Arbeitslohn und Wiederverkörperung

12.04.1970

Quelle
Zeitschrift „Goetheanum“
Jahrgang 49, Nummer 15, 12. April 1970, S. 114-116
Bibliographische Notiz

In dem Stuttgarter Vortrag Rudolf Steiners vom 21. Februar 1912 mit dem Titel „Wie kommt man zur Erkenntnis wiederholter Erdenleben?“ stösst man unvermutet auf einen Satz, der für eine soziologische Betrachtung von ausserordentlicher Wichtigkeit ist. Er lautet:

„In der Tat — es gibt zum Beispiel nichts, was so sehr feindlich gesinnt ist einer wirklichen Überzeugung von Reinkarnation und Karma wie der Grundsatz des Lebens, dass man für dasjenige, was man unmittelbar als Arbeit leistet, einen der Arbeit entsprechenden Lohn, der die Arbeit geradezu bezahlt, einheimsen müsse. Eine solche Rede klingt ja sonderbar, recht sonderbar! Betrachten Sie die Sache aber nicht so, als wenn die Anthroposophie nun gleich radikal die Grundsätze einer Lebenspraxis über den Haufen werfen und über Nacht eine neue Lebensordnung einführen wollte. Das kann nicht sein. Aber der Gedanke müsste den Menschen nahe treten, dass in der Tat in einer Weltordnung, in der man daran denkt, Lohn

[Goetheanum, Jahrgang 49, Nr. 15, 12. April 1970, Seite 114]

und Arbeit müssten sich unmittelbar entsprechen, in der man sozusagen durch seine Arbeit dasjenige verdienen muss, was zum Leben notwendig ist, in einer solchen Weltordnung niemals eine wirkliche Grundüberzeugung von Reinkarnation und Karma gedeihen kann.“

In diesen Vorträgen von 1912 stellt Rudolf Steiner die Forderung, der Gedanke von Reinkarnation und Karma müsse noch viel rascher zum Allgemeingut der Menschen unserer Zeit werden, als seinerzeit das kopernikanische Weltbild, das die Sonne in den Mittelpunkt des Planetensystems stellte, statt die Erde, populär geworden ist, obwohl noch lange kein zwingender Beweis geliefert war und diese Lehre bis zum Jahre 1822 auf dem Index stand. In der Tat ist die Erkenntnis von der Wiederverkörperung der Menschenseele eine solche, die Lebensrätsel zu lösen vermag, welche sonst völlig unerklärlich bleiben.

Inwiefern steht nun die heute allgemein übliche Bezahlung der Arbeit, selbst diejenige, die den täglichen Lebensunterhalt decken muss, in Widerspruch zu dieser Lehre, und wie müsste sich die Deckung der Lebenskosten vollziehen?

Die Frage hat mehrere Aspekte. Der ethische betrifft den Zwang, dem die Menschen unterliegen, die um des Geldverdienens willen arbeiten müssen. In den Fällen, in denen viel verdient wird, wandelt sich der Zwang heutzutage in ein freiwilliges Bestreben und wird vielfach zum Lebensinhalt überhaupt. Aber schon die unselbständig Erwerbenden, wie man sagt, empfinden die nur durch kärgliche Freizeiten unterbrochene Dauerarbeit als eine Tretmühle, von der sie sich erst im pensionsberechtigten Alter befreien können. Dies trifft auch auf die Dienstleistungen zu, bei denen oft ein befriedigender Arbeitsantrieb fehlt. Beim Arbeiter, der unter Umständen schwere Handarbeit leisten muss, drückt sich das Unbefriedigtsein nach aussen hin in immer höheren Lohnforderungen aus. Innerlich drückt ihn jedoch sein Schicksal, in subalterner Position das Leben verbringen zu müssen. Dies wird besonders dann als entwürdigend empfunden, wenn in den Betrieben hohe Anforderungen gestellt werden und dazu noch ein schlechter Ton herrscht. Es ist noch nicht gar so lange her, seit man von Menschenwürde und einem mehr oder weniger guten Betriebsklima spricht.

