Die Kernpunkte der sozialen Frage - Vortrag

01.06.1922

Wien, 11. Juni 1922

Meine sehr verehrten Anwesenden! Als ich vor drei Jahren etwa auf Verlangen einer Reihe von Freunden, die damals unter dem Eindruck der Ereignisse im sozialen Leben nach der vorläufigen Beendigung des großen Weltkriegs standen, meine «Kernpunkte der sozialen Frage» veröffentlicht hatte, da ergab sich für mich, ich möchte sagen, als unmittelbares Erlebnis, daß diese Veröffentlichung im Grunde mißverstanden worden ist auf allen Seiten, und zwar gerade aus dem Grunde, weil man sie zunächst einreihte in diejenigen Schriften, welche in einer mehr oder weniger utopistischen Weise in äußerlichen Einrichtungen versuchten darzustellen, was ihre Verfasser als eine Art Heilmittel gegen die auftretenden sozialen chaotischen Zustände empfanden, die sich im Verlauf der neueren Menschheitsentwickelung ergeben haben. Meine Schrift war gewissermaßen als ein Appell nicht an das Denken über allerlei Einrichtungen, sondern als ein Appell an die unmittelbare Menschennatur gemeint. Daß das aus geisteswissenschaftlichen Untergründen heraus nicht anders sein konnte, wird ja aus der ganzen Haltung der bisher gehaltenen Vorträge hervorgehen.

So hat man namentlich vielfach dasjenige, was ich eigentlich nur zur Illustration der Hauptsache gegeben habe, für die Hauptsache selbst genommen. Ich mußte, indem ich versuchte darzustellen, wie die Menschheit zu einem sozialen Denken, Fühlen und auch Wollen kommen könne, dies zum Beispiel daran illustrieren, wie möglicherweise die Kapitalzirkulation so umgewandelt werden könnte, daß sie von vielen Menschen nicht in der Weise drückend empfunden werde, wie das in der Gegenwart vielfach der Fall ist. Ich mußte das eine oder das andere über Preisbildung, über den Wert der Arbeit und dergleichen sagen. Aber das alles nur eigentlich zur Illustration. Denn wer, wenn ich mich jetzt des Ausdrucks bedienen darf, hineingreifen will ins volle Menschenleben, dem kommt es auch darauf an, dieses Menschenleben zunächst zu belauschen, um aus ihm heraus auf menschliche Art Auswege für Verirrungen zu finden, und zwar nicht durch Anpreisen gewisser Ideenschablonen, die dann auf den verschiedensten Gebieten des Lebens ausgeführt werden sollen.

Vor allen Dingen ergibt sich für den, der das soziale Leben Europas nicht mit dieser oder jener vorgefaßten Meinung, sondern mit unbefangenem Sinn in den letzten dreißig bis vierzig Jahren auf sich hat wirken lassen, daß eigentlich dasjenige, was heute sozial zu geschehen hat, bereits vorgezeichnet ist in dem unbewußten Wollen gerade der europäischen Menschheit. Überall kann man die unbewußten Tendenzen nach irgend etwas finden. Sie leben schon in den Menschenseelen, und man braucht ihnen durch Worte nur Ausdruck zu verleihen.

Das ist es, was mich veranlaßte, dem Drängen von Freunden nachzugeben und dieses Buch zu schreiben. Das war die Veranlassung, daß ich aus dem Wirklichkeitssinn, den die Geisteswissenschaft - in bescheidener Weise darf das ausgedrückt werden - dem Menschen anerzieht, versucht habe, das zu beobachten, was in allen sozialen Klassen und Ständen unter der Oberfläche der äußeren Erscheinungen und Einrichtungen in den letzten Jahrzehnten in Europa vorgegangen ist. Und ich wollte eigentlich nicht sagen: Das oder jenes finde ich richtig; sondern ich wollte sagen: Das oder jenes wird aus dem verborgenen Unbewußten heraus gewollt, und es ist notwendig, daß man sich einfach bewußt werde desjenigen, wonach die Menschheit eigentlich drängt. Und gerade darinnen ist der Grund für viele unserer sozialen Mißstände zu suchen, daß heute dieses unbewußte Drängen in gewissem Widerspruch steht zu dem, was die Menschheit in intellektualistischer Weise ausgedacht und in die Einrichtungen hineingetragen hat, so daß eigentlich unsere Einrichtungen dem widersprechen, was in den Tiefen der Menschenherzen heute gewollt wird.

Und noch aus einem anderen Grunde glaube ich nicht, daß es heute überhaupt einen besonderen Wert hat, irgendwie in utopistischer Weise die eine oder andere Einrichtung einfach hinzustellen.

Wir sind innerhalb der geschichtlichen Menschheitsentwickelung in der zivilisierten Welt doch in das Stadium eingetreten, daß, wenn auch noch so Gescheites gesagt wird über das, was unter und zwischen Menschen geschehen soll, dies eigentlich gar keine Bedeutung haben kann, wenn die Menschen es nicht annehmen, wenn es nicht etwas ist, wozu die Menschen selber sich hindrängen, allerdings zumeist eben in unbewußter Art.

So glaube ich, daß heute, wenn man über solche Dinge überhaupt denken will, mit dem in der geschichtlichen Entwickelung der Menschheit heraufgekommenen demokratischen Sinn gerechnet werden muß, namentlich dem demokratischen Sinn, wie er auf dem Grund der Seelen der Menschen heute lebt, mit diesem demokratischen Sinn, daß eigentlich in sozialer Beziehung etwas nur Wert hat, wenn es darauf abzielt, nicht demokratische Meinungen zu sagen, sondern die Menschen dazu zu bringen, ihre Meinungen aussprechen zu können, geltend machen zu können. So war für mich die Hauptsache, die Frage zu beantworten: Unter welchen Verhältnissen sind die Menschen in der Lage, ihre sozialen Meinungen, ihren sozialen Willen wirklich zum Ausdruck zu bringen?

Wir müssen, wenn wir die WeIt um uns herum in bezug auf das soziale Leben betrachten, uns sagen: Ja, wissen könnte man schon vieles von dem, wie das eine oder das andere anders sein sollte; aber was alles ist da an Hemmnissen, so daß das, was wir ganz gut wissen können, was wir ganz gut geltend machen wollen, nicht Wirklichkeit werden kann. Da sind die Standes-und Klassenunterschiede seIber und sind Klüfte zwischen den Klassen der Menschen, Klüfte, die nicht einfach dadurch zu überbrücken sind, daß man eine Meinung darüber hat, wie sie überbrückt werden sollen, sondern Klüfte, die sich dadurch ergeben, daß eben, ich habe gestern so großen Wert darauf gelegt, der Wille, der das eigentliche Zentrum der Menschennatur ist, engagiert ist durch die Art und Weise, wie man sich in den Stand, in die Klasse oder in irgendeinen anderen sozialen Zusammenhang hineingelebt hat. - Und wiederum, wenn man auf etwas sieht, was sich in unserer neueren Zeit unter den komplizierten wirtschaftlichen Verhältnissen immer mehr und mehr neben die Standesvorurteile, die Standesempfindungen, die Standeswillensimpulse als solche Hemmnisse hingestellt hat, so findet man diese in den wirtschaftlichen Einrichtungen selber. Wir werden in gewisse wirtschaftliche Einrichtungen hineingeboren und können aus diesen nicht heraus. - Und eine dritte Art Hemmnisse für das wirkliche soziale Zusammenwirken der Menschen ist da: daß diejenigen, die vielleicht gerade als führende Persönlichkeiten in der Lage wären, jenen tiefen Einfluß auszuüben, von dem ich eben gesprochen habe, andere Schranken haben, die Schranken nämlich, die sich ergeben aus gewissen dogmatischen Lehren über das Leben, aus gewissen dogmatischen Empfindungen über das Leben. Wenn viele Menschen über die wirtschaftlichen Schranken, über die Klassen-und Standesschranken nicht hinaus können, so können viele nicht über ihre Begriffs-und Ideenschranken hinaus. Das alles ist, möchte ich sagen, schon reichlich Lebensinhalt geworden, der sich dann in seinem Ergebnis vielfach als Chaos darstellt.

