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Sie hörten mich wohl, verstehen konnten sie mich nicht
«Sie hörten mich wohl, verstehen konnten sie mich nicht»
Rudolf Steiner
Warum ist die von Rudolf Steiner begründete Wirtschaftslehre nicht verstanden worden und zwar als eine nicht nur theoretische, sondern auch praktische Wissenschaft, als eine Seins- und Sollwissenschaft? Um diese Frage zu beantworten, machen wir uns zunächst das Problem, um das es geht, klar und betrachten dann, wie die heutige Wissenschaft und wie Rudolf Steiner dieses angehen. In diesem Sinne ist die vorliegende Schrift nicht bloss eine Wiederholung früherer Ausführungen über die Grundlagen einer assoziativen Wirtschaft als Teilgebiet einer in Wirtschafts-, Rechts- und Geistesleben gegliederten Gesellschaft, sondern will aufzeigen, wie erst eine erkenntnismässige Weiterentwicklung dem heutigen Menschen helfen kann, wirtschaftliche, soziale, aber auch gesundheitliche Probleme zu lösen.
Das Problem der Wirtschaft
Auslöser des Wirtschaftens sind die Bedürfnisse. Diese werden durch Arbeitsergebnisse, auch Leistungen genannt, befriedigt, die in erster Linie aus Stoffen der Natur bestehen und arbeitsteilig hervorgebracht werden. Und hier stellt sich die erste Frage an die Wirtschaftswissenschaft und zwar als Sollwissenschaft ein: Wie müssen sich diese Leistungen gegenseitig bewerten, dass jeder Leistungserbringer seine Bedürfnisse aus dem Verkaufserlös seiner Leistung aus den Leistungen der anderen Leistungserbringer in der Zeit befriedigen kann, die er benötigt, um eine gleiche oder gleichwertige Leistung hervorzubringen? Das ist die Frage nach dem „wirtschaftlichen Wert“ der Leistungen und nach ihrem „richtigen Preis“, der als Vergleichsgrösse sich nach dem „wirtschaftlichen Wert“ ausrichtet.
Alles Wirtschaften besteht in Wirklichkeit nur darin, dasjenige, was Erzeugnisse, also Leistungen sind, zum Austausch unter Menschen zu bringen, und der Austausch unter Menschen lebt sich in der Preisbildung aus. Aus den mittels Preisen erzielten Leistungserlösen werden die Einkommen bezahlt. Die Preis- und die Einkommensfrage sind also die Kardinalfragen der Wirtschaft. Die Einkommen repräsentieren die Bedürfnisse, die Preise die Leistungen. Die zweite Frage an die genannte Sollwissenschaft lautet nun: Wie kann für den Einzelnen als Bedürfnisträger und Leistungserbringer das Gleichgewicht zwischen Preis der Leistung und Einkommen, also der Ausgleich zwischen Bedürfnis und Wert der Leistung gewahrt bleiben, wenn im Wirtschaftsverlauf sowohl die Bedürfnisse als auch die Herstellungstechnik, die mengenmässige und preisliche Gewichtung der einzelnen Leistungen innerhalb des Gesamtwertes der Produktion sich ständig ändern?
Warum stellt die heutige Wirtschaftswissenschaft diese Fragen nicht? Kann sie sie aus erkenntnismethodischen Gründen gar nicht stellen?
