewarnt hatten, und ich kann auch die verbliebenen Vorbehalte im Rahmen Ihrer Neubewertung nachvollziehen. Ich habe allerdings den „Eindruck eines selektiven Wahrnehmungsmusters“ keineswegs nur bei den sogenannten Verschwörungstheoretikern wie Ken Jebsen, sondern mir scheint dies ein weitverbreitetes Problem rationaler Welterklärungsversuche zu sein – nur dass es uns dort, wo wir im allgemeinen Konsens der Ahnungslosigkeit leben, nicht auffällt. Wenn augenfällige Ungereimtheiten in offiziellen „Wahrnehmungen“ und Erklärungen keine angemessene Würdigung erfahren, dann geht es hier vielleicht nicht nur um das Fehlen von Beweisen, was „bereits als Beweis für die Macht der heimlichen Drahtzieher gewertet“ wird, sondern um den berechtigten Verdacht einer bewusst betriebenen Manipulation des öffentlichen Bewusstseins. Das muss in Bezug auf „9/11“ sogar der von Ihnen empfohlene Autor Karl Hepfer eingestehen, wenn er schreibt: „Ungereimtheiten en masse; dass die offizielle Geschichte so stimmt, wie sie erzählt wird, ist sehr unwahrscheinlich…“ („Verschwörungstheorien – Eine philosophische Kritik der Unvernunft“)

Für wenig ergiebig halte ich in diesem Zusammenhang Ihre allgemeine Definition des Wortes „Verschwörungstheoretiker“, die Sie in Ihrer Replik nachreichen: als „zusammenfassende Beschreibung von Urteilsmustern, die hinter den öffentlich zugänglichen Informationsquellen und den öffentlichen Handlungsweisen von Politikern prinzipiell verborgene, von langer Hand planende, strategisch manipulative und der öffentlichen Kontrolle entzogene Kräfte am Werk sehen“. Da Sie das Wort ja in eindeutig abfälliger Weise benutzt haben („irgendwelche“), wüsste ich hier zu gern Ihre konkrete Ansicht. Sehen Sie solche „Kräfte“ nicht „am Werk“? Rudolf Steiner sah sie jedenfalls, aber darauf möchten Sie ja leider „inhaltlich nicht eingehen“. Stattdessen legen Sie mir das Buch von Karl Hepfer nahe, gewissermaßen als Basiswissen für eine freie Urteilsbildung.

Dessen „philosophische“ Arbeit verdient hier in der Tat eine kurze Erwähnung. Man kann das humorvoll und pointiert geschriebene Buch jedem empfehlen, der Spaß daran hat, die bekanntesten Verschwörungstheorien einer Plausibilitätsprüfung zu unterziehen. Der Autor trägt zudem einiges zusammen, was die Neigung zu verschwörungstheoretischem Denken fördert: das Bedürfnis nach einfachen Erklärungen, die Vorliebe für Analogieschlüsse, Projektionen usw. Damit erschöpft sich allerdings auch schon der Nutzwert des Buches, denn der Autor folgt selbst „selektiven Wahrnehmungsmustern“, indem er auf dem Boden eines materialistischen Weltbildes argumentiert und ein subjektivistisches Wirklichkeitsverständnis propagiert. Besonders in seinen erkenntnistheoretischen Passagen ist dieses Buch deshalb unzulänglich und begnügt sich mit der Wiedergabe unwidersprochener populärwissenschaftlicher Thesen. „Was wir ‚Wirklichkeit‘ nennen, [wird] zu großen Teilen durch eine aktive Eigenleistung des Gehirns erzeugt…“. „Unser Gehirn bearbeitet die Eindrücke der Sinne und errechnet aus ihnen ein (stark vereinfachtes) Modell der Welt.“ (Hervorhebungen im Original) Entsprechend fehlt jede Begrifflichkeit einer irgendwie gearteten geistigen Dimension, neben dem rationalen Kalkül gibt es nur die abfällig bespöttelten „dunklen Mächte“. Folgerichtig kommt der Autor zu der Ansicht, Verschwörungstheorien seien „der Versuch, Frieden mit der Einsicht zu schließen, dass das Leben keinen tieferen Sinn hat“. Man mag seine scharfsinnig kombinierende Ratio im Gewirr nebuloser Verschwörungsahnungen als wohltuend empfinden, ich kann mit einer solchen zweidimensionalen Weltsicht jedoch wenig anfangen. Ich bezweifle, dass eine solche Sicht auf die Dinge wesentlich zu einer Erhellung der Problematik beiträgt und dass diese Buchempfehlung geeignet ist, das Basiswissen der Kollegen zu vertiefen.