Die im obigen Wortlaut enthaltene Feststellung betrifft aber noch anderes. Kann und darf menschliche Arbeitskraft überhaupt bezahlt werden? Im Grunde genommen trägt der Mensch damit seinen „himmlischen Anteil“ zu Markte, wie Rudolf Steiner sich einmal ausdrückt, und erhält dafür schnödes Geld. Unterliegt seine Arbeitskraft gar dem Wechselspiel von Angebot und Nachfrage, so erhält sie selbst einen gewissen Warencharakter, der heute allerdings durch die in den Tarifverträgen festgelegten Rechte gemildert ist. Gewisse Leistungsprämien oder Akkordabmachungen binden die Arbeit unweigerlich an den Verdienst. Er ist heute der allein sanktionierte Arbeitsantrieb. Wo das Interesse für die herzustellenden Produkte geweckt werden konnte, oder wo wertvolle Arbeit zu leisten ist, die Fachkenntnisse erfordert, treten sachliche Arbeitsantriebe hinzu, können aber doch nicht voll befriedigen, solange am Grundprinzip der Arbeitsentlöhnung festgehalten wird. Etwas günstiger sehen die Verhältnisse bei den Angestellten aus, die sich meistens für ihren Chef einsetzen oder, unabhängig von den Besitzverhältnissen, das Unternehmen - zu fördern gewillt sind. Dies hängt mit der Möglichkeit zusammen, sich in höhere Positionen hinaufzuarbeiten, was beim Arbeiter nur selten der Fall ist. Daraus ergibt sich auch das gegenwärtig oft diskutierte Bedürfnis nach Mitbestimmung, durch welche die Kluft zwischen den Sozialpartnern sich verringern soll.

Ist damit erschöpft, was Rudolf Steiner in seinem Vortrage charakterisiert hat? Nicht im geringsten! Was hat das bisher Vorgebrachte mit der Idee der Wiederverkörperung zu tun? Gewiss, man hat den Menschen entdeckt und bemüht sich, seine Menschenwürde zu achten. An der untergeordneten Stellung des Arbeiters hat sich dadurch nichts geändert. Noch immer ist er derjenige, der zu gehorchen hat, der eingespannt ist in ein Räderwerk, das den Notwendigkeiten der Produktion entspricht. Für wen wird aber produziert? Sei es ein einzelner Unternehmer oder die von einer Unternehmergruppe beauftragte Leitung, die gar nicht über Besitzrechte zu verfügen braucht, oder seien es völlig anonyme Aktionäre, die den Betrieb oft nicht einmal kennen: immer steht das Erwerbsinteresse, d. h. die Rentabilität und die Expansion des Unternehmens im Vordergrund als ein Prinzip, an dem die Mitarbeiter keinen Anteil haben. Daher die Forderung nach immer höheren Löhnen und anderen Vergünstigungen!

Lohnkämpfe und Streikdrohungen erschweren das gute Einvernehmen der Sozialpartner, das zur Erzielung einer reibungslosen Produktion notwendig ist. Um sie zu vermeiden, sollten die Lohnverhältnisse eine vollkommene Wandlung erfahren. Erst wenn ein Zustand geschaffen werden kann, der es ermöglicht, die anfallende Arbeit aus sachlichem Interesse freiwillig zu leisten, kann von einer Menschengemeinschaft gesprochen werden, die gemeinsam eine Aufgabe zu erfüllen gewillt ist. Solche Zustände gab es früher, als der Prinzipal die Lebensumstände jedes seiner Mitarbeiter gekannt hat und oft wie ein väterlicher Berater zur Seite stand. Was damals möglich war, ist in der modernen Grossindustrie nicht zu erwarten. Und doch dürfte das Bewusstsein einer Menschengemeinschaft nicht verlorengehen. In dieser drücken sich die Schicksale aus, welche die Menschen, — wenn auch auf sehr verschiedenen Stufen — zusammengeführt haben. Hier kommen — obwohl meistens unbewusst — die Gedanken einer Wiederverkörperung der Seelen und der ausgleichenden Gerechtigkeit zum Vorschein. Können denn die Unternehmer wissen, in welchen Beziehungen sie zu den Mitarbeitern in früheren Erdenleben gestanden sind? Warum müssen diese heute dienen, während dem Leiter grosszügige Aufgaben gestellt sind? Auch von Seiten der Arbeiter müssen solche Fragen aufgeworfen werden. Haben aber nicht diejenigen, welche über Möglichkeiten dazu verfügen, ganz andere Verpflichtungen gegenüber ihren Helfern, als nur die der Abfindung mit ahrimanischem Papiergeld und Münzen? Ihnen müsste die Weiterbildung und Beglückung der Mitarbeiter durch Belehrung, Kurse, auch künstlerischer Art, und Aussprachen am Herzen liegen. Nicht nur Information über Betriebs- und wirtschaftliche Vorgänge, welche das Interesse an der Produktion steigern, sondern allgemeine Hebung des Bildungsniveaus. Man sieht, dass von einer solchen Einstellung zum Mitmenschen die finanzielle Entschädigung seiner Arbeit ganz unabhängig ist. Weiss der Unternehmer oder der Direktor denn, ob nicht er in einem früheren Erdenleben der Untergebene oder gar der Ausgebeutete war? Oder ob er in einem folgenden Erdenleben denjenigen dienen muss, die sich heute ausgenützt oder benachteiligt fühlen! Solche Fragen berühren zutiefst die sogenannte Atmosphäre, die in einem Unternehmen spürbar herrscht.

