Nazi-Vergleiche: Die schwierige Balance zwischen Taktgefühl und historischer Verantwortung

03.10.2021

Corona-Virus

„Meine Damen und Herren, wir impfen Deutschland zurück in die Freiheit!“ verkündete Jens Spahn und sorgte dafür, dass Ungeimpfte zunehmend mit Repressalien rechnen müssen: Zutrittsbeschränkungen, kostenpflichtige Tests und nun sogar Lohnabzüge.[1] [2] Maßnahmen-Kritiker werden öffentlich beschimpft, zur Schau gestellt und müssen sich tagtäglich gegen ein wachsendes Heer selbsternannter Sittenwächter zur Wehr setzen. Wer hier eine „Blockwart“-Mentalität am Werke sieht, sollte seine Worte jedoch mit Bedacht wählen: in München muss aktuell ein 45jähriger Mann mit bis zu fünf Jahren Haft rechnen, weil ihn das Spahnsche „in die Freiheit impfen“ an das Hitlersche „Arbeit macht frei“ erinnerte.[3] Nazi-Vergleiche sind Tabu, ja sogar verboten, wie der Fall des Müncheners zeigt – schließlich könnten sich Juden durch eine Verharmlosung des Holocaust verletzt zeigen. Doch dürfen Nazi-Vergleiche angesichts der besonderen historischen Verantwortung Deutschlands wirklich Tabu sein? Und was ist an ihnen dran?

Die Situation von „Querdenkern“ und „Impfverweigerern“ mit der von Juden im Nazi-Deutschland gleichzustellen, ist abwegig und geschmacklos – kein Wunder also, wenn die Protest-Aktion des Müncheners für Empörung sorgt. Doch wie immer, wenn Empörung im Spiel ist, besteht die Gefahr, dass das abschreckende Beispiel im öffentlichen Diskurs als intellektuelle Barriere fungiert und den Zugang zu ganz anderen Themen-Komplexen versperrt. Wer sich in den vergangenen zwei Jahren um eine differenzierte Sicht auf das Corona-Virus und die Gegenmaßnahmen der Bundesregierung bemühte, konnte dies schmerzhaft erfahren: jegliche Kritik scheiterte daran, dass sie automatisch mit „Corona-Leugnern“ und „Rechtsradikalismus“ assoziiert wurde. Derselbe Mechanismus bewirkt nun, dass auch Hinweise auf Parallelen zur Geschichte reflexartig zurückgewiesen werden. Das muss jedem, der ein wenig um die besondere historische Verantwortung Deutschlands weiß, die allergrößten Sorgen bereiten. Denn obschon das „Corona-Regime“ nicht mit dem Nazi-Regime, und das Infektionsschutzgesetz nicht mit dem Ermächtigungsgesetz von 1933 gleichzusetzen ist, so erinnert doch vieles, was in den vergangenen zwei Jahren geschah, an die tragischen Ereignisse am Vorabend des zweiten Weltkrieges.

Das Ermächtigungsgesetz von 1923

Die Demokratie war in der „verspäteten Nation“ gerade erst 5 Jahre jung, als die Regierung sich mit einer extremen Notlage konfrontiert sah: der Hyperinflation. Am 13. Oktober 1923 beschloss der Reichstag deshalb die eigene Entmachtung auf „finanziellem, wirtschaftlichem und sozialem Gebiet“ zu Gunsten einer „Ermächtigung“ der Regierung. Die Volksvertreter fügten hinzu: „Dabei kann von den Grundrechten der Reichsverfassung abgewichen werden.“[4] Auf Grundlage dieses „Ermächtigungsgesetzes“ gelang Stresemann dann das „Wunder der Rentenmark“. Die Hyperinflation konnte gestoppt, die schlimmste Not vorerst gelindert werden. Gemessen an der unmittelbaren Notlage erschien die Schwächung des Parlaments als notwendiger und richtiger Schritt; und der kurzfristige Erfolg gab der Regierung recht. Allerdings verlor die Mittelschicht mit der Einführung der Rentenmark ihre gesamten Ersparnisse und wurde „dem Staat entfremdet“. Volkspsychologisch bildete dies den Nährboden für den wenig später folgenden Zerfall der Republik und den Aufstieg Adolf Hitlers. Zugleich schuf das Ermächtigungsgesetz von 1923 einen Präzedenzfall, dem weitere Ermächtigungs- und Notstandsgesetze folgten. Als Hitler hieran 1933 mit seinem finalen Ermächtigungsgesetz anknüpfte und so das „dritte Reich“ begründete, war die Demokratie bereits ausgehöhlt. Daniel Koerfer, Professor für Zeitgeschichte an der Freien Universität Berlin, erklärt: „Jene aus dem bürgerlichen Lager, die 1933 Hitler und seinen Paladinen zur verfassungsändernden Zweidrittelmehrheit verhalfen, wussten noch, was zehn Jahre vorher geschehen war. Sie vertrauten jener Erfahrung, die heute gänzlich vergessen ist […] Auf dem Weg zu diesem letzten Ermächtigungsgesetz stehen seine kleinen Cousins Spalier – die Notverordnungen. Mehr als 130 sind es seit 1919. Und zwei ganz besonders bedeutsame stehen am Schluss. Eigentlich sind diese beiden Notverordnungen das Grundgesetz des Dritten Reiches, wie schon Ernst Fraenkel schreibt. Sie bereiten dem Maßnahmenstaat den Boden, höhlen den Normenstaat von BGB und Weimarer Reichsverfassung schon bereits entscheidend aus, setzen die zentralen Grund- und Menschenrechte, von der Versammlungsfreiheit bis zum Postgeheimnis, außer Kraft.“[5]

