Vom „Metaorganismus“ zur Neugestaltung des sozialen Organismus

01.10.2000

Etwa ein Jahr, nachdem Rudolf Steiner sich mit seinen Memoranden an Regierungsvertreter von Österreich und Deutschland gewendet hatte, um erstmalig für die Idee der Dreigliederung des sozialen Organismus einzutreten, findet sich in einem Berliner Mitgliedervortrag folgende merkwürdige Stelle:

"Es glauben die Menschen schon etwas Bedeutsames zu haben, wenn sie sagen, man solle das gesellschaftliche Zusammenleben nicht als einen Mechanismus, sondern als einen Organismus erfassen. Das ist der schlimmste Wilsonianismus mitten unter uns! Ich habe schon öfters gesagt, daß gerade das Wesen des Wilsonianismus darin besteht, daß er keine andern Begriffe für das gesellschaftliche Zusammenleben aufbringen kann als den des Organismus. Darauf kommt es aber an, daß man begreifen lernt, daß die Menschen zu höheren Begriffen noch kommen müssen, als der des Organismus ist, wenn sie die soziale Struktur begreifen wollen. Diese soziale Struktur kann niemals als Organismus begriffen werden; sie muß als Psychismus, als Pneumatismus begriffen werden, denn Geist wirkt in jedem gesellschaftlichen Zusammenleben der Menschen. Arm ist unsere Zeit an Begriffen geworden. Wir können nicht eine Volkswirtschaft begründen, ohne das wir hineintauchen in die Geist-Erkenntnis, denn nur da finden wir den Metaorganismus; da finden wir das, was über den bloßen Organismus hinausgeht." #1