Sozusagen „des Pudels Kern“ und ein wesentlicher Grund für meinen offenen Brief ist die von Karl Hepfer den Verschwörungstheoretikern durchaus zu Recht vorgeworfene „Asymmetrie“ der Beweisführung und Urteilsbildung. Nur ist sie allerdings bei deren Kritikern gleichermaßen üblich. Es gehört zur Verantwortung freier Menschen, die Möglichkeiten einer offenen Gesellschaft zu nutzen, um gegen die totale Vereinnahmung durch Feindbildpropaganda, Ressentiments und Verblendungsstrategien das Wort zu ergreifen. Zu den Grundbedingungen eines freien Geisteslebens gehört eben, sich von Urteilsmustern jeder Art frei machen zu können. Deshalb frage ich mich: wann hat denn der Bund der Freien Waldorfschulen zuletzt vor dem unreflektierten Umgang mit den durch Politik und Massenmedien verbreiteten Urteilsmustern gewarnt? Wenn Sie als Bundesvorstand über rechtspopulistische Tendenzen besorgt sind und den Kollegien „Hinweise“ auf die gemeinsame „pädagogische Aufgabe“ zukommen lassen, dann sollten Sie auch jene Tendenzen, die zum berechtigten öffentlichen Protest herausfordern, mit vergleichbarem Nachdruck und nicht nur beiläufig in Ihre Warnungen einbeziehen. Sonst entsteht ein befremdliches Ungleichgewicht in den Augen vieler Menschen, die sich um die Zukunft sorgen und dieser Sorge Ausdruck verliehen haben wollen.

Bei aller Kritik habe ich Ihnen aber keineswegs unterstellt, wie Sie behaupten, dass Sie den Brief an die Kollegien in der bewussten Absicht geschrieben haben, sich offiziellen Stellen oder der öffentlichen Meinung „anzubiedern“ – diesen Ausdruck habe ich nicht gebraucht und das ergäbe auch wenig Sinn. Aber nachdem ich als Geschichtslehrer über dreißig Jahre die Abiturprüfung durchgeführt habe, weiß ich sehr wohl um die Probleme, die sich an der „Schnittstelle“ zum staatlichen Schul- und Prüfungswesen auftun – ebenso wie Sie aus Ihren Erfahrungen als Vertreter der Waldorfpädagogik in der Öffentlichkeit. Wir sind als Waldorfschulbewegung immer sehr um unser Ansehen besorgt und um Anerkennung bemüht, und der Gedanke, „im Interesse der Sache“, bzw. der Schulentwicklung und der Schülerschaft, Konflikte zu vermeiden und uns „diplomatisch“ zu verhalten, liegt uns, wenn wir ehrlich sind, nicht so fern. Sie sagen nun in Ihrer Replik, „dass es zu den vornehmeren Pflichten des anthroposophischen Kulturimpulses gehört, sich der Öffentlichkeit auf eine Weise zu ‚erklären‘, die deren Fragen aufgreift, auf Zeitnotwendigkeiten reagiert und sich auch in Kontroversen exponiert“. (Hervorhebung von mir) Damit drücken Sie genau das aus, worum es mir geht, nur bin ich der Ansicht, dass wir diesem Ideal bisher zu wenig entsprochen haben.