Das informelle Corona-Gremium

Anfang 2020 sah sich Berlin wiederum mit einer extremen Notlage konfrontiert: ein neuartiges Virus breitete sich aus und würde, so schien es, allein in Deutschland hunderttausende Opfer fordern. Die Regierung handelte – und ließ das Parlament außen vor. Im ZDF-Interview bemerkte der Staatsrechtler Stephan Bröchler hierzu: „Das in der Verfassung nicht vorgesehene informelle Corona-Gremium aus Bundeskanzlerin und Ministerpräsidenten schwächt den Bundestag“, und seine Kollegin Andrea Edenharter fügte hinzu: „Wir haben es hier mit extrem einschneidenden Grundrechtseingriffen zu tun. Das sind wesentliche Fragen, bei denen das Parlament vorher gehört werden müsste...“[6] Allerdings war die Schwächung des Parlaments lediglich ein Teilaspekt einer umfassenden Demontage unserer demokratischen Grundordnung. Im Namen der Volksgesundheit wurden mediale Kontroll- und Steuerungsmechanismen installiert, die äußerst effektiv die Verbreitung nicht genehmer Meinungen verhinderten, den Fokus der Medien-Konsumenten auf eng definierte Diskurse lenkten und somit „Öffentlichkeit“ im eigentlichen Sinn des Wortes unterbanden.[7] Wie für Stresemann, so kann man indes durchaus auch für Angela Merkel und ihre Minister Verständnis haben. Wenn sämtliche Entscheidungen erst parlamentarische Debatten hätten durchlaufen müssen, wenn man gar einen öffentlichen Diskurs gewagt hätte – wieviel Zeit, und wieviele Leben würde das gekostet haben? Gemessen an der unmittelbaren Bedrohung durch das Corona-Virus, wie sie sich für die politischen Verantwortungsträger darstellte, erscheint die Außerkraftsetzung demokratischer Grundregeln ab dem Frühjahr 2020 nachvollziehbar.

Unvorhergesehene Nebenwirkungen

Das resolute Durchgreifen der Bundesregierung rettete möglicherweise viele tausend Menschenleben. Gleichwohl könnten sich die kulturellen, wirtschaftlichen und politischen Folgen dieses Vorgehens als weitaus tödlicher erweisen als das Virus selbst. Die Gesellschaft ist gespalten wie nie zuvor. Während ein Teil der Bevölkerung die stetig wechselnden, oftmals widersprüchlichen Anordnungen im Vertrauen auf die Autorität der Bundesbehörden und ihrer wissenschaftlichen Berater über fast zwei Jahre hinweg bereitwillig befolgte, wurde ein anderer Teil den staatlichen Institutionen entfremdet. Und während die Maßnahmen-Befürworter im gemeinsamen Befolgen der Regeln ein neues Wir-Gefühl zu erleben glaubten, steigerte sich für die Kritiker die physische Quarantäne zur seelisch-geistigen Isolation. Wohin sollten sie sich wenden? Die Medien jedenfalls überließen Kritik an den Maßnahmen lieber Rechtspopulisten, welche die Rollenzuweisung als „vierte Gewalt“ im Staat bereitwillig annahmen und es geschickt verstanden, den Vereinsamten aus den Herzen zu sprechen.