Wollte Rudolf Steiner nun seine eigene Lehre vom sozialen Organismus in Frage stellen? Dieses anzunehmen wäre natürlich völliger Unsinn. Warum aber legte er den Mitgliedern der Anthroposophischen Gesellschaft nahe, sich um den Metaorganismus zu kümmern, den er hier als "Psychismus, Pneumatismus" bezeichnet? In den öffentlichen Vorträgen hat er auf die Bedeutung eines solchen Metaorganismus nie direkt hingewiesen. Es scheint, als wollte er hier einen Menschenkreis ansprechen, der sich intim und ernsthaft mit der Geisteswissenschaft und ihren Schulungsbedingungen auseinandersetzt. Die Frage ist daher berechtigt: Was erwartete Rudolf Steiner hier von den Anthroposophen in einer Zeit, in der sie sich gerade anfänglich mit der Idee der Dreigliederung des sozialen Organismus vertraut machten? ­ Man bedenke: Die "Kernpunkte" waren noch nicht geschrieben und die Dreigliederungsbewegung noch nicht gebildet. Durch die Wortwahl Rudolf Steiners in obigem Zitat wird deutlich, daß er den Blick auf die seelisch-geistige Ebene des sozialen Lebens lenken wollte. Auf dieser Ebene, so darf man annehmen, sollte etwas ergriffen werden, das ein fruchtbares Wirken für den sozialen Organismus überhaupt erst ermöglichen würde. Den Anthroposophen legte er ans Herz, sich um etwas zu kümmern, was er Psychismus, Pneumatismus nennt. Was aber ist darunter zu verstehen? Diese Worte tauchen später bei Steiner nicht mehr auf. Es wäre aber leichtsinnig zu glauben, daß sich damit die Sache erledigt hätte. Vielmehr darf man davon ausgehen, daß, wenn man als Anthroposoph über den sozialen Organismus nachdenkt, die Aufforderung, auch über den Metaorganismus nachzudenken, bestehen bleibt. Wie aber ist es möglich, ohne schon die Fähigkeit zur übersinnlichen Beobachtung ausgebildet zu haben, sich einen Begriff von dem zu bilden, was Rudolf Steiner hier als "Psychismus, Pneumatismus" bezeichnet? Zwei Ansätze haben sich hier dem Verfasser als fruchtbar erwiesen. Zum einen kann man die Darstellungen Rudolf Steiners zur Idee der Dreigliederung des sozialen Organismus daraufhin durchsehen, ob in deren Gedankengestaltung etwas auf diesen Metaorganismus verweist. Zum anderen kann man schauen, auf welchen Lebensgebieten Rudolf Steiner selbst tätig wird oder Tätigkeiten anregt, die mit der Gestaltung dieses Metaorganismus zu tun haben könnten. Beides wird sich bei einem ernsthaftem Ringen, zu einem immer deutlicherem Bild verdichten. In jüngerer Zeit hat Bernhard Steiner im Goetheanum Nr.4/98 u. Nr. 15/2000 den Versuch unternommen, eine Skizze zu interpretieren, die Rudolf Steiner auf eine Frage von Roman Boos am im Januar 1919 entworfen hatte. Darin ordnet dieser die aus der mittelalterlichen Alchimie bekannten Begriffe Sal ­ Mercur ­ Sulphur in folgender Weise dem menschlichen und dem sozialen Organismus zu: beim Einzelmenschen entspräche Sal dem Kopf, Mercurius der Brust und Sulphur dem unteren Menschen, beim sozialen Körper aber Sulphur dem Geistesleben, Mercurius dem Recht und Sal der Wirtschaft. Für unsere Erörterung wird diese Skizze insbesondere aber dadurch interessant, daß Rudolf Steiner nun auch noch das Verhältnis des Einzelmenschen und des Gesellschaftskörpers je zueinander unter diesem Gesichtspunkt betrachtet und somit auf ein Gebiet aufmerksam macht, das weder Gesellschaftskörper noch den individuellen Menschen betrifft. Der einzelmenschliche Gliederung insgesamt ordnet Rudolf Steiner den Sulphurcharakter zu, der Gliederung des sozialen Organismus insgesamt den Salcharakter. Das Verhältnis von Einzelmensch zu sozialen Organismus bestimmt Rudolf Steiner mit Mercurius. Wo kann man dieses merkurielle Element im sozialen Leben auffinden? Bernhard Steiner versucht diese Frage zu lösen, in dem er auf das Geldwesen verweist. Dieses ist aber insofern unbefriedigend, als daß das Geldwesen etwas ist, was dem sozialen Organismus selbst zugerechnet werden muss. Das merkurielle Element, auf das Rudolf Steiner hier hindeuten will, darf man weder innerhalb des sozialen Organismus noch innerhalb des Einzelmenschen aufsuchen. Es soll gezeigt werden, daß sich dieses merkurielle Element als das verstehen läßt, was Rudolf Steiner ein halbes Jahr zuvor als Psychismus bzw. Pneumatismus bezeichnet hat. Bevor aber der Frage nach dem Psychismus nachgegangen wird, sei, um der Abgrenzung willen, kurz darauf hingewiesen, wie dieser gegen den sozialen Organismus abgegrenzt werden kann. Der soziale Organismus tritt in seinen Einrichtungen in Erscheinung. Er erhält sich in dem Maße gesund, wie es gelingt, diese Einrichtungen in richtiger Weise in Verbindung mit den menschlichen Tätigkeiten zu halten. Nach dem Wirtschaftsleben hin bekommen die Einrichtungen immer mehr Salcharakter; sie lassen sich vom Einzelmenschen ablösen. Nach Geistesleben hin bekommen sie Sulphurcharakter; d.h. sie sind ganz eng an die Wirksamkeit der sie hervorbringenden menschlichen Individualität gebunden. Der Psychismus hingegen gestaltet sich auf der rein seelischen Ebene zwischen Menschen; er wirkt zwar in die Einrichtungen mittelbar hinein; diese sind aber nicht seine Erscheinungsform. Ein Psychismus kann sich aus alten Kräften gestalten; in diesem Falle lebt sich aus, was aus dem alten Karma einer Menschengruppe stammt. Er kann aber auch aus Zukunftskräften