Adolf Bartels, der Literarhistoriker

01.01.1901

Quelle: Mitteilungen aus dem Verein zur Abwehr des Antisemitismus 1901, II. Jahrgang, Nr.37

Wer nur ein klein wenig sich selbst zu beobachten vermag, der weiß, was es mit der sogenannten « Unbefangenheit » bei geschichtlichen Betrachtungen auf sich hat. Wir urteilen doch alle von einem persönlich gefärbten Standpunkt aus, zu dem uns Ort und Zeit unserer Geburt und das Leben gebracht haben. Am stärksten tritt das zutage, wenn unsere Betrachtung den geistigen Schöpfungen gilt. Es wäre eitel Selbsttäuschung, wenn man sich nicht eingestehen wollte, daß letzten Endes nicht zwei Menschen über ein Bild oder eine Dichtung gleicher Meinung sein können. Und die verschiedenen Meinungen fließen auch in unser geschichtliches Urteil ein. Der wird den geschichtlichen Zusammenhang, in den er Lessing stellt, ganz anders schildern, der in ihm den großen Pfadfinder der neuen Literatur sieht; und ganz anders derjenige, der mit Eugen Dühring in ihm nur eine vom « Judentum » hinaufgeschraubte Scheingröße sieht, Wer diese Selbstbeobachtung hat, wird mit manchem Werk der Geistesgeschichte milder zu Gericht gehen als ein solcher, der an das Märchen von der « Unbefangenheit » glaubt.

Man muß sich das vorhalten, wenn man an ein Buch herantritt, das in vieler Hinsicht charakteristisch für unsere gegenwärtige Art der Literaturgeschichtsschreibung ist, an Adolf Bartels « Geschichte der deutschen Literatur » (Verlag Eduard Avenarius, Leipzig 1901), von dem bis jetzt der erste Band erschienen ist. Adolf Bartels ist, das soll hier gleich vorausgeschickt werden, ein Mann, der Geist und Geschmack hat. Er hat von beiden sogar so viel, daß ihn sein Maß immerhin berechtigt, von seinem Standpunkt aus die Entwicklung der deutschen Literatur zu betrachten. Wie aber Bartels diesen seinen Standpunkt zur Geltung bringt, das wirkt auf jemand, der Selbstbeobachtung und Selbstkritik hat, entschieden abstoßend. Ich brauche nur einen einzigen Satz hierher zu setzen, um diese Empfindung zu rechtfertigen. Bei Besprechung Goethes wendet Bartels ein Wort Jacob Burckhardts auf den « Faust » an: « Faust ist ein echter und gerechter Mythus, das heißt ein großes urtümliches Bild, in welchem jeder sein Wesen und sein Schicksal auf seine Weise wieder zu ahnen hat.» Zu diesem Satze des großen Geschichtsschreibers setzt Herr Bartels hinzu: « Jawohl, und besonders, wenn er ein germanischer Mensch ist ». So etwas lesen wir in dieser Literaturgeschichte immer wieder und wieder. Adolf Bartels will als « germanischer Mensch » sein Buch schreiben. Was er eigentlich damit sagen will, kommt völlig ans Tageslicht, wenn man ein wenig zwischen den Zeilen zu lesen versteht. Es fällt mir nicht ein, Herrn Bartels gleichzustellen mit den platten Parteimenschen, die den « germanischen Menschen » erfunden haben, um damit ein möglichst wohlklingendes Wort für die Rechtfertigung ihres Antisemitismus zu haben. Ich habe vor Bartels Wissen und Geschmack zuviel Achtung, um in den Fehler zu verfallen, der in einer solchen Gleichstellung läge. Aber eines scheint mir gewiß: auf einem ähnlichen Boden wie die unsinnigen Schwätzereien der Antisemiten sind doch auch Bartels Auslassungen über den « germanischen Menschen » erwachsen.

Sein ganzes Buch gewinnt etwas Unwahres dadurch, daß er uns die Urteile, die doch nur Herr Bartels fällt, als solche aufschwatzen möchte, die vom Standpunkte des « germanischen Menschen » gefällt seien. Und was viel schlimmer ist, dadurch gewinnt sein Buch etwas Gefährliches. Denn das Unwahre, das darin liegt, daß er sich seine persönliche Meinung zu der eines « germanisch » Fühlenden umdeutet, wird für ihn selbst zu einer Gefahr. Er wird kleinlich und - auch von seinem Standpunkt aus - ungerecht. Man braucht kein unbedingter Anhänger Wilhelm Scherers zu sein, man kann die Fehler der Literaturbetrachtung dieses Mannes durchaus erkennen; aber man muß es doch kleinlich finden, wenn Bartels bei Gelegenheit der Besprechung des Christus-Epos « Heliand » schreibt: « Dagegen läßt Scherer an der Dichtung wenig Gutes: sie ist ihm ein bloßes Lehrgedicht ... "Die Juden werden in das ungünstigste Licht gestellt". Man merkt doch, daß Scherers Literaturgeschichte ursprünglich für das Publikum der "Neuen Freien Presse" geschrieben war.» Verständlich ist dieser Satz Bartels doch nur, wenn er so aufgefaßt wird, daß das Publikum der « Neuen Freien Presse » als ein jüdisches gedacht wird. Das also sind zuletzt doch die Blüten des « germanischen » Geistes, daß ein Mann, der durch seinen wissenschaftlichen Ernst und seinen Geist auf eine andere Beurteilung unbedingt Anspruch hat, verdächtigt wird, für ein gewisses Publikum zu schreiben.