Die Sackgasse der heutigen Wirtschaftslehre
Die heutige Definition des Preises als Funktion von Angebot und Nachfrage weist die Wirtschaftslehre in das Feld einer bloss kontemplativen Ökonomie, also einer blossen Seinswissenschaft. Sie beruht auf der naturwissenschaftlichen Methode, wonach nur die aufgrund von Beobachtung durch Sinneswahrnehmung übermittelte Aussenwelt Wirklichkeitscharakter besitzt. Die auf diesem Prinzip beruhende Marktbeobachtung sieht im Preis das Ergebnis von Güterangebot und Güternachfrage, von Gut gegen Gut oder Gut gegen Geld, sieht, dass bei einem Ungleichgewicht zwischen Angebot und Nachfrage der Preis so lange steigt oder fällt, bis Angebot und Nachfrage durch die Rückwirkung des Preises auf sie zur Deckung gebracht sind, also sich ein Gleichgewichtspreis einstellt, der aber auf dem Zufall des Marktes beruht. In Bezug auf den im Rahmen der sozialen Frage essentiellen Ausgleich zwischen Bedürfnissen und dem Wert der Leistungen sagt die abstrakte Vorstellung vom Preis als dem Resultat von Angebot und Nachfrage nichts aus, bleibt der Preis gegenüber der den Ausgleich zwischen Bedürfnis und Wert der Leistung erst ermöglichenden Richtgrösse, nämlich dem Mass der gegenseitigen Leistungsbewertung und der Einkommen, im Unbestimmten. Das Problem dieses Ausgleichs liegt in dem zwischen Einkommen und Wert der Leistungen herzustellenden Gleichgewicht, dass jeder mit seinem Einkommen aus dem Verkaufserlös seiner Leistung seine Bedürfnisse aus den Leistungen der anderen in der Zeit befriedigen kann, bis er eine gleiche oder gleichwertige Leistung hervorgebracht hat und dass die bedürfnisbedingt erworbenen Leistungen wertmässig im Gleichgewicht zu seinem Einkommen stehen. Das bedeutet, dass innerhalb des Herstellungsprozesses der Leistungen der Wert erfasst werden muss, den Bedürfnis und Herstellung gleichermassen den Leistungen zur Bedarfsdeckung beimessen, so dass sie sich darin decken, und zu dem jeder Leistungserbringer in seinem Verhältnis zur Bevölkerungszahl anteilsmässig an den Leistungen der anderen partizipiert. Dabei muss im weiteren Verlauf des Wirtschaftens das Gleichgewicht zwischen Wert der Leistung und Einkommen eines Jeden gewahrt bleiben, auch wenn sich bedürfnisbedingt mengenmässige Verschiebungen in einzelnen Leistungserbringungen aufdrängen. Wie dieser Wert, vorstehend gekennzeichnet als der „wirtschaftliche Wert“, innerhalb der Wertbildung, zu der die noch zu erläuternde, neu zu fassende Kapitalbildung zählt, gesehen und auch zahlenmässig in Form der Geldschöpfung als Richtgrösse – identisch mit der Sozialquote (s. Graphik) – erfasst werden kann, wird nachfolgend im Abschnitt über Rudolf Steiners Ansatz zur Lösung des besagten essentiellen Ausgleichs behandelt.
Der heute zustande gekommene Geldpreis, der im herkömmlichen Verständnis von vornherein definitorisch als identisch mit dem wirtschaftlichen Wert der Leistung betrachtet wird, ist eine unbestimmte, auf dem Zufall des Marktes beruhende Zahl. Dabei spielt in die Preisbildung die Geldwirtschaft hinein, und da die heutige Geldschöpfung mangels Erkenntnis keinen inneren notwendigen Bezug zum eigentlichen wirtschaftlichen Wert hat, werden (Zufalls-) Preise und Einkommen zu einander bedingenden Variablen, wovon sich die heutige Konjunkturanfälligkeit herleitet.
Die Beziehungslosigkeit der bisherigen Geldschöpfung zum eigentlichen Wert der Leistung, wie er vorstehend gekennzeichnet wird, liefert den Preis für die Leistung dem Zufall des Marktes aus, weil ein zahlenmässig vergleichender Bezug zu der vorstehend definierten Richtgrösse für den „richtigen“ Preis der Leistungen und für die diesen entsprechenden Einkommen von vornherein nicht besteht, gar nicht hergestellt werden kann, womit erst der Ausgleich zwischen Bedürfnissen und Wert der Leistungen erreicht werden könnte. Die Beziehungslosigkeit des heutigen Marktpreises zu eben dieser Richtgrösse wiederum liefert die Gütererzeugung nicht nur preislich, sondern auch mengenmässig dem Zufall des Marktes aus, indem jetzt nicht das Bedürfnis, sondern die Kapitalrendite, der Profit als nachfrageinduziertes Erkennungszeichen für die Berechtigung der Gütererzeugung Initiator des Wirtschaftens wird. Der Impuls des Wirtschaftens liegt nun darin, sich über die Menge des Gütererzeugens ein möglichst hohes Einkommen zu verschaffen. Dazu müssen die Produzenten in andere Länder gehen und dort sich Absatz verschaffen. Dieser „globalisierte“ Absatz aber gründet sich auf den preislichen Konkurrenzkampf, auf das wirtschaftliche Zwangsverhältnis zwischen Kapital und Lohn, in welches Verhältnis systembedingt der Warenabsatz und die Preisgestaltung eingezwängt sind.