gebildet werden. Er erhebt sich zum Pneumatismus, je stärker sich eine Menschengemeinschaft mit individualisierten Geistkräften durchdringt. Wenn man nun der Frage nachgeht, ob es innerhalb der Tätigkeiten Rudolf Steiners Versuche gab, einen solchen Psychismus bzw. Pneumatismus zu bilden, dann wird man bald zu dem ganzen Umfeld der Gestaltungen um die Weihnachtstagung geleitet. Dieser Weihnachtstagung sind ja tragische Verhältnisse vorausgegangen: die immer stärkere Zersplitterung der Anthroposophischen Gesellschaft seit 1919 durch einseitige Initiativen nach außen und der damit verbundenen Auflösung der geistigen Schutzhülle für den Goetheanumbau; dann der Goetheanumbrand von 1922; zuletzt das Krisenjahr 1923 mit den immer wieder unzureichenden Versuchen einer anthroposophischen Gemeinschaftsbildung. Man kann sagen: es gelang den führenden Repräsentanten der damaligen Anthroposophischen Gesellschaft nicht, den Metaorganismus in rechter Weise zu bilden. Am Ende dieses Prozesses nahm Rudolf Steiner die Dinge selbst in die Hand. Dadurch brachte er die bittere Wahrheit zum Ausdruck, daß selbst die vornehmsten Repräsentanten der Anthroposophie noch nicht in der Lage waren, die vom Leben geforderte "...allgemeine Aufgabe, den Menschen zusammenzubringen mit den gemäß der Menschheitsentwickelung heute aus göttlich-geistigen Höhen zu uns herunterwollenden Geistesstrahlen...", #2 klar erkennen und ergreifen zu können. Lediglich in einem ganz kleinen Kern von Menschen ­ ein Teil derselben bildete später den Initiativvorstand - sah er hierfür einen keimhaften Anknüpfungspunkt. Durch sein Wagnis, an diesen "Strohhalm" anzuknüpfen, gab er den Nachgeborenen die Möglichkeit, anhand seines Tuns zu studieren, wie ein rein seelisch-geistiges soziales Gebilde ­ ein Psychismus bzw. Pneumatismus - entstehen kann. Die allgemeine Aufgabe der Anthroposophischen Gesellschaft war nicht, wie heute vielfach suggeriert wird, auf allen möglichen Feldern des Lebens tätig zu werden, sondern, wie oben schon zitiert, "...den Menschen zusammenzubringen mit den gemäß der Menschheitsentwickelung heute aus göttlich-geistigen Höhen zu uns herunterwollenden Geistesstrahlen." Das setzt eine Willensumkehr voraus, die jeder Mensch aus freiem Willen selbst vollziehen muss. Die gewöhnliche Entwicklung ist die, daß er in die äußeren Lebensverhältnisse hineinwächst und dabei mehr oder weniger Fähigkeiten geweckt werden, die er in vergangen Inkarnationen veranlagt hat. Man kann dieses als "absteigende Bewegung" bezeichnen. In dieser "absteigenden Bewegung" werden aber in der Regel nur Fähigkeiten entfaltet, nicht aber wirklich neu veranlagt. Es kommt darin ein Strom zur Geltung, den der Mensch nicht so sehr als aus seinen eigenen durch echte individuelle Arbeit errungenen Verdienste entsprungenen ansehen sollte, sondern der in seinem überwiegenden Teil noch als Göttergeschenk vergangener Inkarnationen anzusehen ist. Göttergeschenk deshalb, weil der Mensch sein ganzes Schicksal in früheren Zeiten noch nicht bewußt selbst ergreifen konnte, sondern er im Wesentlichen durch das geprägt wurde, was höhere Wesenheiten in ihm durch Äonen hindurch veranlagt haben. Dieser Strom versiegt aber in der Gegenwart immer mehr. Anstelle dessen kommt es nun darauf an, was der Mensch an echten individuellen Fähigkeiten entwickelt, das sind Fähigkeiten, die aus eigenem individuellen Antrieb gebildet werden. Erst mit dem Zeitalter der Bewußtseinsseelenentwicklung ist diese Möglichkeit eingetreten. Hinzu kommt, daß durch die Verbindung mit der Technik die Menschheit innerhalb der Bewußtseinsseelenentwicklung im zwanzigsten Jahrhundert in ein neues Stadium getreten ist. Immer stärker machen sich durch diese Verbindung geltend die Kräfte der Unter-Natur. Der Mensch wird sich aber nur dadurch in die Lage versetzen können, diese Kräfte der Unter-Natur auszugleichen, wenn er imstande ist, sich ebensoweit in die Region der Über-Natur zu erheben, wie er durch seine Verbindung mit der modernen Technik in die Region der Unter-Natur hinabsinkt. #3 Damit entsteht die Notwendigkeit eines neuen Mysterienwesens. Denn eine Vielzahl von Menschen ist nicht imstande, eine solche Entwicklung ohne eine echte Mysterienschulung zu vollziehen. Das Bedürfnis nach einem solchen neuen Mysterienwesen rumort in den Untergründen der Seelen. Es konnte sich aber bisher nur in sehr wenigen Menschen richtig artikulieren. #4 Dadurch entsteht ein Problem. Ein echtes Mysterienwesen kann auf Erden nur durch inkarnierte Eingeweihte geleitet werden. Diese haben als moderne Eingeweihte die Freiheitssphäre der Menschen zu achten. Sie sind daher darauf angewiesen, daß sich ein solches Bedürfnis in richtiger Weise artikuliert. Der moderne Eingeweihte kann nur etwas geben, wenn Menschen da sind, die dieses in freier Weise empfangen können. Es scheint aber, daß sich dagegen eine Art instinktives Sträuben in den Seelen geltend macht. Der Zusammenhang zwischen der menschlichen Freiheit und der modernen Initiationswissenschaft wird von Rudolf Steiner an verschiedensten Stellen seines Werkes deutlichst hervorgehoben. Auch in dem Zyklus "Geisteswissenschaft als Erkenntnis der Grundimpulse der sozialen Gestaltung" geht er darauf ein und führt dann einen für unsere Erörterung zentralen Aspekt an:

"Und diese zwei Dinge, dieses Streben der Menschheit und dieses Herausschaffen einer Initiationsweisheit, beleuchtet mit dem Lichte der Freiheit, diese zwei Dinge müssen zusammenkommen. Sie müssen zusammenkommen auf allen Gebieten. Daher darf man heute nicht aus allen möglichen alten Untergründen heraus über die soziale Frage reden. Man kann heute über sie nur dann reden, wenn man sie im Lichte der Geisteswissenschaft betrachtet. Das wird gerade der heutigen Menschheit so schwer. Warum? - Ja, die Menschheit strebt nach Freiheit, nach Freiheit der einzelnen Individualität, und mit Recht strebt sie darnach. Ich sage durchaus: mit Recht. Die Menschen können nicht mehr im Sinne des alten Gruppensystems mit den Gruppenseelen wirken. Die Menschen müssen Individualitäten bilden. Aber dieses Streben, Individualitäten zu bilden, das scheint zu widersprechen dem Hinhorchen auf das, was aus der Initiationswissenschaft kommt und was ja selbstverständlich zunächst durch einzelne Individuen kommen muß. Der alte Initiierte hatte Mittel und Wege, sich seine Schüler auszusuchen, seinen Schülern die Initiationsweisheit zu übertragen und auch Anerkennung für sie zu schaffen und Anerkennung für sich und seine Mysterienstätte. Der moderne Initiierte kann das nicht haben, denn es würde notwendig machen, daß man aus gewissen Kräften und Impulsen der Gruppenseelenhaftigkeit heraus wirke, und das geht heute nicht. So steht heute die Menschheit da; jeder möchte von dem Standpunkte aus, auf dem er gerade steht, eine Individualität werden. Da will er selbstverständlich nicht auf das hören, was da durch Menschen als Initiationswissenschaft kommt. Aber ehe nicht die Menschen einsehen, daß sie nur gerade dadurch Individualitäten werden können, daß sie wiederum durch andere menschliche Individualitäten den Inhalt der Initiationswissenschaft aufnehmen, eher kann es nicht besser werden. " #5