In diesem Zusammenhang möchte ich nun noch auf ein unumgängliches Basiswissen zu sprechen kommen, das unbedingt auf die Tagesordnung gehört, wenn von unserer „pädagogischen Aufgabe“ die Rede ist. Selbstverständlich teile ich Ihre Ansicht, unsere Pädagogik sollte unsere Schüler dazu befähigen, „sich auf der Grundlage belastbarer Kenntnisse bewusst mit der Zeit, in der sie leben, auseinanderzusetzen“. Sie wissen aber doch auch, wie schillernd der hier von Ihnen eingebrachte Ausdruck „belastbare Kenntnisse“ ist. Natürlich gehört das Wissen um so etwas wie die „Gewaltenteilung“ zu diesen Kenntnissen, wie das kleine Einmaleins zur höheren Mathematik. Hierzu gehört aber auch die Fähigkeit, mit einer angemessenen Begrifflichkeit solche Wissensstandards in einen sinnvollen Zusammenhang „der Geistesordnung der Dinge“ zu stellen, um einen Ausdruck Rudolf Steiners zu bemühen. Wir diskutieren hier auf einer Internetseite, deren Betreiber sich zur Aufgabe gemacht haben, das Bewusstsein für den anthroposophischen Sozialimpuls besonders in den Waldorfschulen zu wecken. Dabei wird zu Recht immer wieder betont, dass diese Sozialideen keine Dogmen sind, die wir zu „vertreten“ haben, sondern Augenöffner für Zusammenhänge, die unserer Aufmerksamkeit sonst entgehen.

Es verhält sich hier im Sozialen ähnlich wie in unserer Pädagogik. Verantwortungsgefühl und guten Willen, den jungen Menschen eine zeitgemäße Erziehung angedeihen zu lassen, möchte ich keinem Pädagogen heute absprechen. Die Frage ist aber, ob ein Lehrer oder eine Lehrerin über das begriffliche Instrumentarium und die Anschauungskraft verfügt, die kindliche und jugendliche Individualität zu erkennen und aus dieser Erkenntnis heraus zu fördern. Das ist etwas, so sagen wir, was eben durch die geisteswissenschaftlich fundierte Menschenkunde und die geistig-seelische Entwicklung, insbesondere auch die künstlerische Befähigung der Pädagogen verwirklicht werden kann. Im gleichen Sinne wie die „Idee“ der dreigliedrigen Wesenheit des individuellen Menschen für diese pädagogische Befähigung konstitutiv ist, können wir auch nur mithilfe der „Idee“ der sozialen Dreigliederung einen solchen Blick für die sozialen Zusammenhänge gewinnen, der uns zu heilsamer sozialer Wirksamkeit verhelfen kann. Diese „belastbaren Kenntnisse“ sich anzueignen ist nun allerdings keine primäre Frage der Schülerbildung, sondern der Lehrerbildung. Das muss Basiswissen werden. Hier müssen wir dafür Sorge tragen, dass in unseren Schulen eben jener Sozialimpuls lebendig wird, aus dem heraus die Waldorfschule begründet wurde. Mit einer Ausweitung des „Gesellschafts- und Wirtschaftskundeunterrichts“ allein ist es meiner Ansicht nach nicht getan.

Sehr geehrter Herr Kullak-Ublick, ich bedaure sehr, dass Sie in der bisherigen Debatte mit verbalen Entgleisungen und kuriosen Anschuldigungen konfrontiert wurden. Wir leben heute offensichtlich in einer hochgradig emotionalisierten Öffentlichkeit, auch in Waldorfkreisen, und wir sollten uns bemühen, solchen Stimmungen keine Nahrung zu geben. Noch mehr erschreckt mich die primitive, fremdenfeindliche und marktschreierische Form, in der zur Zeit und vermehrt „bürgerliche Protestbewegungen“ auftreten. Aber auch dies hält mich nicht davon ab, die offizielle Lesart der Ereignisse kritisch zu hinterfragen. Im Gegenteil, ich sehe in dem aufgerührten Bodensatz kollektiver Emotionen einen Grund mehr für die Bemühung, Gespräche in einer besonnenen und umsichtigen Weise zu führen, die sowohl die individuelle menschliche Begegnung fördert, als auch dem geistigen Anspruch von Anthroposophie und Waldorfpädagogik gerecht wird. Ich hoffe, dass uns dies in Zukunft immer besser gelingen wird.

Heinz Mosmann, Lehrer an der Freien Waldorfschule Heilbronn
Kontakt mosmann@waldorfschule-hn.de

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