Aber wenn man nun versucht, über alles, was sich durch diese Hemmnisse und Klüfte hindurch in den unbewußten Untergründen der Seelen in den letzten Jahrzehnten gezeigt hat, klar zu werden, dann wird man darauf hingewiesen, daß eigentlich die Kernpunkte der sozialen Frage ganz woanders liegen, als wo man sie gewöhnlich sucht. Sie liegen darinnen, daß in der neueren Zeit der Menschheitsentwickelung gleichzeitig mit dem Heraufkommen der das Leben so kompliziert machenden Technik in der zivilisierten Welt zugleich der Glaube an die Allmacht des Einheitsstaates heraufgekommen ist. Und immer stärker und stärker ist dieser Glaube an die Allmacht des Einheitsstaates im Laufe des 19. Jahrhunderts geworden. So stark und fest ist er geworden, daß er selbst unter den mancherlei erschütternden Urteilen, die sich große Menschenmassen über die soziale Organisation gebildet haben, nicht erschüttert worden ist.

Und mit dem, was als dogmatischer Glaube so über die Menschen kommt, verbindet sich dann etwas anderes. Mit diesem Glauben will man daran festhalten, daß in demjenigen, auf das man den Glauben wendet, eine Art Allheilmittel liege, so daß man dann in der Lage sein könne, zu sagen, welches der beste Staat ist; daß man dann auch schon, ich will nicht sagen, das Paradies heraufzuzaubern versuchen kann, daß man aber doch meint, man treffe die denkbar besten Einrichtungen.

Dadurch aber ist uns eines verlorengegangen, das sich vor allem dem aufdrängt, der das Leben seiner Wirklichkeit nach so betrachtet, wie es in den letzten Tagen hier betrachtet worden ist. Wer sich gerade dadurch, daß er darauf angewiesen ist, seine Ideen für die geistige Welt auszubilden, einen rechten Sinn für die Wirklichkeit aneignet, der kommt nämlich darauf, daß die besten Einrichtungen, die man für irgendein Zeitalter ersinnen kann, nur eben höchstens ihre Güte für dieses Zeitalter behalten können, daß es aber mit dem, was in der sozialen Organisation da ist, eine ähnliche Bewandtnis hat, wie zum Beispiel mit dem natürlichen Organismus des Menschen.

Ich will nicht ein fatales Analogiespiel treiben, aber ich möchte zur Veranschaulichung auf das hinweisen, was eben vom menschlichen Organismus aus auch im sozialen Organismus begriffen werden kann: Wir können niemals sagen, daß der menschliche, übrigens auch der tierische und pflanzliche Organismus nur in einer aufsteigenden Entwickelung sein könne. Soll das, was organisch ist, gedeihen, soll es seine Kräfte aus sich heraustreiben, dann muß es alt werden können, dann muß es auch absterben können. Wer genauer den menschlichen Organismus studiert, findet, daß dieses Absterben in jedem Augenblicke in ihm vorhanden ist. Immerfort sind die aufsteigenden, sprießenden, sprossenden, fruchtenden Kräfte vorhanden, immer auch sind die abbauenden Kräfte vorhanden. Und der Mensch verdankt gerade diesen abbauenden Kräften sehr viel. Ja, derjenige, der den Materialismus vollständig überwinden will, der muß sein Augenmerk gerade auf diese abbauenden Kräfte im menschlichen Organismus richten. Er muß überall das aufsuchen im menschlichen Organismus, wo die Materie gewissermaßen unter dem Einfluß der Organisation zerfällt. Und er wird dann finden, daß gerade an den Zerfall der Materie die Ausbildung des geistigen Lebens im Menschen gebunden ist. Wir können die menschliche Organisation nur begreifen, wenn wir neben den aufsteigenden, sprießenden, sprossenden und fruchtenden Kräften den kontinuierlichen Verfall beobachten.

Und wenn ich das auch nur zur Veranschaulichung sage, so kann es eben doch veranschaulichen, was der unbefangene Beobachter auch für den sozialen Organismus finden muß: Der soziale Organismus stirbt zwar nicht, dadurch unterscheidet er sich zum Beispiel von dem menschlichen Organismus, aber er wandelt sich, und aufsteigende und absteigende Kräfte sind ihm naturgemäß. Nur der begreift den sozialen Organismus, der weiß: wenn man die besten Absichten verwirklicht und irgend etwas auf irgendeinem Gebiet des sozialen Lebens herstellt, was aus den Verhältnissen heraus gewonnen ist, wird es nach einiger Zeit dadurch, daß Menschen mit ihren Individualitäten drinnen arbeiten, Absterbekräfte, Niedergangskräfte zeigen. Was für das Jahr zwanzig eines Jahrhunderts das Richtige ist, das hat sich bis zum Jahre vierzig desselben Jahrhunderts so verwandelt, daß es bereits seine Niedergangskräfte in sich enthält. Derlei Dinge werden manchmal gewiß in Abstraktionen ausgesprochen. Aber man bleibt im intellektualistischen Zeitalter bei diesen Abstraktionen, auch wenn man vermeint, noch so praktisch zu denken. Und so erleben wir es auch, daß die Leute zwar im allgemeinen zugeben, es seien im sozialen Organismus Absterbekräfte, Niedergangskräfte enthalten, der soziale Organismus müsse sich immer umwandeln, die Niedergangskräfte müßten immer neben den Aufgangskräften wirksam sein - aber da, wo wir mit unsern Absichten, mit unserm Willen in die soziale Ordnung eingreifen, da bemerken wir das in der Abstraktion Zugegebene doch nicht.

So konnte man in der sozialen Ordnung, die vor dem Weltkrieg war, sehen, daß der Kapitalismus zu einer gewissen Befriedigung auch für breitere Massen dann geführt hat, wenn er in einer Entwickelung drinnensteckte, die aufsteigender Art war. Die Löhne stiegen, wenn der Kapitalismus für irgendeinen Zweig des Lebens in aufsteigender Entwickelung war. Wenn man also immer weiter und weiter kam, wenn sich das Kapital immer freier und freier betätigen konnte, dann konnte man sehen, daß tatsächlich der Arbeitslohn und die Verwendungsmöglichkeiten der Arbeit immer mehr und mehr stiegen. Aber nicht in derselben Weise hat man das Augenmerk darauf gelenkt, wie in diesem Steigen zu gleicher Zeit andere soziale Faktoren enthalten sind, die ganz parallel gehen und die bewirken müssen, daß sich Niedergangskräfte geltend machten, daß sich zum Beispiel bei steigenden Löhnen die Lebensverhältnisse so gestalten mußten, daß eben die steigenden Löhne nach und nach so wirkten, daß sie gar nicht außerordentlich viel zur Besserung der Lebenslage beitrugen. Gemerkt hat man selbstverständlich solche Dinge. Aber die sozialen Strömungen verfolgte man nicht so, daß die Anschauungen selber lebens-und wirklichkeitsgemäß gewesen wären.

Und deshalb muß das soziale Leben heute, wo wir an einen wichtigen historischen Punkt hingestellt sind, in seinen Fundamenten betrachtet werden, nicht an den Oberflächenerscheinungen. Und da wird man auf die einzelnen Zweige, die in unserem sozialen Leben enthalten sind, geführt.

Einer dieser sozialen Zweige ist das geistige Leben der Menschheit. Dieses geistige Leben der Menschheit - wir können es selbstverständlich nicht abgesondert betrachten von dem übrigen sozialen Leben - hat seine eigenen Bedingungen. Diese sind an die menschlichen Individualitäten gebunden. Das geistige Leben gedeiht auf dem Untergrund der menschlichen Wesenheiten eines Zeitalters. Und davon hängt dann das ganze übrige soziale Leben ab. Man denke sich nur, wie vieles sich auf manchen sozialen Gebieten einfach dadurch verändert hat, daß von dem oder jenem diese oder jene Erfindung oder Entdeckung gemacht worden ist. Dann aber, wenn man fragt: Wie ist es zu dieser Erfindung oder Entdeckung gekommen, dann muß man auf den Grund der Menschenseelen hinsehen: wie die Menschenseelen durch einen gewissen Werdegang hindurchgegangen sind, wie sie dazu gebracht worden sind, ich möchte sagen, in ihren stillen Kämmerlein irgend etwas zu finden, was dann ganze breite Gebiete des sozialen Lebens umgestaltet hat. Man frage sich nur einmal so, daß das Urteil eine soziale Bedeutung gewinnt: Was hat es für eine Bedeutung für das ganze soziale Leben, daß die Differential- und Integralrechnung von Leibniz gefunden worden ist? Man versuche einmal, von diesem Gesichtspunkt aus den Einfluß des geistigen Lebens auf das soziale Leben wirklichkeitsgemäß zu betrachten, und man wird, weil dieses geistige Leben seine eigenen Bedingungen hat, darauf kommen, daß in diesem geistigen Leben ein besonders gearteter Zweig des allgemeinen sozialen Lebens gegeben ist.