Bei der Weihnachtstagung zur Neubegründung der Anthroposophischen Gesellschaft ging es nun gerade darum, die Bedingungen dafür zu schaffen, daß die Menschen den Inhalt der Initiationswissenschaft durch die menschlichen Individualitäten aufnehmen können, die durch ihr Karma dazu die entsprechenden Fähigkeiten entwickelt hatten (zunächst ist hier natürlich an Rudolf Steiner selbst zu denken, dann aber auch an die Menschen, die er in entsprechende Funktionen einsetzte). Der Ausgangspunkt dieser Neubegründung war eine Polarität, für die eine Mitte gestaltet werden musste: Auf der einen Seite bestand eine Menschengemeinschaft, die in unterschiedlichster, sogar divergierenden Weise, das Bedürfnis nach dem Geist ausgebildet hatten, der durch die Anthroposophie in die Welt treten sollte. Auf der anderen Seite stand der Eingeweihte Rudolf Steiner, der die Fähigkeit in höchstem Maße entwickelt hatte, die Inhalte der Anthroposophie in der geistigen Welt zu erforschen und in eine den wahren Bedürfnissen der Menschen entsprechenden Form bringen konnte. Rudolf Steiner war aber in der nicht einfachen Situation, Wege zu finden, "... daß die Menschen einem ihr Verlangen eben äußern." #6 Hier war er auf Menschen angewiesen, die eine Mittlerfunktion zwischen ihm übernehmen konnten und den Menschen, die in irgendeiner Form das Bedürfnis nach der Anthroposophie entwickelt hatten. Von diesen "Vermittlern" erwartete er, daß sie lernen wahrzunehmen, was in den Herzen der Menschen lebt und dieses - stellvertretend für diese - ihm gegenüber artikulieren werden. Der auf der Weihnachtstagung 1923 gebildete Initiativvorstand sollte im Wesentlichen diese Mittlerfunktion übernehmen. Er sollte "Initiative für die anthroposophische Sache" entfalten. Das heißt ja nichts anderes, als das er an den Bedingungen arbeitet, daß Anthroposophie auch als gelebte Realität und nicht bloß als abstraktes Wissen, einen Erdenort haben konnte. Zur gelebten Realität wird die Anthroposophie, wenn aus ihr auf konkrete Lebensfragen Antworten gegeben werden können, die unmittelbar in der geistigen Welt geschaut worden sind. Dafür bedarf es der Individualitäten, die im vollen Bewußtsein über die Schwelle zur geistigen Welt treten und diese denkend erforschen können, d.h. es bedarf eines Eingeweihten. Die Bedingung aber für die Tätigkeit des modernen Eingeweihten unter Nicht-Eingeweihten ist, daß diese die geistigen Bedürfnisse in Fragen artikulieren. Er darf nur in einen Strom etwas hineingestalten, der ihm in freier Weise von unten entgegentritt. Wird also vom Menschen selbst der erste Schritt zu einer "aufsteigenden Bewegung" vollzogen, dann kann er durch den Eingeweihten auch zusammengebracht werden "mit den gemäß der Menschheitsentwickelung heute aus göttlich-geistigen Höhen zu uns herunterwollenden Geistesstrahlen." In dem der Initiativvorstand daran arbeitete, daß die Bedürfnisse nach dem Geist innerhalb der Menschengemeinschaft, die die Anthroposophische Gesellschaft bildet, zum Bewußtsein gebracht werden, erfüllte er die allgemeine Aufgabe dieser Gesellschaft, auf die Rudolf Steiner nach dem Goetheanumbrand fast schon flehentlich hingewiesen hatte. Beleuchtet man diese Mittlerfunktion des Initiativvorstandes, so tritt der merkurielle Charakter deutlich zu Tage, durch den der Zusammenhalt dieser Menschengemeinschaft bewirkt wird. Dieses Merkurielle ist weder im Einzelmenschen (Sulphur) aufzufinden, noch im sozialen Körper als solchem (Sal). Es geht der Bildung der Organe des sozialen Körpers voraus, in dem auf der rein seelisch-geistigen Ebene zwischen Menschen etwas vollzogen wird. Bei der Neugestaltung der Anthroposophischen Gesellschaft auf der Weihnachtstagung kam es genau darauf an. In dem Satz: "Menschen gliedern sich um Menschen" wird das Urbildeprinzip einer seelisch-geistigen Gemeinschaftsbildung beschrieben. Es gliederten sich Menschen, die das Bedürfnis nach dem Geist der Anthroposophie hatten, um Menschen mit der Fähigkeit, dieses Bedürfnis in seiner jeweiligen konkreten Ausformung zu erkennen und die in der Weise initiativ werden wollten, daß Bedürfnisse dieser Art ihre entsprechende Befriedigung finden konnten. Von diesem "Mercurius" ausgehend kann man nun die Bewegungen verstehen, die als aufbauende Kräfte in den sozialen Organismus hineinwirken. Ausgangspunkt ist das Bewußtwerden von seelisch-geistigen Entwicklungsbedürfnissen, die nicht durch die Entfaltung von äußerer Initiative befriedigt werden können - was oben als "absteigende Bewegung" charakterisiert wurde -, sondern vielmehr als Bedingung für eine solche fruchtbare äußere Initiative erlebt werden. Zur Befriedigung dieser Bedürfnisse muss eine Einrichtung gestaltet werden, durch die eine "aufsteigende Bewegung" in fruchtbare Weise geleitet werden kann. Bei der Weihnachtstagung war das die Einrichtung der Klasse(n) und Sektionen der Freien Hochschule für Geisteswissenschaft. Die Gestaltung und Leitung einer solchen Einrichtung kann aber nur durch eine Individualität durchgeführt werden, die die entsprechenden Fähigkeiten entwickelt hat. Die Bewegung des Mercurius (Initiativvorstand) geht somit zunächst zum Sulphurpol: sie wendet sich an eine fähige Individualität. Von da aus geht die Bewegung zum Salpol: es wird eine entsprechende Einrichtung gebildet. An dieser Stelle erst tritt ein Organ des sozialen Organismus in Erscheinung,; vorher spielte sich alles noch in der Region des Metaorganismus ab.Wir kommen hier zu einem zentralen Gestaltungsgeheimnis der Weihnachtstagungsgesellschaft, die ja von dem damals gebildeten Initiativvorstand ausgegangen ist. Er musste, wenn er für die anthroposophische Sache wirken wollte, Institutionen schaffen. Das Verhältnis, in welches er zu den Menschen trat, durfte aber auf keinen Fall eine institutionalisierte Form annehmen. Denn sein Herzensblut war, daß er die Vielfalt der individuellen Bedürfnisse nach dem Geist erspürte und dann in Zusammenhang bringen konnte mit der allgemeinen Aufgabe der Gesellschaft.