Ebenso kleinlich ist es, wenn Moses Mendelssohn mit den Worten charakterisiert wird: « Mit Moses Mendelssohn, seinem "Phädon", seinen "Morgenstunden", seinem "jerusalem", beginnt der jüdische Einfluß auf die deutsche Literatur, sein im Grunde nüchterner Deismus wird das Glaubensbekenntnis weiter Kreise und wird noch von Hettner "beseligende (!) Vernunftreligion" genannt. Es wird nötig sein, das Kapitel Mendelssohn einmal völlig neu zu schreiben und das Spezifisch-Jüdische in Moses Wesen und Wirken ins Licht zu stellen - als Mensch dürfte er da, wie ich glaube, nicht allzuviel verlieren ». - Man sieht, wie geschraubt Herr Bartels werden muß, damit die edle Menschlichkeit, die auch er bei Moses Mendelssohn nicht zu leugnen wagt, doch eine Darstellung möglich mache, bei welcher - der Jude etwas verliert.

Daß Lessings « Nathan » durch Bartels Standpunkt in ein schiefes Licht gestellt wird, ist wohl selbstverständlich. Er sagt, daß er ein Tendenzgedicht sei mit den « Fehlern des Tendenzgedichtes ». Wie wenig da Herr Bartels sich selbst versteht, geht aus den Worten hervor, die er an seine Betrachtungen des « Nathan » knüpft. « Wir zweifeln keinen Augenblick mehr, daß das Christentum als Religion, nicht bloß als Sittenlehre, dem Judentum und dem Mohammedanismus ganz entschieden überlegen ist, und wir würden in einem objektiven Werke - und das sollen alle dramatischen sein - allerdings mit Recht verlangen, daß der Vertreter des Christentums neben denen der beiden anderen Religionen als die geistig höchststehende Persönlichkeit hingestellt würde ... ». Herr Bartels hätte ein christliches Tendenzgedicht also lieber als Lessings « Nathan ». Das ist sein persönliches Urteil. Aber er soll das doch gestehen und nicht damit flunkern, daß jedes Dichterwerk « objektiv » sein soll. Das ist denn doch Engherzigkeit. Und diese Engherzigkeit, dieser beschränkte Gesichtskreis ist ein Hauptmangel von Bartels > ganzem Buch. Was soll man dazu sagen, wie dieser Literatistiker Schiller zu Leibe geht? Herr Bartels hat manches gegen Schiller zu sagen. Er scheint ihm überschätzt. Wir wollen darüber nicht rechten mit Herrn Bartels. Wenn er einfach sagte, Schiller ist « für Volk und Jugend » bis heute « als Erzieher unentbehrlich und in einem gewissen Stadium der Erziehung nach wie vor der fortreißende große Dichter und Mensch; die Bühne muß einstweilen in Ermangelung eines vollständigen Ersatzes an ihm festhalten, die Entwicklung der Literatur aber ist über ihn hinausgelangt ... », so möchte man zwar viel dagegen einwenden können; aber es ließe sich ernsthaft darüber reden. Der Ernst hört aber auf, und die Komik beginnt, wenn Herr Bartels bei Schiller « germanisch » wird: « Er ist der einzige bedeutende Dramatiker seines Stammes, und wenn ich auch an ein Gesetz des Kontrastes glaube, das zum Typus den Gegentypus, also zum lyrischen Gefühlsmenschen den dramatischen Willensmenschen gebieterisch verlangt, so finde ich doch die Dramatik Schillers der schwäbischen Lyrik nicht entsprechend, finde, hier in Übereinstimmung mit zahlreichen anderen Beurteilern, etwas Undeutsches, ja Ungermanisches in ihr. Das hat denn auch die Annahme eines keltischen Blutzusatzes in Schiller veranlaßt ... ». Also, weil Schiller den « Germanen » Bartels nicht ganz befriedigt, muß Schiller kein « reiner Germane » sein.

Wer die Dinge nach allen Seiten durchschaut, hat für solche Ausführungen wie die des Herrn Bartels nur ein - Lächeln. Das Gefährliche liegt aber darin, daß viele, die einen - noch engeren Gesichtskreis haben als Bartels, sich « germanisch » angeheimelt fühlen müssen von seiner Engherzigkeit. Ich finde in dem Buche allerdings nur antisemitische Mücken. Aber wundern könnte ich mich nicht, wenn diese Mücken bei zahlreichen Lesern sich zu ganz ansehnlichen antisemitischen Elefanten auswüchsen. Und es fehlt mir doch der Glaube, daß eine solche Wirkung Herrn Bartels - sehr unangenehm wäre. Sein ganzes Wirken kann mich wenigstens vor diesem Glauben nicht bewahren.

Rudolf Steiner