Kapitalgewinn im heutigen Verständnis ist der individuell geldlich ausscheidbare Überschuss des Verkaufserlöses eines Arbeitsergebnisses nach Abzug der für seine Herstellung aufgewendeten Arbeitskosten. Dieses überkommene Kapital- und Lohnsystem leitet sich aus dem römischen Eigentumsbegriff ab, der Rechtliches mit Wirtschaftlichem vermengt. Eine darauf zurückgehende, falsche Kapitalauffassung und die überkommene, auf Hortung ausgerichtete Geldwirtschaft haben die wirtschaftlichen Unternehmen in einen Wachstumszwang geführt, der von Waren- und Arbeitsverschleiss geprägt ist.
Dass ein Produkt auf dem Markt einen Gewinn abwirft oder nicht, bildet das Kennzeichen dafür, dass es produziert werden kann oder nicht. Das Gewinnabwerfen ist wiederum abhängig von der Nachfrage. Diese ist aber im heutigen wirtschaftlichen Leben problematisch, weil immer die Frage besteht, ob zur Nachfrage die entsprechenden Einkommen zur Verfügung stehen. Ob man unter dem Erkennungszeichen des Profits ein Produkt herstellen will, darüber mag die Nachfrage entscheiden. Aber die Nachfrage allein kann nicht darüber entscheiden, ob ein Gut zu einem Preis erzeugt werden kann, der dem Wert aller anderen Güter entspricht, welche der Hersteller zur Befriedigung seiner Bedürfnisse braucht, bis er ein gleiches oder gleichwertiges Gut wieder hergestellt hat, einschliesslich der Bedürfnisse, die durch ihn bei anderen Menschen befriedigt werden müssen.
Jetzt stellt sich eine dritte Frage, nämlich: Sollte nicht das Erkennungszeichen des Profits durch eine vernunftgemässe Vermittlung zwischen Konsum und Produktion abgelöst werden, indem die Unternehmen ihre Produktion in Absprache über Arbeitsverlagerungen untereinander assoziativ so auf die Bedürfnisse ausrichten, jeweils mengenmässig und wertmässig so innerhalb der Gesamtproduktion gewichten, dass die Verkaufserlöse die Einkommen der in ihnen Tätigen zuzüglich der für die nicht in der Güterproduktion Tätigen zusätzlich zu erwirtschaftenden Einkommen decken, wobei – aufgrund eines wirklichkeitsgemässen Kapitalverständnisses – rationalisierungsbedingt, preislich eingeschlossen, immer mehr Leistungen auf die Einkommen entfallen?
Der Ansatz neuer Erkenntnis
Wie setzt nun Rudolf Steiner zur Lösung des heute ungelösten Ausgleiches zwischen Bedürfnissen und Wert der Leistungen gedanklich an?
Er geht von der Erkenntnis aus, die sich schon aus seinen frühen erkenntnistheoretisch grundlegenden Schriften herleitet, nämlich dass der Mensch zwischen zwei Kräften steht, die ihn leiblich und geistig konstituieren und zu vorstellungsmässigen Erkenntnissen und körperlichen Handlungen führen. Wirtschaftlich steht der Mensch zwischen Stoff in Gestalt der Natur und Geist in der Erscheinung der menschlichen Intelligenz. Natur und Intelligenz bilden mit der sie verbindenden Arbeit die beiden Pole der Wertbildung der Leistungen. Den Leistungen stehen die Bedürfnisse gegenüber, die den Leistungen einen Wert beimessen. Dieser steht dem Wert der Leistungen gegenüber, der sich aus deren gegenseitiger Wertbemessung dergestalt ergibt, dass jeder Hervorbringer einer Leistung seine Bedürfnisse und diejenigen der ihm Nahestehenden aus den Leistungen der anderen Leistungserbringer in der Zeit befriedigen kann, die er benötigt, um eine gleiche oder gleichwertige Leistung hervorzubringen.