Man betrachte zu dem hier Ausgeführten exemplarisch eine kurze Beschreibung der Tätigkeit des Initiativvorstandes für die Freie Hochschule für Geisteswissenschaft, die Rudolf Steiner am 6. April 1924 im Nachrichtenblatt gab. #7 Man wird sehen, daß darin die hier dargestellten Bildebewegungen exakt vollzogen werden. In der Überschrift heißt es zunächst:

"In der freien Hochschule für Geisteswissenschaft soll das unmittelbar Menschliche zur Geltung kommen"

Dann führt Rudolf Steiner in knappen Sätzen aus:

"Diese Institution kann nicht aus abstrakten Überlegungen von "oben her" zustande kommen. Sie muß aus den Bedürfnissen unserer Mitgliedschaft von "unten her" entstehen."

Auf diese zentrale Bedingung eines neuen Mysterienwesens haben wir oben hingewiesen.

"Der Vorstand der Anthroposophischen Gesellschaft hat den Plan gefaßt, eine Jugendsektion zu bilden, weil dieses dem entspricht, was die jungen Menschen in unserer Gesellschaft aus den Tiefen ihres Wesens heraus suchen. Und er wird sie so gestalten, daß diesen Bedürfnissen in dem Maße, in dem sie auftreten, entsprochen werden kann."

Die Jugendsektion entstand also, weil ein unmittelbar Menschliches in Erscheinung getreten war: das Bedürfnis nach einer bestimmten Form der geistigen Schulung. Man bemerke: der Vorstand hatte den Plan zur Bildung der Jugendsektion gefaßt hat und nicht, wie man erwarten könnte, die Hochschulleitung selbst. Der Vorstand schafft eine Institution der Freien Hochschule, damit ein erlebtes unmittelbar Menschliches in ein richtiges Verhältnis zu den Menschen treten kann, die in der Freien Hochschule als Lehrer wirken.

"So muß es auch für die anderen Sektionen werden. Dazu aber ist notwendig, daß die Bedürfnisse, welche innerhalb unserer Mitgliedschaft zutage treten, auch wirklich durch die ganze Gesellschaft fließen und zuletzt sich in dem vereinigen, was man vom Vorstand am Goetheanum erwartet."

