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Übervorteilung der Arbeitnehmer
Leistungslose Einkommen, Arbeitsrecht und Übervorteilung der Arbeitnehmer - Das moderne Tributsystem
Quelle
„KERNPUNKTE“
Jahrgang 4, Nummer 13, November 2021, S. 4-6
Nachdruck mit freundlicher Genehmigung des Autors und der Zeitschrift
Bibliographische Notiz
„Woher kommen die Schäden im sozialen Leben? […] Davon, […] dass wir nicht bemerken, wie wir in der Lebenslüge leben, wie dem Arbeiter sein Teil abgenommen wird. […] Das heißt ihn betrügen, ihn übervorteilen.“[1]
Rudolf Steiner
Fragestellung
Im Folgenden soll der von Rudolf Steiner im Eingangszitat aufgeworfenen Aussage nachgegangen werden, ob und inwiefern Arbeitnehmer auch heute noch durch das bestehende Arbeitsrecht betrogen oder übervorteilt werden. Wie das genau geschieht und um die Größenordnung der Übervorteilung abzuschätzen, soll am Beispiel der „Daimler AG“ herausgearbeitet werden. Ich gehe davon aus, dass bei Analyse der Zahlen anderer Großunternehmen in Deutschland ähnliche Ergebnisse herauskämen. Daimler wird hier also nur als Fallbeispiel gewählt, nicht um das Unternehmen kritisieren zu wollen.
Zahlen der „Daimler AG“
Ein Blick in die Zahlen der „Daimler AG“ zeigt folgendes. Der Gewinn vor Zinsen und Steuern (EBIT) betrug in den letzten drei Jahren 11.132 Millionen Euro (unbereinigtes EBIT 2018)[2], 10.276 Millionen (bereinigtes EBIT 2019)[3] und im Lockdown-Krisen-Jahr 2020 überraschend
[Kernpunkte, Jahrgang 4, Nummer 13, November 2021, Seite 4]
hohe 8.640 Millionen Euro (bereinigtes EBIT).[4] Im ersten Halbjahr 2021 belief sich das bereinigte EBIT auf geradezu sensationelle 10.388 Millionen Euro,[5] das dürfte der höchste Halbjahresgewinn der etwa 140-jährigen Unternehmensgeschichte sein.
Der Gewinn steht den Eigentümern, das heißt den Aktionären zu. Er fließt ihnen entweder in Form von Dividenden zu oder bleibt als einbehaltener Gewinn im Unternehmen und erhöht dadurch den Unternehmenswert und damit auf Dauer den Aktienkurs. Die wichtigsten Aktionäre von Daimler sind chinesische und kuwaitische Großinvestoren. Private Anleger halten 21,3 Prozent der Aktien, 78,7 Prozent sind in Händen von institutionellen, das heißt Großinvestoren, 33,1 Prozent der Aktien gehören inländischen Anlegern.[6] Vermutlich wissen einige der Aktionäre und insbesondere die Anleger, die den institutionellen Investoren ihre Gelder anvertrauen, nicht einmal so ganz genau, wo beispielweise Sindelfingen eigentlich liegt.
Die Aktionäre erzielen daher so genannte leistungslose Einkommen, das sind Einkommen für die man nicht zu arbeiten braucht oder „Nicht-Arbeitseinkommen“.[7] Anders ausgedrückt: Man bekommt Zuflüsse auf sein Aktienpaket in Form von Dividenden oder Kurssteigerungen, auch wenn man das Unternehmen gar nicht betritt oder gar nicht weiß, wo die Werke überhaupt sind. Der wohl berühmteste Volkswirt, John Maynard Keynes, nannte diese Art von Investoren, die heute den größten Teil an den Weltkapitalmärkten darstellen, bereits 1936 „functionless investor“, funktionslose, sinnlose Investoren, die man für ein gesundes Wirtschaftsleben nicht brauche.[8] Die könne man problemlos abschaffen. Das stimmt auch.
Die Zahl der Beschäftigten im Daimlerkonzern belief sich von 2018 bis Mitte 2021 auf etwa 290.000 Menschen. Die Lohn- und Gehaltssumme der Arbeitnehmer betrug 2018 22.451 Millionen Euro, 2019 22.672 Millionen Euro, und im Lockdown-Jahr 2020 21.848 Millionen Euro. Für das erste Halbjahr 2021 dürften die Personalkosten daher etwa 11.000 Millionen Euro betragen haben, also etwa die Hälfte der Personalkosten für das Gesamtjahr 2020.
Zählt man die Lohn- und Gehaltssumme und den Gewinn (in Form des bereinigten EBIT) zusammen, so erhält man in etwa die tatsächliche Wertschöpfung im Daimlerkonzern. 2018 betrug die Wertschöpfung in dieser Definition also 33.593 Millionen Euro, 2019 32.948 Millionen Euro, 2020 30.489 Millionen Euro und im ersten Halbjahr 2021 dürfte sie sich auf etwa 21.388 Millionen Euro belaufen haben.