Nach diesen Betrachtungen können wir uns nun der Frage nähern, wie denn die Kosten für den Lebensunterhalt aufgebracht werden sollen, wenn die Arbeit nicht bezahlt werden kann? Zunächst ist festzuhalten, dass bei der Warenproduktion in Wirklichkeit das von den Arbeitern hergestellte Produkt vergütet wird, nämlich der Anteil, der in den Selbstkosten steckt. Dieser hat mit dem Warenwert und dem Verkaufspreis des Fertigfabrikats, daher auch mit dem Unternehmergewinn nichts zu tun. Auch das, was man heute Lohn nennt, muss aus dem Verkaufserlös der Ware aufgebracht werden. Seit in der modernen Industrie das Prinzip der Arbeitsteilung, der zunehmenden Mechanisierung und der Automation eingeführt ist, verlor dieser Bezug seine Beachtung. Der Arbeitslohn ist zu einem Unkostenposten degradiert, der in der Buchhaltung dem Aufwand für Kraft und Strom gleichgestellt wird.

Manche Unternehmer empfinden diese Anomalie und beteiligen ihre Mitarbeiter, zusätzlich zum Lohn, freiwillig am Erfolg des Geschäfts, sei es am Gewinn oder auch am Kapital. Gewisse Kreise meinen, diese Entwicklung, verbunden mit dem bereits erwähnten Bestreben der Gewerkschaften nach Mitbestimmung, könnte im Laufe der Zeit zu einer wirtschaftlichen Gleichstellung aller Beteiligten führen, wie sie schon vor über 100 Jahren von Ferdinand Lassalle angestrebt worden war.

[Goetheanum, Jahrgang 49, Nr. 15, 12. April 1970, Seite 115]

Rudolf Steiner suchte keine kapitalistische Lösung. In seinem Buche Die Kernpunkte der sozialen Frage spricht er von einem vertraglichen Teilungsverhältnis anstelle des Lohns. Die Beteiligung sollte über die Dauer der Zusammenarbeit bestehen und beim Ausscheiden eines Arbeitnehmers wieder erlöschen. Sie verlangt monatliche Vorauszahlungen und endgültige Abrechnung nach dem Ablauf des Geschäftsjahres [1]. Es versteht sich, dass ein Existenzminimum festgelegt sein muss, das sich nach den allgemeinen Lebensverhältnissen eines bestimmten Gebietes zu richten hat. Entscheidend für den Arbeitsfrieden ist, dass die Arbeitsbedingungen nach Mass und Art vor dem Beginn eines Arbeitsverhältnisses rechtlich geregelt sind. Damit steht der Arbeitnehmer als freie Persönlichkeit dem Unternehmer gegenüber, ohne von diesem finanziell abhängig zu werden. Dadurch wird es auch möglich, den Arbeitsausschüssen vollen Einblick in den Geschäftsgang und die jeweilige finanzielle Situation zu gewähren. Offene Karten begünstigen die Vertrauensgrundlage.

Die verantwortliche Leitung muss aber denjenigen vorbehalten bleiben, die durch Erfahrung und Weitblick und durch fundierte Kenntnisse der technischen, organisatorischen und wirtschaftlichen Notwendigkeiten zur Führung eines Unternehmens befähigt sind. Demokratie in der Wirtschaft könnte keine günstigen Folgen haben. Entscheidungen über Entwicklung und Planung müssen diejenigen fällen, die das Risiko zu tragen haben. Allerdings werden die Unternehmer immer mehr auf das alleinige Verfügungsrecht über die Gewinne verzichten müssen, weil sich eine Neutralisierungstendenz des Betriebskapitals abzuzeichnen beginnt, die häufig auf dem Wege der Stiftung vollzogen wird.