Und wenn man fragt, welches diese besondere Artung ist, so muß man sagen: Alles, was im geistigen Leben der Menschheit wirklich gedeihen kann, muß aus der menschlichen innersten produktiven Kraft hervorgehen. Und man wird am günstigsten finden müssen für das gesamte soziale Leben, was sich in diesem Geistesleben unbehindert aus dem entwickeln kann, was auf dem Grund der menschlichen Seele ist.

Dann aber stehen wir unter einem anderen Impuls, der immer mehr und mehr in den letzten Jahrzehnten hervorgetreten ist: unter dem Impuls, der sich dann hineinergossen hat in den Glauben an die Allmacht des Staatslebens, daß die zivilisierte Menschheit aus den Untergründen ihres Wesens heraus immer demokratischer und demokratischer geworden ist. Das heißt, daß Aspirationen in den breiten Massen der Menschheit vorhanden sind: jeder Mensch müsse mitreden, wenn es sich darum handelt, menschliche Einrichtungen zu treffen. Dieser demokratische Zug kann einem sympathisch oder unsympathisch sein, darauf kommt es zunächst nicht an. Darauf kommt es an, daß er sich als eine reale Kraft im geschichtlichen Leben der neueren Menschheit ergeben hat. Aber gerade wenn man auf das, was sich als solcher demokratischer Zug ergeben hat, hinschaut, dann kommt einem bei einem wirklichkeitsgemäßen Denken ganz besonders in den Sinn, wie aus dem inneren Drängen, aus dem geistigen Leben Mitteleuropas heraus bei den edelsten Geistern sich Ideen gerade über das staatliche Zusammenleben der Menschen entwickelt haben.

Ich will nicht sagen, daß man heute noch einen besonderen Wert zu legen hat auf das, was einer der edelsten deutschen Menschen als seinen «geschlossenen Handelsstaat» hingestellt hat. Auf den Inhalt wird man weniger Rücksicht nehmen müssen als auf das edle Wollen Fichtes. Aber ich möchte darauf hinweisen, daß in einer sehr populären Form um die Wende des 18. zum 19. Jahrhundert aufgetreten ist, was man das Streben nach Ideen eines Naturrechts nennen kann. Dazumal haben sich sehr bedeutende und edle Geister damit beschäftigt, die Frage zu beantworten: Wie steht Mensch zu Mensch? Was ist überhaupt die innerste Wesenheit des Menschen in sozialer Beziehung? Und sie glaubten, wenn sie den Menschen recht verstehen, auch finden zu können, was für den Menschen rechtens ist. Das Vernunftrecht, das Naturrecht haben sie das genannt. Sie glaubten, aus der Vernunft heraus finden zu können, welches die besten Rechtsinstitutionen sind, unter denen die Menschen am besten gedeihen können. Sie brauchen nur Rottecks Werk zu betrachten, um zu sehen, wie in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts noch bei vielen die Idee des Naturrechts regsam war.

Dem hat sich aber im Laufe der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts in Europa die historische Rechtsschule gegenübergestellt. Diese war davon beseelt, daß man nicht aus der Vernunft herausspinnen könne, was rechtens ist unter den Menschen.

Aber man bemerkte in dieser historischen Rechtsschule nicht, was es ist, das alles Ausdenken eines Vernunftrechts unfruchtbar macht; man bemerkte nicht, daß unter dem Einfluß des intellektuellen Zeitalters eine gewisse Unfruchtbarkeit in das Geistesleben der Menschheit gekommen war. Und so sagten sich die Gegner des Naturrechts: die Menschen seien nicht dazu berufen, aus ihrer Seele heraus etwas von dem zu finden, was rechtens ist, deshalb müsse man das Recht historisch studieren; man müsse darauf hinschauen, wie sich die Menschen geschichtlich entwickelt haben, wie aus ihren Gewohnheiten, aus ihren instinktiven gegenseitigen Verhältnissen sich Rechtszustände ergeben haben.

Man muß das Recht historisch studieren! Gegen solches Studium hat sich dann der freie Geist Nietzsehes gewendet in seiner Schrift «Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben». Er meinte, wenn man immer nur hinblicke auf das, was historisch in der Menschheit gelebt hat, dann könne man nicht zu einer Produktivität und zu tragfähigen Ideen für die Gegenwart kommen; was im Menschen an elementaren Kräften lebt, müsse sich gegen den historischen Sinn aufbäumen, um aus diesen Kräften heraus zu einer Konstitution sozialer Zusammenhänge zu kommen.

Unter den führenden Persönlichkeiten war gerade im 19. Jahrhundert, in der höchsten Blüte des Intellektualismus, ein Streit über das heraufgekommen, was eigentlich die Grundlagen des Rechts sind. Und damit war auch der Streit über die Grundlagen des Staates gegeben. Wenigstens in der damaligen Zeit leugnete man das gar nicht. Denn der Staat ist im Grunde genommen bloß die Endsummierung dessen, was sich an einzelnen Institutionen ergibt, in denen die Rechtskräfte leben. Und so war eigentlich mit der Tatsache, daß man den Sinn für Auffindung von Rechtsgrundlagen verloren hatte, gegeben, daß man auch über die eigentliche Wesenheit des Staates nicht mehr mit sich ins klare kommen konnte. Daher sehen wir, nicht etwa nur in den Theorien, sondern auch im praktischen Leben, wie das Leben des Staates im Verlaufe des 19. Jahrhunderts für unzählige Menschen, auch der breitesten Masse, ein Problem geworden ist, das gelöst werden sollte.

Das ging aber doch mehr, ich möchte sagen, in den oberen, bewußten Partien der Menschheitszivilisation vor sich. In den Untergründen bohrte das, was ich als das Heraufkommen des demokratischen Sinnes charakterisiert habe. Dieses Heraufkommen des demokratischen Sinnes führt uns, wenn es richtig verstanden wird, dahin, die Frage nach dem Wesen des Rechts viel gründlicher, viel wirklichkeitsgemäßer aufzufassen, als sie vielfach heute aufgefaßt wird. Es gibt heute viele Menschen, die es als eine Selbstverständlichkeit betrachten, daß man irgendwie aus dem einzelnen Menschen heraus auf das kommen könne, was eigentlich auf diesem oder jenem Gebiete das Recht ist. Allerdings, neuere Rechtsgelehrte verlieren mit einem solchen Streben schon den Boden; und sie finden dann, daß sie, wenn sie in dieser Weise philosophieren oder auch glauben, praktisch nachzudenken über das Leben, dann für das Recht den Inhalt verlieren, daß das Recht ihnen etwas Formales wird. Und dann sagen sie: Das, was bloß formal ist, muß einen Inhalt bekommen, in das muß sich das Wirtschaftliche als Inhalt hineinergießen.

So ist auf der einen Seite ein deutliches Gefühl vorhanden, wie ohnmächtig man ist, wenn man aus sich heraus zum Rechtsbegriff, zum Rechtsempfinden kommen will; auf der anderen Seite sucht man dennoch immer wieder und wiederum aus dem Menschen heraus das Wesen des Rechts. Der demokratische Sinn aber bäumt sich gerade gegen dieses Suchen auf. Denn, was sagt er?