Das Verhältnis der gesamten Wertschöpfung zur Lohn- und Gehaltssumme betrug mithin 2018 1,5, 2019 1,45, im Lockdown-Jahr 2020 1,40 und in der ersten Jahreshälfte 2021 1,94. Die Wertschöpfung war also in den drei Jahren etwa 1,4- bis 1,5 Mal so hoch wie die Personalkosten, im ersten Halbjahr 2021 beinahe doppelt so hoch wie der Personalaufwand. Das heißt, die tatsächliche Wertschöpfung pro Mitarbeiter war in den dreieinhalb Jahren erheblich höher als die Lohn- und Gehaltskosten pro Mitarbeiter. Das ist aus betriebswirtschaftlicher Sicht unter Gewinnmaximierungsgesichtspunkten auch selbstverständlich. Ein Unternehmen stellt nur so lange Beschäftigte ein, wie mindestens die Personalkosten durch den Erlös aus den Produkten gedeckt werden. Im Normalfall muss die Wertschöpfung pro Arbeitnehmer deutlich größer sein als dessen Lohnkosten, sonst werden die Beschäftigten entlassen.
Man kann die obigen Zahlen auch anders ins Verhältnis setzen, nämlich den Anteil der Gewinne an der Wertschöpfung errechnen. Der Anteil der Gewinne bzw. der Aktionäre an der gesamten Wertschöpfung betrug 2018 33,1 Prozent, 2019 31,2 Prozent, im Lockdown-Jahr 2020 28,3 Prozent und im ersten Halbjahr 2021 ungefähr 48,6 Prozent. Wofür? Für Nicht-Mitarbeiten, leistungslos.
Was sagen uns diese Zahlen? Sie sagen, dass die Daimler-Beschäftigten in den letzten dreieinhalb Jahren erheblich mehr erwirtschaftet als sie an Löhnen und Gehältern ausgezahlt bekommen haben. In der Regel haben sie etwa 50 Prozent mehr an Wertschöpfung erbracht, als sie an Lohn und Gehalt bekommen haben.
Was ist mit diesem Mehr an Wertschöpfung geschehen? Wer hat es bekommen? Ein Teil des Mehrertrages ist in Form von Dividenden an die Aktionäre ausgezahlt worden. Die Dividendenzahlungen betrugen in den drei Jahren 2016 bis 2018 etwa 4,47 Milliarden Euro pro Jahr.[9] Danach waren es wegen des Dieselskandals 0,96 Milliarden Euro 2019 und 1,44 Milliarden Euro 2020. Für die Jahre 2021 bis 2025 sollen die Dividenden wieder deutlich steigen, und zwar auf 4 bis 5,5 Milliarden Euro.[10]
Wären die Dividenden in den Jahren vor dem Dieselskandal an diejenigen ausgezahlt worden, die die Produkte tatsächlich erwirtschaftet, da heißt, die die Autos und Lastwagen tatsächlich gebaut haben, so hätte man den Daimler-Beschäftigten in den Jahren 2016 bis 2018 einen Gewinn-Bonus von gut 15 Prozent vom Jahresgehalt (inklusive Sozialausgaben) auszahlen können. In den Diesel-Krisenjahren hätte der Gewinn-Bonus 4 bis 7 Prozent vom Jahresgehalt betragen. In den kommenden Jahren dürfte der Gewinn-Bonus bei 18 bis 22 Prozent liegen. Ich nenne
[Kernpunkte, Jahrgang 4, Nummer 13, November 2021, Seite 5]
Gewinn-Bonus denjenigen Betrag, den die Beschäftigten im Daimler-Konzern erhalten könnten, wenn die Dividenden nicht an die an der Wertschöpfung unbeteiligten Aktionäre, sondern an die Mitarbeiter ausgeschüttet würden.
Der andere, größere Teil der Gewinne, wurde von Daimler in die Gewinnrücklagen gesteckt, um das Eigenkapital zu stärken. Das macht betriebswirtschaftlich und volkswirtschaftlich Sinn. Aber der Nutzen aus den Gewinnrücklagen fließt nicht den Arbeitnehmern, sondern den Aktionären zu, in der Regel in Form von steigenden Aktienkursen.
Anders ausgedrückt wurde den Arbeitnehmern in den letzten dreieinhalb Jahren etwa ein Drittel ihrer Wertschöpfung nicht ausgezahlt, sondern floss in Form von Nicht-Arbeitseinkommen, also leistungslos, den Aktionären zu, die das Unternehmen selten oder nie betreten. Den Arbeitenden wurde also etwa ein Drittel ihrer Arbeitsleistung abgezwackt und den nicht mitarbeitenden Aktionären zugeleitet.
Die Aussagen von Rudolf Steiner
Das ist genau das, was Rudolf Steiner meint, wenn er sagt, dass „dem Arbeiter sein Teil abgenommen wird […]. Das heißt, ihn betrügen, ihn übervorteilen“.[11] Und jetzt wissen wir auch, in welcher Größenordnung das beispielsweise bei „Daimler“ geschieht: Grob ein Drittel wird dem Arbeitnehmer durch die Kapitaleigentümer abgenommen.