Steiner schafft den Ausgleich zwischen Bedürfniswert und Herstellungswert, indem er sie zurückführt auf den Entstehungsmoment, wo beide zusammenfallen, sich decken; und das ist das Existenzminimum, das heisst, das Ergebnis körperlicher Arbeit einer Bevölkerungszahl an der von ihr existenziell benötigten Naturgrundlage. Alle Arbeit, die körperlich geleistet wird, kann nur von der Bevölkerungszahl kommen, und alles, womit sich die körperliche Arbeit verbindet, kommt aus dem Boden; denn das ist, was der Mensch benötigt, wovon er lebt. Nun driften in der arbeitsteiligen Wirtschaft, in der dank noch zu erläuternder Kapitalbildung körperliche Arbeit gegenüber geistiger Arbeit in Form der Organisation und Lenkung der körperlichen Arbeit abnimmt, Bedürfniswert und Leistungswert auseinander. Das Gleichgewicht zwischen Bedürfnis und Leistung kann aber gewahrt bleiben, indem dem Existenzminimum eine Zahl angehaftet wird: die Geldschöpfung. Als Zahl bestimmt sie den Geldwert des gekennzeichneten körperlichen Arbeitsergebnisses der Bevölkerung und ist somit an die Bevölkerungszahl gebunden. Pro Kopf der Bevölkerung repräsentiert die Zahl für das Bedürfnis des Einzelnen das Einkommen und für seine Leistung deren Wert, zu dem der Preis eine Vergleichsgrösse darstellt; in ihrer Eigenschaft als Richtgrösse für Einkommen und Wert der Leistung trägt diese Zahl in der Graphik auch die Bezeichnung „Sozialquote“. Das Gleichgewicht bleibt im Wirtschaftsverlauf gewahrt, wenn die Herstellung der Leistungen assoziativ mengenmässig so gewichtet wird, dass ihr Verkaufspreis, der im Ursprung der Geldschöpfung fixierten Einkommenszahl entspricht, womit das vorstehend als übergeordnete Grösse gekennzeichnete Wertverhältnis zwischen „richtigem“ Preis als dem eigentlichen Wert der Leistung und Einkommen erhalten bleibt. Mit anderen Worten: Der Ausgleich zwischen Bedürfnissen und Wert der Leistungen ist gegeben und bleibt gewahrt, wenn die Produktepreise durch assoziativ mengenmässige Gewichtung die Sozialquoten der mit der Güterherstellung Beschäftigten zuzüglich der von ihnen zusätzlich zu erwirtschaftenden Sozialquoten, also die Sozialquoten der im Bildungssektor und im Gesundheitssektor Beschäftigten, der im Staatsdienst Beschäftigten, der Alten, der Kinder und Mütter, erfüllen.
Die Wertsumme der gesamten Leistungen ändert sich bei gleicher Bevölkerungszahl nicht, wenn sich auch die auf die einzelnen Einkommen entfallenden Leistungen infolge zunehmender kultureller Entwicklung quantitativ und qualitativ in Form der Differenzierung mit der Organisation und Lenkung der Arbeit durch die menschliche Intelligenz steigern, weil sich dank dieser das Mehr an Leistungen mit dem Weniger an körperlicher Arbeit kompensiert. Die beiden Pole der wirtschaftlichen Wertebildung, körperliche Arbeit an der Natur und intelligente Organisation der Arbeit (geistige Arbeit), stehen in einem invers polaren Verhältnis zueinander. Die eigentliche Kapitalbildung liegt also in der Einsparung körperlicher Arbeit unmittelbar am Boden und liegt nicht, wie heute aufgefasst, dem aus dem Verkaufserlös nach Abzug der Arbeitskosten verbleibenden, individuell geldlich ausscheidbaren Überschuss zugrunde.
Das aus der inversen Polarität der wirtschaftlichen Wertebildung sich herleitende neue Kapitalverständnis als Gegenwert mittels intelligenter Arbeitsorganisation eingesparter körperlicher Arbeit unmittelbar an der Natur macht klar, dass die Finanzierung der im Gesundheits- und im Bildungssektor Tätigen sowie diejenige der Rentner mittels der Sozialquoten zu erfolgen hat, die von den in der Güterproduktion Tätigen zusätzlich zu erwirtschaften sind, aber auch dank entsprechender Kapitalbildung erwirtschaftet werden können.