Ein solches Verfahren setzt voraus, dass überbetriebliche Vereinbarungen geschaffen werden, durch welche die Warenpreise in ein gesundes und gerechtes Verhältnis zum Lebensstandard und zur Einkommenslage der Beschäftigten gebracht werden. Die Wirtschafts-Assoziationen, in welchen auch die Konsumenten vertreten sein müssen, bilden das Forum, um volkswirtschaftliche Gesichtspunkte unter Fachleuten zu beraten, ohne dass parteipolitische Interessen hereinspielen können. Hingegen kann die Methode zur Errechnung der Lebenshaltungskosten und deren finanzielle Befriedigung einer demokratischen Beurteilung unterliegen. Was die Wirtschaft global aufzubringen vermag, hängt von dem gesamten Geschäftsgang, also von dem gemeinsam erarbeiteten Bruttosozialprodukt eines Territoriums oder einer Volkswirtschaft ab. Auf diese Weise kann der einzelne Betrieb und überhaupt das ganze Wirtschaftsleben von den Unzufriedenheit und Misstrauen verursachenden Lohnkämpfen enthoben werden. „Worauf es ankommt“, schreibt Rudolf Steiner schon 1905 im Zusammenhang mit dem sozialen Hauptgesetz, das in unserer Betrachtung verarbeitet ist, „das ist, dass für die Mitmenschen arbeiten und ein gewisses Einkommen zu erzielen, zwei von einander ganz getrennte Dinge seien [2].“

So kann sich das Wirtschaftsleben ungestört seinen eigentlichen Aufgaben widmen, die es — ganz unabhängig von politischen Eingriffen — selbst zu gestalten und selbst zu verwalten berufen ist.

Der Produktionsprozess hingegen gehört, genau besehen, nur indirekt zur Sphäre des Wirtschaftens. Man kann sogar sagen, dass die Fähigkeit, etwas zu produzieren oder Maschinenarbeit zu überwachen (z.B. Automaten, mechanische Webstühle oder elektronische Steuerungen), gar keine wirtschaftliche, sondern eine geistige Betätigung ist. Der eigentliche Wirtschaftsprozess spielt sich dort ab, wo die Waren (Halb- und Fertigfabrikate, aber auch Rohstoffe und Produktionseinrichtungen) zum Ein- und Verkauf angeboten werden, in den Verkehr kommen und je nach der Nachfrage und dem Angebot an Geld den Besitzer wechseln. Der einzelne kann im Zeitalter der Arbeitsteilung überhaupt nicht für sich, sondern nur für die andern arbeiten, und es wird ihm umso besser gehen, je besser es den andern geht. Da er sich mit seiner Arbeitskraft der Allgemeinheit zur Verfügung stellt, ergibt sich sein Anspruch auf Ersatz der Lebenskosten, zu denen auch der Unterhalt seiner Angehörigen und die Ausbildung seiner Kinder gehören.

Wer sich solche Gedanken zu eigen machen kann, wird in erhöhtem Masse auf die Menschenschicksale achten, die in einer Arbeitsgemeinschaft erkennbar sind, und wird es — wenn er etwas weiss von der Wiederverkörperung der Seelen – vielleicht für möglich halten, diesen Menschen, die manchmal ihr ganzes Leben in der gleichen Arbeitsstätte verbringen, einst wieder zu begegnen. Er wird dann einsehen, warum menschliche Arbeit nicht unmittelbar bezahlt werden dürfte, und empfinden, dass es notwendig ist, sich unablässig Gedanken über eine Ablösung des Lohnverhältnisses zu machen: Ein praktischer Versuch, womöglich in einem gewissen überbetrieblichen Rahmen, würde die Welt aufhorchen lassen.

[1] Im Gegensatz dazu steht die japanische Gepflogenheit, niedrige Löhne zu bezahlen, dafür aber den Arbeitern bei der Beendigung des Dienstverhältnisses, was meistens erst nach dem Erreichen der Altersgrenze der Fall ist, eine Kapitalabfindung zu bewilligen.

[2] Ob die in manchen Grossbetrieben aus praktischen Gründen eingeführte Neuerung, Löhne und Gehälter unpersönlich durch ein Bankinstitut auszahlen oder gutschreiben zu lassen, schon als ein Symptom für das Empfinden einer solchen Trennung angesehen werden kann, mag dahingestellt bleiben.

[Goetheanum, Jahrgang 49, Nr. 15, 12. April 1970, Seite 116]