Steiner weist auch darauf hin, woran das liegt und dass diese tagtägliche Umverteilung von Arbeitenden zu Nichtarbeitenden den allermeisten Menschen nicht bewusst ist. Es liegt am Arbeitsrecht. Der heutige Arbeitsvertrag behandelt Arbeit laut Steiner wie eine Ware, was falsch ist. Es wird ein Vertrag mit einem fixen Monatslohn geschlossen, statt über die „Verteilung des erzeugten Produktes zwischen dem körperlich Arbeitenden und dem geistig Arbeitenden“, was für Steiner das einzig richtige wäre.[12]
Dadurch, dass diese Prozesse institutionalisiert sind und damit automatisch ablaufen, wissen die wenigsten Menschen von diesen Umverteilungsmechanismen. Sie laufen weitgehend unbewusst ab. Das ist gemeint, wenn Rudolf Steiner sagt, „dass wir nicht bemerken, wie wir in der Lebenslüge leben, wie dem Arbeiter sein Teil abgenommen wird“.[13]
Wie könnte eine faire Lösung ohne Übervorteilung und ohne Lebenslüge aussehen?
Das wäre im Prinzip ganz einfach. Wenn Unternehmen statt als börsennotierte Aktiengesellschaften, die die Gewinne für ihre Aktionäre maximieren, in Form von Stiftungen oder Genossenschaften geführt würden, die nicht nach dem Gewinnmaximierungsprinzip arbeiten, könnte man recht leicht andere Arbeitsverträge einführen, die die Verteilung der produzierten Güter oder Dienstleistungen regelt anstelle der heute üblichen fixen Arbeitsverträge. Man könnte also über Transparenz, Offenlegung, eine fairere Verteilung der Wertschöpfung bewerkstelligen. Der Sorge, dass dann die Arbeitnehmer bei Konjunkturabschwüngen einen Teil ihrer Löhne verlieren würden, könnte man ganz einfach entgegenwirken, indem, ähnlich wie heute, ein guter Teil der erwirtschafteten Gewinne zurückgelegt wird als Reserve für schlechte Zeiten.
Zum Schluss noch Ausführungen von Rudolf Steiner zu diesem Sachverhalt, sowie zu seiner Überwindung:
„Nicht in dem Kapitalismus liegt es, sondern in dem Missbrauch der geistigen Fähigkeiten. […] Machen Sie erst die geistige Organisation gesund, so dass die geistigen Fähigkeiten sich nicht mehr dahin entwickeln, dass sie denjenigen übervorteilen, der arbeiten muss, dann machen Sie den sozialen Organismus gesund.“[14]
„Einzig und allein dadurch, dass dem Geistesleben seine gesunde Wirklichkeit gegeben wird, wird aufgedeckt werden […] in dem Verhältnis zwischen Arbeiter und geistigem Lenker, dass da, wo der Arbeiter übervorteilt ist, er nicht durch die Wirtschaft bloß übervorteilt ist, sondern dadurch übervorteilt ist, dass derjenige, der der Unternehmer ist, seine individuellen Eigenschaften, seine geistigen Eigenschaften in einer nicht richtigen Weise, in einer nicht rechtlichen Weise, in einer nicht menschenwürdigen Weise verwertet. Der Arbeiter wird nicht durch das Wirtschaftsleben ausgebeutet, der Arbeiter wird durch jene Lebenslüge ausgebeutet, die dadurch entsteht, dass im heutigen gesellschaftlichen Organismus die individuellen Fähigkeiten gerade verwendet werden können zur Übervorteilung des Arbeiters, weil sie innerhalb des Wirtschaftsprozesses nicht gesehen werden können von beiden Seiten; innerhalb des gesunden Geisteslebens werden sie von beiden Seiten gesehen und kontrolliert werden.“[15]
[Kernpunkte, Jahrgang 4, Nummer 13, November 2021, Seite 6]
Anmerkungen
[1] Rudolf Steiner. RSV GA 193, S. 82
[2] Daimler Geschäftsbericht 2018
[3] Daimler Geschäftsbericht 2019
[4] Daimler Geschäftsbericht 2020
[5] Daimler Quartalsbricht für das zweite Quartal 2021
[6] Per 31.12.2020, Daimler Geschäftsbericht 2020, S.24
[7] Vgl. Kreiß, Christian, Das Mephisto-Prinzip in unserer Wirtschaft, S.44: https://menschengerechtewirtschaft.de/wp-content/uploads/2020/07/Buch-Mephisto-30.4.20-mit-Bild-1.pdf
[8] Keynes, John Maynard (1964): The General Theory of Employment, Interest and Money, New York (Erstveröffentlichung 1936), S. 376
[9] https://www.boerse.de/dividenden/Daimler/DE0007100000 Auszahlung pro Aktie mal Zahl der Aktien (1.069.800 Stück)
[10] https://www.boerse-online.de/schaetzungen/daimler
[11] GA 198, S.82 Vortrag vom 9.3.1919
[12] GA 198, S.81
[13] GA 198, S.82
[14] GA 193, S.82
[15] GA 328 S.163