Die Instinkte der Franzosen

01.01.1897

Quelle: Magazin für Literatur, 1897, 66. Jg., Nr. 49

Es ist nicht gerade leicht, sich ein zutreffendes Urteil über einen einzelnen Menschen zu bilden. Es kann vorkommen, daß wir jemand bis in die tiefsten Gründe seiner Seele hinein zu kennen glauben und daß er uns doch eines Tages mit einer Tat überrascht, die wir ihm nie und nimmer zugemutet hätten. Viel dunkler als die Einzelseele ist aber die geheimnisvolle Macht, die man als Volksseele, als Inbegriff der Volksinstinkte bezeichnet.

Unglaubliche Überraschungen kann diese Volksseele bereiten. Wenn die Dinge, die sich jetzt in Frankreich abspielen und deren bedauernswürdiges Objekt der Hauptmann Dreyfus ist, mir als Inhalt eines Romans entgegenträten, so würde ich wahrscheinlich den Verfasser als einen Phantasten bezeichnen, dessen Einbildungskraft die Wirklichkeit in unerhörter Weise verzerrt, ja fälscht. Man muß fast jeden Tag umlernen, wenn man die Wirklichkeit verstehen will.

Trocken und nüchtern will ich sagen, was ich meine. Ich habe den Kapitän Dreyfus immer für unschuldig gehalten. Kein einziger der Eindrücke, die ich von dem ersten Tage der Verhandlungen über seine Angelegenheit empfangen habe, bat mich in dieser meiner Überzeugung auch nur einen Augenblick wankend machen können.

Ich will von den Gründen meiner Überzeugung absichtlich nur den allerschwächsten nennen. Wer Menschencharaktere beurteilen kann, wird mich verstehen. Ich sage mir: wer wirklich begangen hat, wessen Dreyfus beschuldigt wird, verhält sich vor und nach der Verurteilung nicht so, wie der Kapitän sich verhalten hat. Alles, was er sagte und tat, trug einen Charakter, der auf das tiefste Bewußtsein der Unschuld hindeutet. Wenn mir heute jemand unwiderlegliche Beweise für die Schuld dieses Mannes brächte, so wäre ich fast versucht, an ein Wunder zu glauben.

Und dennoch haben die Instinkte eines Volkes Dreyfus verurteilt! Unergründlich scheinen mir die Triebfedern dieser Instinkte. Wer da von nationalem Chauvinismus redet, scheint mir eine Banalität auszusprechen. Er will mit einem Wort über große Rätsel hinwegkommen. Wie leicht ist es doch, mit einem solchen Wort sich über die Unbegreiflichkeiten der Wirklichkeit hinwegzuhelfen!

Und was geht heute in Frankreich vor! Man lese, was die Besten der Nation über die Angelegenheit sagen, und man lese, was die zahlreichen andern in der Sache tun. Der gründliche Kenner der Menschenseele, Zola, will Dreyfus Sache zu seiner eigenen machen. Der feinsinnige Octave Mirbeau denkt ebenso. Und ein Mann wie Scheurer-Kestner, an dessen edler Gesinnung zu zweifeln ein Frevel an der Menschennatur wäre, setzt sich für den unglücklichen Kapitän ein. Und das alles genügt nicht, keinen Tag zu verlieren, um über Schuld oder Unschuld des schwergeprüften Mannes Klarheit zu gewinnen. Die Wunderlichkeit der Sache wäre das hervorragendste Gefühl, das man hätte, wenn sie nicht ganz von der Traurigkeit über die Sache in den Schatten gestellt würde.

Dennoch kann ich es nur wunderlich nennen, wenn Schriftsteller, deren Talent ich nach ihren Leistungen aufs höchste schätzen muß, über die Sache sich so aussprechen, wie ich es zum Beispiel vor kurzem in der « Zukunft » gelesen habe. Von all den Wunderlichkeiten, die ein klügelnder Verstand gegen die naive menschliche Empfindung aussprechen kann, scheint mir die wunderlichste, wenn man sagt: wir Deutsche hätten keinen Grund, uns in die Angelegenheiten der Franzosen zu mischen. Ja, hört denn menschliches Mitgefühl da auf, wo die Strafgesetzparagraphen eines Staates aufhören? Ist die Staatsangehörigkeit ein Tyrann, der unsere Empfindung stumpf macht gegen jeden Fremden? Ich kann die Klugheit solcher Menschen nicht begreifen, die ihre Empfindungen nach Diplomatenmanier einrichten. Durch Bismarcks großes Vorbild ist solche Knebelung der Empfindungen sogar schon für Diplomaten veraltet.

Nichts kann uns abhalten, mit einem Menschen, der nach unserer Meinung unschuldig leidet, Mitgefühl zu haben. Das leugnen natürlich auch diejenigen nicht, die ihre Gefühlsäußerungen nach dem Muster der alten Diplomaten einrichten.

Aber es gibt Leute, die es uns übel nehmen, wenn wir unseren Empfindungen einem Franzosen gegenüber aufrichtig und unverhohlen Ausdruck geben. Spricht und schreibt man denn, um seine Empfindungen zu verschweigen? Mir scheint es fast als Pflicht, daß in dieser Sache jeder, der imstande ist die Feder zu führen, so deutlich wie möglich gegen die Stimme eines ganzen Volkes sein Urteil frei heraussage. Es handelt sich um eine Angelegenheit, welche die ganze gebildete Menschheit interessiert. Wer lebhaft empfindet, kann seine Empfindungen auch gegenüber einem Franzosen nicht zurückhalten; selbst wenn er wollte.

Ein Gefühl von Unsicherheit überkommt uns, wenn wir sehen, daß in einer ziemlich einfachen und doch folgenschweren Sache große Volksmassen anders urteilen als wir selbst. Bei großen Dingen, die tiefe Einsicht fordern, sind wir an eine solche Disharmonie zwischen dem Volksinstinkt und dem Urteil des Einzelnen gewöhnt. Aber der Fall Dreyfus fordert keine tiefe Einsicht. Mir scheint, daß da jeder klar sehen kann, der sehen will. Wer den Eindruck hat, daß der Kapitän unschuldig ist, könnte nur durch Dinge umgestimmt werden, von denen bisher auch nicht einmal ein flüchtiger Schein in die öffentlichkeit gedrungen ist.

Wir fragen uns: Wie sollen wir unser Leben einrichten, wenn unser Glaube an den richtigen Fortgang der Weltereignisse jeden Tag in solcher Weise erschüttert werden kann? Um zu leben, müssen wir den Glauben haben, daß unsere Einsicht in die Menschheitsentwicklung nicht jeden Tag in dumpfe Ungewißheit und Unsicherheit verwandelt werden könne.

Solche Gedanken muß die Behandlung des Hauptmanns, der auf der Teufelsinsel schmachtet, in uns anregen.

Den Leuten, die mich darob auslachen, daß ich eine solch einzelne Tatsache mit der ganzen Menschheitsentwicklung zusammenbringe, gönne ich ihr Lachen. Und wenn es zu ihrer Gesundheit beiträgt - man sagt, Lachen sei immer gut -, so freue ich mich sogar. Höchstens gestatte ich mir, solchen Leuten gegenüber zu bemerken, daß nichts klein genug ist, um nicht Fragen anzuregen, die uns bis ins Tiefste unserer Seele hinein erschüttern.

Rudolf Steiner