Er sagt: Es gibt überhaupt nicht eine allgemeine abstrakte Festsetzung des Rechts, sondern es gibt nur die Möglichkeit, daß sich Menschen, die in irgendeiner sozialen Gemeinschaft stehen, miteinander verständigen, daß sie sich gewissermaßen gegenseitig sagen: Das willst du von mir, das will ich von dir - und daß sie dann übereinkommen darüber, was sich dadurch für sie für Verhältnisse ergeben. Dann ergibt sich das Recht rein aus der Wirklichkeit dessen heraus, was Menschen gegenseitig von sich wollen, so daß es eigentlich ein Vernunftrecht gar nicht geben kann, daß auch alles, was als «historisches Recht» zustande gekommen ist, noch immer zustande kommen kann, wenn man nur den richtigen Boden dafür sucht, und daß die Menschen auf diesem Boden in ein solches Verhältnis kommen können, daß sie aus gegenseitiger Verständigung wirklichkeitsgemäß das Recht erst hervorbringen. «lch

will mitreden können, wenn das Recht entsteht!», das ist das, was der demokratische Sinn sagt. Und derjenige, der dann etwa theoretisch über das Recht Bücher schreiben will, der kann sich nicht aus den Fingern saugen, was das Recht ist, sondern der hat einfach hinzuschauen auf das, was unter Menschen als Recht entsteht, und hat es mehr oder weniger zu registrieren. Wir sehen auch in der Naturwissenschaft nicht so in die Tatsachenwelt hinein, daß wir aus unserem Kopf heraus die Naturgesetze formen, sondern wir lassen die Dinge zu uns reden und bilden danach die Naturgesetze. Wir nehmen an: das, was wir in die Naturgesetze hineinfassen wollen, sei bereits geschaffen; das aber, was im Rechtsleben vorhanden ist, das werde unter den Menschen geschaffen. Da ist das Leben aufeinem anderen Niveau. Da steht der Mensch im Gebiete des Schaffens, und zwar als soziales Wesen, neben den anderen Menschen, damit ein Leben, das den Entwickelungssinn der Menschheit in die soziale Ordnung hineingießen will, zustande komme. Das ist eben der demokratische Sinn.

Das dritte, das sich heute hinstellt vor den Menschen und nach sozialen Neugestaltungen ruft, das sind die komplizierten wirtschaftlichen Verhältnisse, die heraufgekommen sind in der neueren Zeit, die ich nicht zu schildern brauche, weil sie sachgemäß von vielen Seiten geschildert werden. Man kann nun sagen: Diese wirtschaftlichen Verhältnisse sind durchaus so, daß sie wiederum aus anderen Bedingungen hervorgehen als die beiden anderen Gebiete des sozialen Organismus, als das Geistesleben - da muß alles, was fruchtbar werden kann in der sozialen Ordnung, aus der einzelnen menschlichen Individualität hervorgehen, nur das Schaffen des Einzelnen kann da den rechten Beitrag geben zur gesamten sozialen Ordnung - und als das Rechtsleben, auf dessen Gebiet es sich nur darum handeln kann, daß das Recht und damit auch das staatliche Wesen hervorgeht aus der Verständigung der Menschen. Beide Bedingungen, die eine, wie sie für das Geistesleben, die andere, wie sie für das staatlich-rechtliche Leben gilt, sind nicht da im wirtschaftlichen Leben.

Im wirtschaftlichen Leben ist es nicht so, daß das Urteil über das, was geschehen könne, aus einem einzelnen hervorspringen kann. Wir haben gerade im Laufe des 19. Jahrhunderts, wo unter der Menschheit der Intellektualismus so zur Blüte gekommen ist, sehen können, wie einzelne sehr bedeutende Menschen - ich sage das nicht aus Ironie heraus, sondern um die Dinge wahrheitsgemäß zu charakterisieren -, die auf den verschiedenen Gebieten stehen, über das eine und andere ihre Meinungen geäußert haben, Leute, die gut darinnenstanden im wirtschaftlichen Leben, denen man auch zutrauen konnte, daß sie ein Urteil hatten. Wenn sie sich dann über irgend etwas, was über ihr Gebiet hinausging, was auf die Gesetzgebung Einfluß gewann, äußern sollten, dann konnte man oftmals sagen: Ja, das, was dieser oder jener gesagt hat, zum Beispiel über den praktischen Einfluß der Goldwährung, ist bedeutend und gescheit -, man staunt sogar, wenn man verfolgt, was sich abgespielt hat in den verschiedenen wirtschaftlichen Verbänden in der Zeit, als in verschiedenen Staaten der Übergang zu dieser Goldwährung gemacht worden ist, über die Summe von Gescheitheit, die da in die Welt gebracht worden ist; wenn man aber weiterstudiert, wie sich dann die Dinge entwickelt haben, die vorausgesagt worden sind, dann sieht man: da hat dieser oder jener sehr bedeutende Mensch zum Beispiel gesagt, unter dem Einfluß der Goldwährung würden die Zollschranken verschwinden. Das Gegenteil davon ist eingetreten!

Und man muß sagen: Auf dem Gebiete des wirtschaftlichen Lebens ist es so, daß einem Gescheitheit, die einem sehr viel helfen kann auf dem Gebiete des Geisteslebens, eigentlich nicht immer ein sicherer Führer sein kann. Man kommt allmählich darauf, sich zu sagen: In bezug auf das Wirtschaftsleben kann überhaupt die einzelne Individualität keine maßgebenden Urteile fällen. Da können Urteile nur zustande kommen gewissermaßen als Kollektivurteile, indem sie sich ergeben durch das Zusammenwirken vieler, die in den verschiedensten Gebieten des Lebens drinnenstehen. Das darf wiederum nicht bloße theoretische Weisheit sein, sondern muß lebenspraktische Lebensweisheit werden, daß wirklich Geltung habende Urteile nur aus dem Zusammenklang von vielen hervorgehen können.

Damit gliedert sich das gesamte soziale Leben in drei voneiander verschiedene Gebiete. Auf dem Boden des Geisteslebens hat der Einzelne zu sprechen, auf dem Boden des demokratischen Rechtslebens haben alle Menschen zu sprechen, weil es da auf das Verhältnis von Mensch zu Mensch aus der rein menschlichen Wesenheit heraus ankommt, darüber kann sich jeder Mensch äußern, und auf dem Gebiete des Wirtschaftslebens ist weder das Urteil der Individualität noch das Urteil, das zusammenfließt aus den unterschiedslosen Urteilen aller Menschen, möglich. Auf diesem Gebiete handelt es sich darum, daß der Einzelne in eine Ganzheit Sachkenntnis und Erfahrung auf seinem Gebiete hineinträgt, daß aber dann aus Verbänden heraus ein Kollektivurteil in der richtigen Weise entstehen kann. Das kann nur entstehen, wenn die berechtigten Urteile der einzelnen sich abschleifen können. Darum aber müssen die Verbände so gestaltet sein, daß in ihnen zusammenfließt, was sich abschleifen kann und dann in der Lage ist, ein Gesamturteil zu geben. So zerfällt das gesamte soziale Leben in diese drei Gebiete. Nicht irgendeine utopistische Idee sagt uns das, sondern die wirklichkeitsgemäße Betrachtung des Lebens.

Aber nun, das muß immer wieder und wiederum festgehalten werden, trägt der soziale Organismus, der kleine oder der große, neben den aufsteigenden Kräften auch immer die Niedergangskräfte in sich. Und so trägt alles, was wir in das soziale Leben hineinpulsieren lassen, zu gleicher Zeit seine Zerstörungskräfte in sich. Eine fortwährende Heilung ist im sozialen Organismus notwendig.