Die Verbindung von Seins- und Sollwissenschaft
Mit der vorstehend dargelegten Geldschöpfung, durch die die Geldmenge in den Leistungen aufgeht und das Geld Buchhaltung der Leistungen wird, wird der als Ergebnis körperlicher Arbeit unmittelbar am Boden definierte Naturwert in den messbaren wirtschaftlichen Wert umgewandelt, in das Urmass, die Richtgrösse für Preise und Einkommen anstelle der andernfalls unbestimmten Zahl des Preises. Damit wird das Bedingte in Gestalt des besagten Naturwertes zum Bedingenden: nämlich dieser Naturwert in der Funktion der Geldzahl zur preislichen Richtgrösse für Einkommen und Produktion, und im so geschaffenen Parallelismus von Sach- und Zeichenwert verbinden sich Seins- und Sollwissenschaft.
Was ist nun das bei Rudolf Steiner gegenüber der herkömmlichen Wirtschaftslehre erkenntnismässig offensichtlich Weiterführende? Machen wir uns das Methodische beider gedanklicher Ansätze nochmals klar: Die heutige Lehre geht vom fertigen Arbeitsergebnis aus ganz nach der Methode und Erkenntnisauffassung der herrschenden Naturwissenschaft. In dieser Auffassung ist Wahrheit die ideelle Abspiegelung eines äusseren, transzendenten Realen, einer Wirklichkeit, welche durch Sinneswahrnehmungen verursachende Prozesse vermittelt wird. Offen bleibt in dieser Anschauung, wie die empirisch gewonnenen, verursachenden Prozesse in die bewirkten Wahrnehmungen übergehen. Erkennen ist die begriffliche Wiederholung einer auch ohne den Erkennenden vorhandenen Wirklichkeit. Der Übereinstimmung von innerlich gegebenem Begriff mit der äusserlich gegebenen Sinneswahrnehmung liegt keine Gewissheit zugrunde; sie hat hypothetischen Charakter. Die Rolle des Menschen als eines Erkennenden reduziert sich auf diejenige eines ausserhalb des Transzendenten befindlichen Zuschauers. Bestehen bleibt das Problem: Wie hängt das, was der Mensch in der Sinneswahrnehmung als äusserlich erlebt, mit dem zusammen, was er im Denken als innerlich erlebt? Es ist dies auch die Frage nach dem Zusammenhang der natürlichen mit der moralischen Weltordnung. Diese Frage kann die gekennzeichnete Erkenntnistheorie nicht beantworten, weil sie die Sinneswahrnehmungen als ein auf sich Beruhendes, in sich Abgeschlossenes und als solches als Innenerlebnisse betrachtet, die von sich aus nichts zeigen, was auf eine Wirklichkeit weist.
Rudolf Steiner geht in seiner Wirtschaftslehre von zwei wertebildenden Prozessen aus: Erstens, Arbeit angewandt auf die Natur als Stoff, und zweitens, Arbeit organisiert durch Geist in Form der Intelligenz. Er geht in der Erkenntnis davon aus, dass mit dem Menschen zwei Kräfte zur Erscheinung kommen und zwar mit ihm als „Opfer“ und „Täter“ zugleich, ihn konstituierend und durch ihn im Erkenntnisprozess erscheinend: daher Anthroposophie. Keine der beiden Kräfte darf man für sich bestehend vorstellen; sie treten immer gemeinsam auf, bedingen einander und machen zusammen die Wirklichkeit aus. Die eine ist gegen ein Zentrum als Zentral- oder Druckkraft, die andere peripher gegen eine Sphäre als Universal- oder Saugkraft zu denken. Die Zentralkraft wirkt trennend, absondernd, individualisierend; die Universalkraft invers polar dazu verbindend, auflösend, generalisierend. Zunächst kommt dem heutigen Menschen als „aussen“ nur die Zentralkraft in Form des Gewichtsdruckes ins Bewusstsein. Das Denken, beruhend auf der Universalkraft mit ihrem Verbindenden und Generalisierenden, kommt ihm als „innen“ ins Bewusstsein, aber als Tätigkeit nur, weil und soweit es mit dem Willen verbunden ist, wie der Wille uns nur bewusst ist, soweit er mit dem Denken verbunden ist. Die Zentralkraft setzt sich nach „innen“ fort, physiologisch als Nervenfunktion und seelisch als Wille; die Universalkraft nach „aussen“, physiologisch als Stoffwechsel und in der Natur als Wachstumskraft. Der Mensch erlebt die beiden Kräfte in Form einer doppelten Inversion (s. Graphik).