„Wer einen Wert absolut setzt, und sei es die Gesundheit, der er angeblich dient, um damit alle relevanten Grund- und Freiheitsrechte auszuhebeln, hat den Boden der freiheitlich-demokratischen Grundordnung verlassen!“ Diese Mahnung stammt nicht etwa von einer etablierten „Volkspartei“, sondern von Björn Höcke, der sich Dank der Steilvorlage der Bundesregierung nun als Wächter der Demokratie gebaren und ein glänzendes Comeback hinlegen kann.[8] Dass die Stimme der Vernunft für immer mehr Menschen am ehesten noch im Lager rechter Gruppierungen zu finden ist, ist eine unmittelbare Folge der Sabotage des öffentlichen Diskurses durch Angela Merkel und ihre Minister. Das ist selbstverständlich keine Entschuldigung für radikale Bestrebungen. Aber es zeigt doch die Verlogenheit der gegenwärtigen Politik, die jegliche abweichende Meinung als „Rechtsradikalismus“ stigmatisiert, während sie diesen gerade damit fördert. Was hätte es Angela Merkel beispielsweise gekostet, zuzugeben, dass die finanzielle Abhängigkeit der WHO von Bill Gates selbstverständlich ein Problem ist? Es wäre ihr unbenommen geblieben, den von Gates vorgezeichneten Weg dennoch für richtig zu halten und zu verteidigen. Stattdessen sorgte sie dafür, dass jegliche Kritik am Konzernboss mit Rechtsradikalismus assoziiert wurde, verhinderte den Diskurs – und machte die Maßnahmen erst dadurch verdächtig.

Am Ende zählen die Fakten

Die Geschichtsschreibung wird das Handeln der Bundesregierung nicht allein an seiner Effektivität im Hinblick auf das Corona-Virus, sondern an seinem gesamten Wirkungsspektrum messen. Sie wird in diesem Zusammenhang auch fragen, weshalb andere, demokratieverträglichere Methoden der Virus-Bekämpfung erst gar nicht in Betracht gezogen wurden. Ob das Vorgehen der Bundesregierung durch eine „Mehrheit der Wissenschaftler“ gedeckt war oder ob jede(r) andere an Merkels Stelle genauso gehandelt hätte, interessiert dann niemanden mehr – dann zählen die durch die Corona-Politik gewordenen Fakten.

Am Ende des Tages tragen nicht die beratenden Experten die Verantwortung, sondern die Politiker, die das Expertenwissen ins praktische Handeln übersetzten. Wie sich die Corona-Schulden auf die Realeinkommen in Deutschland auswirkten, welche Übersterblichkeit die Unterversorgung anderer Bereiche des Gesundheitswesens produzierte und was der zusätzliche Wachstumszwang für die außenpolitische Orientierung Deutschlands bedeutete, all das wird die Geschichtswissenschaft beschäftigen. Die nationale Abschottung inmitten einer globalisierten Wirtschaftswelt hat bereits heute nicht nur hunderttausende Existenzen ruiniert, sondern zudem den ohnehin wiedererstarkenden Nationalismus weiter aufgepeitscht. Aufgrund der Grenzschließungen und der Angst vor Ansteckung habe sich „eine gewisse Feindseligkeit gegenüber unseren französischen Freunden“ breit gemacht, berichtet etwa Michael Clivot, Bürgermeister einer kleinen Gemeinde im geschichtsträchtigen Saarland. „Franzosen trauen sich zum Teil gar nicht mehr hierher“, manche würden „beschimpft und auf der Straße angehalten“.[9]

Vergleichen oder Gleichsetzen?

Die Gefühle von Juden nicht durch Vergleiche zu verletzen, ist eine Sache. Dafür Sorge zu tragen, dass sich die Geschichte nicht wiederholt, eine ganz andere. Wer letzteres will, muss vergleichen. Das vergleichende Denken fragt: was ist das Wesentliche? Es stellt die Phänomene einander gegenüber und untersucht, auf welche tieferen Ursachen die äußeren Symptome hinweisen. Der Holocaust ist Wirkung, nicht Ursache der nationalsozialistischen Schreckensherrschaft. Ursächlich war die Aushöhlung der Demokratie, die Enttäuschung über die Parlamentarier, die dadurch bewirkte Sehnsucht nach einer starken Führung, Obrigkeitshörigkeit und Autoritätsgläubigkeit der Massen, die wirtschaftliche Not, der im „gemeinsamen Kampf“ gegen eine gefühlte Bedrohung erzeugte innere Zusammenhalt, das bloß konstruierte, weil durch Abgrenzung und Hass indirekt bewirkte Selbstbewusstsein, und vieles mehr. Die den Nationalsozialismus bedingenden Faktoren mögen zu Beginn des 20. Jahrhunderts in Deutschland ideale Voraussetzungen gefunden haben, sind aber als solche nicht zeitlich gebunden. Demokratie ist deshalb auch kein statischer Zustand, sondern ein permanentes Ringen mit den ihr widerstrebenden Kräften in der Form, wie sie in der jeweiligen Gegenwart wirksam werden. Dabei kommt es gerade darauf an, sie bereits im Keimzustand, in dem sie noch keine mit dem Holocaust vergleichbaren Folgen zeigen, zu erkennen und zu bekämpfen.