Sehen wir von diesem Gesichtspunkt aus auf das geistige Leben hin, so können wir in Gemäßheit der Betrachtungen, die hier in diesen Tagen gepflogen worden sind, geradezu sagen: Im orientalischen sozialen Leben war das Geistesleben universell maßgebend. Alles einzelne, im Grunde genommen auch im staatlichen, auch im wirtschaftlichen Leben, ist aus den Impulsen des geistigen Lebens so hervorgeholt worden, wie ich das in den letzten Tagen hier geschildert habe. Betrachtet man aber den sozialen Verlauf, dann findet man, daß für ein gewisses Zeitalter - für jedes Zeitalter ist es anders - aus dem geistigen Leben Impulse herausfließen, die in die sozialen Gestaltungen hineingehen, daß sich dann wirtschaftliche Verbände bilden nach den Ideen aus dem Geistesleben heraus, daß der Staat Einrichtungen trifft aus dem Geistesleben heraus. Aber man sieht auch, daß das Geistesleben fortwährend eine Tendenz hat, Niedergangskräfte zu entwickeln oder Kräfte, aus denen sich solche Niedergangskräfte bilden. Würde das Geistesleben in seiner Allmacht vor uns dastehen, so würden wir sehen, wie aus diesem Geistesleben heraus sich fortwährend der Impuls ergibt, daß die Menschen sich in Klassen, in Stände sondern. Und studiert man die Gründe, warum im Orient die Kasteneinteilung eine so große Macht hat, so wird man finden, daß man die Kasteneinteilung als notwendige Begleiterscheinung dessen ansieht, daß sich das soziale Leben aus den geistigen Impulsen heraus entwickelt hat. Und so sehen wir noch bei Plato, wie er darauf hinweist, daß die Menschheit selbst geschieden werden müsse im idealen Staat in Nährstand, Lehrstand, Wehrstand, also in Stände geschieden werden müsse. Wer die Gründe untersucht, warum das ist, der wird finden, daß sich eben in der Abstufung, die einmal mit der Allmacht des Geisteslebens gegeben ist, die Stände, die Klassenunterschiede ergeben, und daß dann innerhalb der Klassen wiederum die menschliche Individualität auftritt, die diese Klassen als Schädigung der sozialen Gestaltung empfindet. Also innerhalb des Geisteslebens finden sich fortwährend die Anlässe dazu, daß Klüfte zwischen Ständen, Klassen, selbst Kasten entstehen.

Und wenn wir dann auf das Gebiet des Staatswesens sehen, dann müssen wir vorzugsweise auf diesem Gebiete suchen, was ich in diesen Tagen bezeichnet habe als die Eroberung der Arbeit im Verlaufe der menschlichen Entwickelung für den gesamten einheitlichen sozialen Organismus. Gerade dadurch, daß sich aus Asien herüber die Theokratie zu dem Staatswesen entwickelte, das nun unter dem Einfluß der Rechtsimpulse steht, gerade dadurch entwickelt sich das Problem der Arbeit. Indem jeder einzelne zu seinem Recht kommen sollte, entwickelte sich die Forderung, daß die Arbeit richtig in den sozialen Organismus hineingestellt werden solle. Aber indem sich vom religiösen Leben das Rechtsleben loslöste, indem sich das immer mehr und mehr zur Demokratisierung hindrängt, indem sich das immer mehr und mehr entwickelte, sehen wir, wie sich in die Menschheit auch immer mehr und mehr ein gewisses formalistisches Element des sozialen Denkens hineindrängte.

Das Recht entwickelte sich ja aus dem heraus, was der einzelne Mensch dem andern zu sagen hat. Nicht aus der Vernunft kann man das Recht herausspinnen. Aber aus dem wechselseitigen Verkehr der Vernünfte, wenn ich mich des Wortes bedienen darf, unter den Menschen entsteht das lebendige Rechtsleben. Das tendiert daher zur Logik, zum formalistischen Gedanken hin. Aber indem die Menschheit eben durch ihre Epochen geht, geht sie durch Einseitigkeiten hindurch. Wie sie durch die Einseitigkeit der Theokratie hindurchgegangen ist, geht sie später durch die Einseitigkeit des Staates hindurch. Dadurch aber wird im sozialen Leben das logische Element gepflegt, das Element, das ausdenkt. Man braucht sich nur zu erinnern, welche Summe von menschlicher Denkkraft gerade auf das Rechtsleben im Verlaufe der geschichtlichen Entwickelung verwendet worden ist.

Aber dadurch steuert dieMenschheit auch zu der Kraft der Abstraktion. Und man wird empfinden können, wie immer mehr und mehr das menschliche Denken gerade unter dem Einfluß des Rechtsprinzips abstrakter und abstrakter wird. Was aber auf einem Gebiet die Menschheit ergreift, das dehnt sich zu gewissen Zeiten über das ganze Menschenleben aus. Und so, möchte ich sagen, wurde, wie ich das früher angedeutet habe, sogar das Religionsleben in das juristische Leben herübergenommen. Der Weltengesetzgebende und den Menschen Gnade verleihende Gott des Orients wurde ein richtender Gott. Weltengesetzmäßigkeit im Kosmos wurde Weltgerechtigkeit. Das sehen wir insbesondere im Mittelalter. Damit aber war in die menschlichen Denk- und Empfindungsgewohnheiten etwas wie Abstraktion hineingekommen. Man wollte immer mehr und mehr das Leben aus den Abstraktionen heraus meistern.

Und so dehnte sich das abstrahierende Leben auch über das religiöse Leben, über das geistige Leben auf der einen Seite und über das wirtschaftliche Leben auf der anderen Seite aus. Immer mehr und mehr gewann man Vertrauen zu der Allmacht des Staates, der auf sein abstraktes Verwaltungs- und Verfassungsleben eingestellt war. Immer mehr und mehr fand man es dem Fortschritt gemäß, daß das geistige Leben in Form des Erziehungslebens ganz einfließen sollte in die Staatswelt. Dann aber mußte es eingefangen werden in abstrakte Verhältnisse, wie sie mit dem Rechtsleben verknüpft sind. Das Wirtschaftliche wurde auch gewissermaßen aufgesogen von dem, was man für den Staat als das Angemessene empfand. Und in den Zeiten, in denen die moderne Art des Wirtschaftens heraufkam, war die Meinung allgemein, daß der Staat diejenige Macht sein müsse, die vor allen Dingen über die richtige Gestaltung auch des Wirtschaftslebens zu bestimmen habe. Damit aber bringen wir die anderen Zweige des Lebens unter die Macht der Abstraktion. So abstrakt das selber aussieht, so wirklichkeitsgemäß ist es aber. Und ich möchte das nur veranschaulichen mit Bezug auf die menschliche Erziehung.

Es können sich in unserem Zeitalter, wo die Gescheitheit so billig ist, Menschen zu einem kleinen oder großen Kollegium - das ist schon ganz gleichgültig - zusammensetzen, um auszudenken, welches die besten pädagogischen Maßregeln sind. Sie werden - ich sage es ohne Ironie -, wenn sie so zusammenkommen und sich ausdenken, wie erzogen werden soll und was alles in dieser oder jener Klasse im Lehrplan sein soll, ganz Ausgezeichnetes ausdenken. Ich bin davon überzeugt, daß diese Menschen, wenn sie nur einigermaßen gescheit sind, und das sind heute die meisten Menschen, ideale Programme zustande bringen. Wir leben oder lebten wenigstens - denn man sucht ja schon davon abzukommen - in der Zeit der Programme. Was haben wir denn eigentlich reichlicher als Programme, als Leitsätze auf diesem oder jenem Lebensgebiet! Da werden Gesellschaften und wieder Gesellschaften begründet, die entwerfen ihre Programme: das soll so oder so sein. Ich habe gar nichts einzuwenden gegen diese Programme, bin davon überzeugt, daß keiner, der Kritik an diesen Programmen übt, im Grunde bessere macht. Nur kommt es nicht darauf an. Denn das, was wir ausdenken, können wir der Wirklichkeit aufdrängen, aber die Wirklichkeit wird dann nicht so, daß Menschen in ihr leben können. Und auf das letztere kommt es an.

Und so ist es, ich möchte sagen, zu einem vorläufigen Abschluß auf diesem Gebiete gekommen. Man hat gesehen, wie ein Mensch mit den besten, edelsten Absichten für die Menschheitsentwickelung der allerneuesten Zeit ein solches Programm für die ganze zivilisierte Welt in vierzehn ausgezeichneten Punkten aufgestellt hat. Es ist sofort zersplittert, als es mit der Wirklichkeit in Kontakt kam. Man sollte an dem Schicksal der vierzehn Wilsonschen abstrakten Punkte, die aus gescheiten Menschenhirnen hervorgegangen sind, aber nicht wirklichkeitsgemäß waren, nicht aus dem Leben gewonnen waren, außerordentlich viel lernen.