Im Sinne des Invers-Polaren sind die Willensimpulse mit den Stoffwechselvorgängen und die Vorstellungen mit der Nervenfunktion zu sehen. Die einheitliche Wirklichkeit erscheint uns zunächst kraft der Inversion als Gegensätzlichkeit, Ergebnis eines invers polaren Prozesses, der sich in Wahrnehmen und Denken manifestiert und im Erkenntnisprozess aufgehoben wird. Keine der beiden Erkenntnistätigkeiten (Wahrnehmen und Denken) dürfen als etwas Absolutes, auf sich Beruhendes genommen werden; sie wirken immer gemeinsam. Hinter dem Fassen und Wiedererinnern eines Gedankens spielt sich der gleiche Vorgang ab wie beim Zustandekommen einer Sinneswahrnehmung. Zunächst erleben wir als „aussen“ nur die Wahrnehmungen und die Begriffe nur als „innen“. Wir erleben zunächst nicht das Denken als Universalkraft aussen, mittätig beim Zustandekommen einer Sinneswahrnehmung. Dass die Sinneswahrnehmungen zunächst als etwas Absolutes, auf sich Beruhendes erlebt werden, muss als entwicklungsgeschichtlich bedingte Stütze des Denkens auf dem Weg zu einem individuellen und freien Denken verstanden werden. Würden die beim Zustandekommen einer Sinneswahrnehmung wirkenden Prozesse kontinuierlich nach „innen“ unmittelbar erlebbar bzw. das Denken nach „aussen“ als Universalkraft, wären es Lebensprozesse und keine Bewusstseinsprozesse. Wird das Denken immer mehr vom Willen geführt, tritt als Gegebenes an die Stelle der Sinneswahrnehmung das Gedächtnis bzw. die Erinnerung, was bewirkt, dass die am Zustandekommen der Sinneswahrnehmung beteiligte, nicht bewusste Denktätigkeit in das bewusste Denken übergeht. Und dieses mit den Elementen der Erinnerungsvorstellungen tätige Denken wird als solches wahrgenommen.
Es erhebt sich nun die Frage: Gibt es im menschlichen Bewusstsein einen Ort, wo beide Kräfte zusammenfallen und zusammenwirken? Ja, im „Ich“, indem der Mensch aus seinem Denken, dem Denkwillen heraus mit dem Begriff des „Ich“ dessen Wirklichkeit schafft.
Solange nur die Zentralkraft im Bewusstsein auftaucht, wähnt sich das Ich mit dem Inhalt seiner Begriffe und Vorstellungen ausserhalb des Transzendenten und sieht in den das Äussere vermittelnden Sinneswahrnehmungen etwas auf sich Beruhendes, Absolutes. An dieser Auffassung ist die herkömmliche Philosophie als Erkenntnistheorie gescheitert, dass sie nicht erkannt hat, dass das Denken, das auf der Universalkraft beruht, beim Zustandekommen der Sinneswahrnehmung – zunächst unbewusst – mitbeteiligt ist.
Mit der Erkenntnis der beiden die Wirklichkeit ausmachenden Kräfte beginnt sich das Ich als in der Gesetzmässigkeit des Transzendenten zu wissen und die inverse Polarität der Kräfte zu verstehen. Daraus ergibt sich das Verständnis dafür, im Wirtschaftlichen zwischen Natur in Gestalt des Stoffes und Geist in der Erscheinung der Intelligenz zu stehen und als Wirtschaftender mittels Arbeit zwischen den Polen Naturwert und Geistwert zu wirken. Ohne diese Erkenntnis kommt man nicht in die Lage, den wirtschaftlichen Wert bzw. die Sozialquote als das Mittel des Ausgleiches zwischen Bedürfnis und Wert der Leistung zu erfassen.