Wer „Vergleichen“ mit „Gleichsetzen“, Wirkung und Ursachen verwechselt, kann die Menschheitsgeschichte weder verstehen noch beeinflussen. Selbstverständlich ist das Infektionsschutzgesetz des 21. Jahrhunderts nicht mit dem Ermächtigungsgesetz von 1933 gleichzusetzen. Doch die Entkoppelung der Regierung von Parlament und Volk, die damit einhergehende Entfremdung weiter Bevölkerungsteile von den staatlichen Institutionen, die zunehmende Polarisierung der Gesellschaft, das Erstarken radikaler und rechtsnationaler Strömungen, welche die Sehnsucht der Entfremdeten bedienen, die wachsende wirtschaftliche Not – all das erinnert an den Vorabend des Dritten Reiches. Nur wer das erkennt, weil er vergleicht und so zu den Ursachen vordringt, kann etwas zum Erhalt der freiheitlich-demokratischen Gesellschaft beitragen.

Deutschland ist nicht irgendein Land

Die im Zuge der Corona-Maßnahmen geschaffenen anti-demokratischen Strukturen werden mit dem Ende der Pandemie nicht von selbst wieder verschwinden. Und die Erfahrung, dass wir gemeinsam eine tödliche Bedrohung besiegten, indem wir Menschenrechte aufgaben, den Diskurs vermieden und die Regierung zum Durchgreifen ermächtigten, wird sich in unser kollektives Gedächtnis einbrennen. Damit ist vorbestimmt, wie wir auf die nächste Notlage reagieren. Am Ende dieses Weges wird uns kein untersetzter Herr mit Schnauzbart erwarten, nein, der Totalitarismus wird dann zeitgemäße Kleider tragen. Den diesbezüglichen Sorgen der Bürger so zu begegnen, dass man jegliche Vergleiche mit der Geschichte als „infame Kampagne“ von „Corona-Leugnern“ und „Querdenkern“ anprangert, ist verantwortungslos und eines deutschen Politikers unwürdig. Ist es nicht umgekehrt die oberste Pflicht jedes deutschen Staatsbürgers, zu vergleichen? Sollten nicht gerade die Deutschen jeglichen Rückbau demokratischer Prozesse kritisch hinterfragen – gerade dann, wenn eine Notlage ihn zu fordern scheint? Es scheint fast, als habe Deutschland vor lauter Virenangst seine historische Verantwortung vergessen.

Dass andere Länder ähnlich vorgegangen sind, ist keine gute Ausrede. Deutschland ist aufgrund seiner Geschichte nicht irgendein Land, und wird vom Ausland auch nicht so gesehen. Wenn der Gesundheitsminister Deutschland als „Musterbeispiel“ für effektive Corona-Maßnahmen anpreist und prahlt: „Das ist unsere Stärke: Innovationen, Impfstoffe, übrigens auch der erste Corona-Test auf der Welt kam aus Deutschland“,[10] möchte man ihn deshalb am Kragen zupfen und flüstern: „Jens, gerade diese „Stärke“ bitte nicht ganz so laut betonen! Vielleicht werden wir noch bereuen, dass ausgerechnet wir das alles erfunden haben, vom PCR-Test bis hin zum mRNA-Impfstoff.“

Johannes Mosmann, Berlin, 03.10.2021

Anmerkungen

[1] Jens Spahn in einer Wahlrede in Herrenberg am 19.8.2021

[2] https://www.hna.de/politik/corona-lohnabzug-ungeimpfte-quarantaene-jens-spahn-deutschland-pandemie-news-zr-90968605.html

[3] https://www.sueddeutsche.de/politik/corona-impfgegner-rechtsextreme-antisemitismus-1.5362745

[4] https://de.wikisource.org/wiki/Ermächtigungsgesetz._Vom_13._Oktober_1923

[5] https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/hitlers-ermaechtigungsgesetz-die-grosse-vollmacht-12123561.html?printPagedArticle=true#pageIndex_2

[6] https://www.zdf.de/nachrichten/politik/corona-bundestag-mpk-staatsrecht-coronakabinett-100.html

[7] https://norberthaering.de/medienversagen/militaer-geheimdienste-zensur-youbute-impfungitung-der-internet-zensur/

[8] https://afd-thl.de/2021/08/10/hoecke-der-weg-in-den-totalitarismus-ist-vorgezeichnet/

[9] https://www.t-online.de/nachrichten/deutschland/id_87674710/corona-rassismus-im-saarland-franzosen-trauen-sich-gar-nicht-mehr-hierher-.html

[10] Jens Spahn in einer Wahlrede in Herrenberg am 19.8.2021