Und so kommt es auch in der Pädagogik, in dem Erziehungs- und Unterrichtswesen eben gar nicht auf Programme an, die doch nur aus dem Staatsleben und Rechtsleben heraus gegeben werden. Da kann als Verordnung ergehen in der allerbesten Weise, man solle dies oder jenes machen; aber in der Wirklichkeit hat man es zu tun mit einem Lehrerkollegium, das Lehrer mit diesen oder jenen Fähigkeiten umschließt. Mit diesen hat man lebensvoll zu rechnen. Kein Programm kann verwirklicht werden. Nur das kann verwirklicht werden, was aus den Individualitäten dieser Lehrer hervorgehen kann. Man muß Empfindung, Gefühl haben für diese Individualitäten. Man wird jeden Tag aufs neue aus dem unmittelbaren Leben des einzelnen heraus sagen müssen, was zu geschehen hat. Dann wird man nicht irgendein allumfassendes Programm hinstellen können. Das bleibt eine Abstraktion. Geschaffen werden kann etwas nur aus dem Leben heraus. Denken wir uns den extremsten Fall: Es wären für irgendein Gebiet überhaupt nur eine Anzahl Lehrer da mit mittleren Fähigkeiten. Nun, selbst wenn diese Lehrer in einer Stunde, wo sie nicht zu unterrichten, sondern nur zu denken brauchen, Lehrziele ausdenken sollten, Verordnungen geben sollten, so würden sie gewiß etwas außerordentlich Gescheites zusammenbringen. Aber etwas anderes ist es nun, an die Wirklichkeit des Unterrichts heranzutreten, da kommen lediglich ihre Fähigkeiten als Gesamtmenschen in Frage. Es ist durchaus ein anderes, ob man mit dem unmittelbaren Leben rechnet oder nur mit dem, was bloß aus dem Intellekt herausgeflossen ist. Dieser Intellekt hat nämlich die Eigenschaft, daß er die Dinge übertreibt, daß er im Grunde genommen immer das Unermeßliche der Welt umfassen will. Im wirklichen Leben sollte dieser Intellekt bloß Diener sein auf dem einzelnen konkreten Gebiet.

Aber wenn man besonders bedenkt, daß sich das, was zwischen den Menschen entsteht, insofern sie einander in völliger Gleichheit in ihrem Menschenwesen gegenüberstehen, als Recht entwickeln kann, dann muß man sagen: Was sich im allgemeinen unter Menschen entwickelt, wird ganz richtig, wenn es aus den Abstraktionen der Gegenwart heraus kommt, denn so empfinden die Menschen; sie begründen Rechtsverhältnisse untereinander, die auf gewissen abstrakten Menschenbegriffen fußen, und dadurch, daß die Menschen auf demokratischem Boden zusammenkommen, erst zu den bestimmten Rechtsverhältnissen werden. Aber es wird innerhalb des Allgemein-Menschlichen nichts geschaffen werden können, was aus dem unmittelbaren Leben des einzelnen hervorsprießen will, sondern nur, was für die Menschen im allgemeinen gelten kann. Das heißt, es wird auf demokratischem Boden, gerade wenn man ehrlich sein will, nicht das fließen können, was aus der Individualität des Menschen innerhalb des Geisteslebens erfließen soll. Daher ist es notwendig, daß man einsieht, wie zwar der Glaube an die Allmacht des Rechts- und Staatslebens eine Zeiterscheinung war, wie es auch geschichtlich berechtigt war, daß in der Zeit, in der die modernen Staaten heraufkamen, sich diese der Schule annahmen, weil sie sie anderen Mächten abnehmen mußten, die sie nicht mehr richtig verwalteten. Man sollte die Geschichte nicht nach rückwärts korrigieren wollen.

Aber man muß sich klar sein, daß aus der Entwickelung der neuesten Zeit die Tendenz hervorgeht, das Geistesleben wieder selbständig in sich zu gestalten, so daß das Geistesleben in sich seine eigene soziale Gestaltung, seine eigene Verwaltung hat, so daß auch das, was in der einzelnen Schulstunde vor sich geht, aus dem lebendigen Leben der Lehrerindividualität hervorgehen kann und nicht aus der Beobachtung irgendwelcher Verordnungen. Wir müssen uns entschließen, obwohl es als Fortschritt angesehen worden ist, das Geistesleben und mit ihm die Schule dem Staate auszuliefern, diesen Weg wiederum rückgängig zu machen. Dann wird es möglich sein, daß innerhalb des Geisteslebens, auch auf dem Gebiete des Schulwesens, die freie menschliche Individualität zur Geltung kommt. Und es braucht sich niemand zu fürchten, daß dadurch etwa die Autorität litte! Nein, da wo aus der menschlichen Individualität heraus produktiv gewirkt werden soll, da sehnen sich diese Individualitäten nach der naturgemäßen Autorität. Schon an der Waldorfschule können wir das sehen. Da ist jeder froh, wenn ihm der eine oder andere eine Autorität sein kann, weil er das braucht, was dieser andere produziert aus seiner Individualität heraus.

Und so bleibt dem staatlich-rechtlichen Leben die Möglichkeit, aus demokratischem Sinn heraus zu wirken. Wiederum aber ist es so, daß das staatliche Leben gerade durch seine Neigung zur Abstraktheit es in sich selber trägt, die Kräfte zu entwickeln, die dann zu Niedergangskräften werden. Und wer studiert, wie innerhalb des Staatlich-Rechtlichen dadurch, daß die Neigung zur Abstraktion besteht, sich eigentlich das, was Menschen tun, immer mehr und mehr abtrennen muß von dem konkreten Interesse am einzelnen Lebensgebiet, der wird auch einsehen, wie gerade im Staatsleben die Grundlage liegt für jene Abstraktion, die sich innerhalb der Kapitalzirkulation immer mehr und mehr herausgebildet hat. Die moderne Kapitalbildung wird ja von den breiten Volksmassen heute vielfach angefochten. Aber so, wie der Kampf geführt wird, wird er eigentlich nur aus Unkenntnis der Verhältnisse heraus geführt. Denn derjenige, der das Kapital oder den Kapitalismus etwa abschaffen wollte, müßte das ganze moderne Wirtschafts- und soziale Leben abschaffen; denn dieses soziale Leben kann nicht unter einem anderen Prinzip leben als dem der Arbeitsteilung, und mit ihr ist zu gleicher Zeit die Kapitalbildung gegeben. Sie äußert sich in der neuesten Zeit insbesondere dadurch, daß ein großer Teil des Kapitals durch die Produktionsmittel repräsentiert wird. Das Wesentliche aber ist, daß der Kapitalismus erstens eine notwendige Erscheinung innerhalb des modernen Lebens ist, daß er aber auf der anderen Seite immerzu auch, gerade wenn er sich verstaatlicht, dazu führt, daß das Geld abgetrennt wird von den konkreten Einzelgebieten. Und im 19. Jahrhundert ist das so weit getrieben worden, daß das, was eigentlich zunächst zirkuliert im sozialen Leben, so abgetrennt wird von den einzelnen konkreten Lebensgebieten, wie bei einem Denker, der nur in Abstraktionen lebt, seine blassen Ideen von dem wirklichen Leben abgetrennt sind. Das Wirtschaftliche, das in dieser Weise von den einzelnen Lebensgebieten abgetrennt ist, ist das Geldkapital. Wenn ich irgendeine Summe in meiner Tasche habe, so kann diese Summe jedes beliebige wirtschaftliche Objekt oder auch Objekt des Geisteslebens repräsentieren. Wie ein ganz allgemeiner Begriff zu den einzelnen Erfahrungen sich verhält, so verhält sich dieses Element zu den einzelnen konkreten Lebensgebieten. Das ist es, warum die Krisen entstehen müssen innerhalb der sozialen Ordnung.

Diese Krisen sind vielfach studiert worden. Im Marxismus zum Beispiel spielt die Krisentheorie eine große Rolle. Der Fehler besteht darin, daß man die Krisen auf eindeutige Ursachenreihen zurückführt, während sie in Wirklichkeit auf zwei Unterströmungen zurückzuführen sind. Es kann sein, daß das Kapital überschüssig ist, dann führt es dazu, indem es als Überschüssiges zirkuliert, daß Krisen entstehen. Es kann aber auch sein, daß zu wenig Kapital da ist, dann führt das auch zu Krisen. Und diese Krisen sind von verschiedener Wesenheit. Diese Dinge werden auch in der heutigen Nationalökonomie nicht wirklichkeitsgemäß studiert. In der Wirklichkeit ist es so, daß ein Ding die allerverschiedensten Ursprünge haben kann.