Der aus der körperlichen Arbeit unmittelbar an der Natur entstehende Wert ist als Existenzminimum über die Bevölkerungszahl verteilt zu denken. Die durch die intelligente Organisation ersparte körperliche Arbeit kompensiert sich mit dem durch die intelligente Arbeitsorganisation erzeugten materiellen Wert. Was von der intelligenten Arbeitsorganisation der körperlichen Boden- bzw. Naturbearbeitung entgegenwirkt, führt den Wert der einzelnen immer differenzierteren materiellen Leistungen geldzahlenmässig auf ein Geringeres zurück, das heisst, diese werden preislich billiger. Aber der Gesamtwert der Leistungen bleibt bei gleicher Bevölkerungszahl gleich. Dem Ausscheidenden der Zentralkraft liegt mit dem entgegenwirkenden „Aufsaugenden“ der Universalkraft etwas Kompensatorisches zugrunde. Der in der Bodenbearbeitung Tätige (Bauer) erwirtschaftet dank des „Geistesarbeiters“ Kapital, scheidet Kapital aus und stellt den „Geistesarbeiter“ von der Bodenbearbeitung frei. Der „Geistesarbeiter“ (Arzt, Lehrer) verbraucht das Kapital, das ihm die Bodenbearbeitung erspart. Die beiden Tätigkeiten – Bauer / Arzt – sind wie Plus und Minus zu betrachten. Der Arzt ist bezüglich des Verhältnisses seines Einkommens zum dazugehörigen Wertbildungspol nicht wie der Bauer zu sehen, sonst müsste er jeden zum Kranken erklären, um zu Einkommen zu kommen. Die nicht auf der invers polaren Wertbildung beruhende heutige Finanzierung des Gesundheitswesens macht dieses zum Fass ohne Boden.
Repetieren wir nochmals die invers polare Wertbildung: Alles, womit sich die körperliche Arbeit verbindet, kommt aus dem Boden, stammt aus der Natur. Davon lebt der Mensch. Die geistige Arbeit erspart körperliche Arbeit, sie führt zu mehr materiellen Leistungen, sie erhöht die materielle Wertbildung, das heisst, sie schafft Kapital, das den „Geistesarbeiter“ von der körperlichen Arbeit am Boden freistellt, diesen unterhält. Wirtschaftlich gesehen entspricht dem Wert der geistigen Arbeit, was sie an körperlicher Arbeit unmittelbar am Boden erspart.
Die einseitige, abstrakte Sicht der Geldbeschaffung mittels intransparenter Steuererhebungen und sonstiger Abgaben für die Finanzierung der Sektoren Bildung/Wissenschaft, Gesundheit sowie Altersversorgung wird sich auf die Lebensbedingungen der Gesellschaft immer verhängnisvoller auswirken. Das kann nur verhindert werden, wenn der Zusammenhang zwischen dem Wert der Leistungen und den Einkommen erkannt wird, was auch ein neues Verständnis der Geldschöpfung und Kapitalbildung erfordert. Damit würde der Gesellschaft ein weiterer Konfliktstoff genommen, der darin besteht, dass aus dem herkömmlichen, überholten Kapitalverständnis heraus angestrebt wird, vermittelst zunehmenden Stoffverbrauches und Geldmengenzuwachses eine zunehmende Kapital- und Vermögensbildung zu erzielen, deren parasitäre Gewinnabschöpfung aus der Güterherstellung argumentativ die individuellen Einkommen vor allem im Rentenalter abdecken soll. Der damit verbundene Druck auf die Arbeitnehmereinkommen führt zu einem Auseinanderklaffen der unteren von den oberen Einkommen, was wiederum mittels Steuern umverteilend auszugleichen angestrebt wird. Güterbezogene Steuern und Abgaben dienen dem Einheitsstaat auch, das Bedürfnis- und Konsumverhalten der Bevölkerung zu dirigieren, wodurch er nicht nur Wirtschaftliches mit Rechtlichem, sondern auch mit Geistigem (Wissenschaftlichem) vermengt. Die Vermengung der drei gesellschaftlichen Faktoren Wirtschaft, Recht/Politik und Bildung/Wissenschaft sowie der Mangel, den Zusammenhang zwischen dem Wert der Leistungen und den Einkommen im Wirtschaftsprozess zu erkennen, wird den Menschen in diesem Jahrhundert noch aussergewöhnlich zu schaffen machen. Es wird dies der Fall sein, weil man nicht willens, aber deshalb auch nicht fähig war, auf die Gedanken Rudolf Steiners grundlegend einzugehen, ohne aus überkommenen Denkgewohnheiten heraus Zerrbilder in seine erkenntnisreichen Gedankengänge hineinzuprojizieren.
Alexander Caspar
Kilchberg, Mai 2019