Und so sieht man, daß geradeso, wie das Geistesleben die Neigung hat, zu Niedergangskräften zu führen, die aus den Standesunterschieden, den Klassen- und Kastenunterschieden hervorgehen, so das Leben, das auf Abstraktionen hinarbeitet, und das mit Recht, in sich die Tendenz hat, auf der einen Seite zu den aufsteigenden Kräften, die in der berechtigten Kapitalbildung liegen, zu führen, auf der anderen Seite aber dadurch, daß der Kapitalismus in abstraktes Wirtschaften hineinführt, bei dem man mit einer Summe von Kapital das eine und das andere machen kann, dazu zu führen, daß Krisen entstehen.

Wenn man dies merkt, wird man zum Sozialreformer und denkt etwas aus, was zum Heile führen soll. Allein da tritt einem das entgegen: daß die einzelne Individualität zwar maßgebend sein muß für das wirtschaftliche Leben, indem sie ihre Erfahrungen beibringt, in entsprechenden Verbänden, daß aber aus dieser einzelnen Individualität für sich allein das Maßgebende im Wirtschaftsleben nicht hervorgehen kann. Darum stellte ich als das Notwendige neben dem Rechtlich-Staatlichen und dem Geistigen die Assoziation für das Wirtschaftsleben hin.

Und hier war auffällig, als ich in Deutschland draußen in einer kleineren Versammlung von Arbeitern über Assoziationen sprach, daß man mir sagte: Wir haben von vielem reden hören, aber was eigentlich Assoziationen sind, das wissen wir nicht, davon haben wir eigentlich nichts gehört. Die Assoziation ist keine Organisation, ist nicht irgendeine Koalition. Sie entsteht dadurch, daß sich die einzelnen Wirtschaftenden zusammenfinden, und daß jeder einzelne nicht das aufnimmt, was aus irgendeiner Zentralstelle heraus gemacht wird, sondern daß der einzelne das beitragen kann, was er aus seiner Erkenntnis des Gebietes, in dem er darinnensteht, weiß und kann. Und aus dem Zusammenarbeiten, bei dem ein jeder sein Bestes gibt und wo das, was geschieht, durch den Zusammenklang einer Anzahl entsteht, aus solchen Assoziationen kann sich erst alles übrige Wirtschaftliche ergeben.

Solche Assoziationen werden sich zusammenfügen. Das wird schon entstehen, ich habe keine Sorge. Wer mir sagt, das ist Utopie, dem sage ich: Ich weiß, daß diese Assoziationen entstehen einfach aus den unterbewußten Kräften im Menschen. Wir können aber diese Assoziationen fördern durch die Vernunft, wir können sie schneller entstehen lassen oder aber warten, bis sie sich aus der Not heraus entwickeln. In diesen Assoziationen werden vereinigt sein diejenigen, die Produktion, Handel treiben, und die Konsumenten. Und bloß Produktion, Zirkulation der Waren, der Güter und Konsumtion werden darinnen eine Rolle spielen. Die Arbeit wird immer mehr und mehr in das Gebiet des Rechtslebens hineinkommen. In bezug auf die Arbeit müssen sich die Menschen in demokratischer Art verständigen. Dadurch wird die Arbeit abgetrennt von dem, was einzig und allein im Gebiet des Wirtschaftslebens wirksam sein kann. Das kann nur das sein, was aus einem kollektiven Urteil in Assoziationen hervorgeht durch die Vereinigung von Produzenten und Konsumenten mit denen, die den Verkehr vermitteln.

Auf dem Gebiete des Wirtschaftslebens, in den Assoziationen, werden daher nur die Güter eine Rolle spielen. Damit ist aber etwas sehr Bedeutsames gegeben, daß wir überhaupt aufhören werden, über Preis und Wert einer Ware irgendwie feste Grundsätze aufzustellen, sondern wir werden sagen: Was Preis, was Wert irgendeines Gutes ist, ist etwas, was sich mit den Lebensverhältnissen ändert. Preis und Wert werden aufgedrückt werden durch das, was als Kollektivurteil aus den Assoziationen hervorgeht. Ich kann das nicht weiter schildern; aber man kann das Weitere in meinem Buche «Die Kernpunkte der sozialen Frage» nachlesen.

Ich habe nur darauf hindeuten wollen, daß wir durch die Beobachtung darauf hingewiesen werden, wie das gesamte soziale Leben in drei Gebiete zerfällt, die aus ganz besonderen, verschiedenen Bedingungen hervorgehen: das Geistesleben, das Rechts- und Staatsleben und das Wirtschaftsleben. Diese arbeiten sich gewissermaßen innerhalb der modernen Zivilisationsentwickelung zu einer gewissen Selbständigkeit heraus. Diese Selbständigkeit zu verstehen und jedem Gebiet das Seine allmählich zuzuteilen, damit sie gerade in der richtigen Weise zusammenarbeiten können, das ist es, worauf es heute ankommt.

Man hat in der verschiedensten Weise in der Menschheit über diese Dreigliederung des sozialen Organismus nachgedacht. Und man hat auch, als da und dort die «Kernpunkte der sozialen Frage» von mir bekannt wurden, auf das eine und andere, was aus Früherem schon anklingt, hingewiesen. Nun, ich will nicht irgendeine Prioritätsfrage aufwerfen. Es kommt nicht darauf an, ob der einzelne dies oder das gefunden hat, sondern wie es sich ins Leben einführt. Man könnte sich nur freuen, wenn recht viele Menschen darauf kämen. Aber das muß doch bemerkt werden: Wenn von Montesquieu in Frankreich eine Art Dreiteilung des sozialen Organismus definiert wird, so ist das einfach eine Dreiteilung. Da wird darauf hingewiesen, daß diese drei Gebiete eben durchaus verschiedene Bedingungen haben; darum solle man sie voneinander abtrennen. Das ist nicht die Tendenz meines Buches. Da handelt es sich nicht darum, so zu unterscheiden: Geistesleben, Rechtsleben und Wirtschaftsleben, wie man am Menschen unterscheiden würde das Nerven-Sinnessystem, Herz-Lungensystem und Stoffwechselsystem, indem man dabei sagen würde, das seien drei voneinander geschiedene Systeme. Mit solcher Einteilung ist nichts getan, sondern erst, wenn man sieht, wie diese verschiedenen Gebiete zusammenwirken, wie sie am besten eine Einheit werden dadurch, daß jedes aus seinen Bedingungen heraus arbeitet. So ist es auch im sozialen Organismus. Wenn wir wissen, wie wir das Geistesleben, das rechtlich-staatliche Leben und das Wirtschaftsleben jedes auf seine ureigenen Bedingungen stellen, aus seinen ureigenen Kräften heraus arbeiten lassen, dann wird sich auch die Einheit des sozialen Organismus ergeben. Und dann wird man sehen, daß aus jedem einzelnen dieser Gebiete gewisse Niedergangskräfte hervorgetrieben werden, die aber durch das Zusammenwirken mit den anderen Gebieten wiederum geheilt werden. Damit ist hingewiesen, nicht wie bei Montesquieu auf eine Dreiteilung des sozialen Organismus, sondern auf eine Dreigliederung des sozialen Organismus, die sich aber dadurch in der Einheit des gesamten sozialen Organismus zusammenfindet, daß ja jeder Mensch allen drei Gebieten angehört. Die menschliche Individualität, auf die doch alles ankommt, steht in diesem dreigegliederten sozialen Organismus so drinnen, daß sie die drei Glieder miteinander verbindet.

So können wir sagen, daß - gerade wenn man sich anregen läßt von dem, was hier gesagt worden ist - nicht etwa eine Teilung des sozialen Organismus, sondern die Gliederung desselben angestrebt wird, gerade damit die Einheit in der richtigen Weise zustande komme. Und man kann auch, wenn man mehr an die Oberfläche tritt, sehen, wie seit mehr als einem Jahrhundert die Menschheit Europas dahin tendiert, eine solche Gliederung zu suchen. Sie wird kommen, auch wenn die Menschen sie bewußt nicht wollen werden; denn unbewußt werden sie sich so im Wirtschaftlichen, Geistigen, Rechtlich-Staatlichen bewegen, daß diese Dreigliederung kommen wird. Sie ist etwas, was von der Menschheitsentwickelung selber gefordert wird.

Und so kann man auch darauf hinweisen, wie die drei Impulse, die gegenüber diesen drei verschiedenen Lebensgebieten in Betracht kommen, einmal wie drei bedeutungsvolle Ideale, wie drei Devisen für das soziale Leben, in die europäische Zivilisation eingetreten sind. Da hat sich am Ende des 18. Jahrhunderts im europäischen Westen der Ruf nach Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit geltend gemacht. Wer würde sich nicht sagen, wenn er es mit der Entwickelung der neueren Zeit hält, daß in diese drei Devisen drei bedeutungsvolle menschliche Ideale gelegt sind? Aber auf der anderen Seite wiederum muß man sagen, daß es viele Menschen im 19. Jahrhundert gegeben hat, die sehr geistvoll widerlegt haben, daß irgendein einheitlicher sozialer Organismus, irgendein Staat möglich ist, wenn er diese drei Ideale miteinander verwirklichen soll. Mehr als ein geistvolles Werk ist geschrieben worden, in dem nachgewiesen ist, wie nicht gleichzeitig im Staat völlig vereint sein können Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit. Und man kann nicht sagen, daß das, was da in geistvoller Weise geschrieben worden ist, nicht recht sehr bedenklich machen müsse. Und so ist man da wiederum einmal in einen Lebenswiderspruch hineingestellt.

Allein das Leben ist nicht dazu da, keine Widersprüche zu treiben, es ist überall widerspruchsvoll. Und es besteht darin, daß es die aufgeworfenen Widersprüche immer wieder überwindet. Gerade im Aufwerfen und Überwinden von Widersprüchen besteht das Leben. So ist es außerordentlich berechtigt, daß die drei großen Ideale von Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit aufgestellt worden sind. Weil man aber im 19. Jahrhundert und bis in unsere Zeiten herein fortwährend geglaubt hat, daß alles ganz zentralistisch geordnet werden müsse, deshalb kam man auch in dieser Beziehung in die Lebensirrtümer hinein. Und deshalb konnte man nicht durchschauen, wie es keine Bedeutung hat, sich herumzuschlagen über die Art und Weise, wie die Produktionsmittel verwandt werden, wie der Kapitalismus entwickelt werden soll und so weiter, sondern daß es sich darum handelt, die Menschen in Verhältnisse zu bringen, in denen sie ihre sozialen Angelegenheiten aus den ureigensten Trieben ihres Wesens ordnen können. Da müssen wir sagen: Wir müssen lebensvoll erfassen, wie wirken muß die Freiheit im Geistesleben, die freie produktive Entfaltung der Individualität; wie wirken muß die Gleichheit im rechtlich-staatlichen Leben, wo jeder das, was jedem Menschen zukommt, mit jedem anderen Menschen im demokratischen Sinn entwickeln soll; wie wirken muß die Brüderlichkeit in den konkreten Verbänden, die das umfassen, was wir die Assoziationen nennen. Nur wer so hinschaut auf das Leben, der sieht es richtig.

Dann aber wird man einsehen: Weil man in abstrakter Weise geglaubt hat, in dem bloßen Einheitsstaat, in den sich das Wirtschaftliche hineingeschoben hat, alle drei Ideale in gleicher Form unterzubringen, darum ist es zu dem Lebenswiderspruch gekommen. Die drei Ideale Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit wird man einmal lebensvoll verstehen, wenn man einsieht, wie Freiheit im Geistesleben herrschen muß, Gleichheit im staatlich-rechtlichen Leben und Brüderlichkeit im Wirtschaftsleben. Und zwar nicht in sentimentaler Weise, sondern so, daß es zu sozialen Gestaltungen führt, innerhalb welcher die Menschen so leben können, daß sie ihre Menschenwürde und ihren Menschenwert erleben. Begreift man, daß der einheitliche Organismus nur dadurch entstehen kann, daß aus der Freiheit heraus der Geist sich in produktiver Art entwickelt, daß die Gleichheit wirken muß im Staats- und Rechtswesen und die Brüderlichkeit im Wirtschaftsleben, in den Assoziationen, dann wird man hinwegkommen über die schlimmsten sozialen Schäden der Gegenwart.

Denn nur das, was aus dem Menschen frei als Individualität quellen kann, gibt ihm ein geistiges Leben, das in der Wahrheit wurzelt; diese Wahrheit kann nur zutage treten, wenn sie aus der Menschenbrust unmittelbar herausfließt. Der demokratische Sinn wird nicht eher ruhen, bis er auf staatlich-rechtlichem Gebiet die Gleichheit verwirklicht hat. Wir können das aus Vernunft tun, sonst setzen wir uns Revolutionen aus. Und auf wirtschaftlichem Gebiete muß die Brüderlichkeit leben in den Assoziationen.

Dann wird das Recht, das unter den Menschen gegründet wird aus einem Verhältnis heraus, wo der Gleiche dem Gleichen gegenübersteht, lebendiges Recht sein. Alles andere Recht, das gewissermaßen über dem Menschen schwebt, das wird zur Konvention. Wirkliches Recht muß hervorgehen aus dem Zusammensein der Menschen, sonst wird es zur Konvention.

Und wirkliche Brüderlichkeit kann nur eine Lebenspraxis begründen, wenn sie aus den wirtschaftlichen Verhältnissen selbst heraus, in Assoziationen, begründet wird; sonst begründet das menschliche Zusammenwirken in den Verbänden nicht Lebenspraxis, sondern Lebensroutine, wie wir das fast allgemein in der Gegenwart haben.

Erst wenn man fragen gelernt hat: Was haben sich für soziale chaotische Zustände ergeben unter dem Einfluß der Phrase statt der Wahrheit auf geistigem Gebiet, der Konvention statt des Rechts auf staatlich-rechtlichem Gebiet, der Lebensroutine statt der Lebenspraxis auf wirtschaftlichem Gebiet, dann wird man die Frage in der richtigen Weise stellen. Und dann wird man sich auf einen Weg begeben, der eigentlich erst die soziale Frage in richtiger Weise anschneiden kann.

Man wird vielleicht etwas schockiert sein, daß hier die soziale Frage nicht so angegriffen sein soll, wie manche glauben, daß sie angegriffen werden müßte. Aber hier soll nur aus dem heraus gesprochen werden, was der Wirklichkeit selbst gerade mit Hilfe der Geisteswissenschaft, die überall auf Wirklichkeit geht, abgewonnen werden kann. Und da ergibt sich, daß die Kernfragen des sozialen Lebens heute die sind:

Wie kommen wir durch eine richtige Gliederung des sozialen Organismus von der vielfach herrschenden Phrase, die aus der menschlichen Individualität dadurch hervorgeht, daß sie sich in ihrem geistigen Schaffen einem anderen beugen muß, zur Wahrheit, von der Konvention zum Rechte und aus der Lebensroutine heraus zur wirklichen Praxis?

Erst wenn man einsehen wird, daß der dreigegliederte soziale Organismus notwendig ist, um Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit zu schaffen, dann wird man die soziale Frage in der richtigen Weise gestalten. Dann wird man auch den gegenwärtigen Zeitpunkt richtig an das 18. Jahrhundert anknüpfen. Und dann kann Mitteleuropa die Möglichkeit finden, zu dem, was Westeuropa gesagt hat, indem es gefordert hat: Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit, aus seinem Geistesleben heraus zu sagen: Freiheit im Geistesleben, Gleichheit im staatlich-rechtlichen Leben und Brüderlichkeit im wirtschaftlichen Leben.

Dann wird für die soziale Frage manches getan sein, und man wird sich eine Idee darüber bilden können, wie die drei Gebiete im sozialen Organismus aus Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit zusammenwirken können zu einer Gesundung aus unseren heutigen chaotischen geistigen, rechtlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen heraus.

Rudolf Steiner


Quelle: Rudolf Steiner, GA 83 - Westliche und östliche Weltgegensätzlichkeit, Wege zu ihrer Verständigung durch Anthroposophie, Zehn Vorträge gehalten auf dem Zweiten internationalen Kongreß der anthroposophischen Bewegung in Wien, vom 1. bis 12. Juni 1922, Seite 278-312, dritte Auflage 1981, Basel

Veröffentlichung mit freundlicher Genehmigung des Rudolf Steiner Verlags, Basel
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