Hier tritt nun ein zentraler Aspekt der Aufgabenstellung des Vorstandes hervor: die Vereinigung der unterschiedlichen geistigen Bedürfnisse. In dieser Hinsicht scheinen beim Vorstand der AG von 1912/13 die Dinge noch nicht richtig gegriffen worden sein, denn weiter heißt es:

"Man sollte sich deshalb immer mehr zum Bewußtsein bringen, daß der Sinn der Weihnachtstagung nicht der war, einen bloßen "Verwaltungsvorstand" zu bilden. Gewiß, die Verwaltung muß da sein, und es soll nicht vergessen werden, daß sie notwendig ist und daß sie Sorgfalt und Genauigkeit zu entwickeln hat. Aber die Hauptsache wird sein, daß durch die Gesinnung in der Mitgliedschaft der Vorstand am Goetheanum wirklich in den Mittelpunkt der geistigen Interessen der Gesellschaft gestellt wird. In ihm soll zusammenfließen, was an solchen geistigen Interessen vorhanden ist."

Ein Vorstand, der bloß "Verwaltungsvorstand" ist, betont einseitig den Salpol. Das geistige Leben kommt aber nur durch die (entsprechend entwickelte) menschliche Individualität in die Gesellschaft. Die Krise der alten Anthroposophischen Gesellschaft wurde dadurch hervorgerufen, daß sie unter sich wandelnden äußeren Bedingungen in ihren führenden Repräsentanten nicht in der Lage war, sich in der richtigen Weise an den Eingeweihten zu wenden. Dadurch wurde verhindert, daß die Menschen wirklich zu den "...heute aus göttlich-geistigen Höhen zu uns herunterwollenden Geistesstrahlen..." geführt werden konnten (was sich u.a. darin bemerkbar machte, daß die Esoterische Schule, die 1914 bei Kriegsbeginn geschlossen werden musste, erst 1924 mit der Einrichtung der 1. Klasse wieder aufleben konnte!). Der Initiativvorstand sollte allerdings auch "Verwaltungsvorstand" sein; doch war dieses nicht seine zentrale Bestimmung. Diese liegt im Merkuriellen, also da, wo das unmittelbar Menschliche sich geltend macht. Und da sich dieses Menschliche zunächst in den geistigen Interessen und Bedürfnissen kundtut, die eben bei unterschiedlichen Menschengruppen verschieden sind, entsteht die Notwendigkeit ausgleichend zu wirken. Es scheint, daß manche Mitglieder diese Funktion des Vorstandes als beschränkend erlebt haben. Denn weiter heißt es:

"Diesem Vorstand soll es ferne liegen, die Initiative in den einzelnen Teilen der Gesellschaft zu dem oder jenem in irgendeiner Art beschränken zu wollen. Aber man sollte es immer mehr als eine Notwendigkeit ansehen, daß alles, was in der Gesellschaft auftaucht, zum Wissen dieses Vorstandes gebracht werde. Er kann dann, was an dem einen Orte, oder von der einen Menschengruppe gewollt ist, in Einklang bringen mit dem, was von anderer Seite beabsichtigt ist. Dieser Vorstand wird nicht in einseitiger Art wie eine Behörde "von oben" wirken wollen; er wird sich zur Aufgabe machen, offenes Herz und verständnisvollen Sinn zu haben für alles, was aus der Mitgliedschaft nach Verwirklichung strebt. Er möchte in dieser Beziehung nur auch auf Verständnis nach der Richtung hin rechnen dürfen, daß man ihm entgegenkommt, tätig entgegenkommt, wo er aus seiner Initiative, aus den Zielen der anthroposophischen Bewegung heraus, etwas durchführen möchte. In diesem Sinne habe ich bei der Weihnachtstagung gesagt: dieser Vorstand soll ein Initiativvorstand sein."

Hier wird ein zentrales Problem des falschen Individualitätsverständnisses berührt. Dieses besteht darin, daß man nach außen hin Initiative für eine Sache ergreift, ohne sich in ein richtiges Verhältnis zu ihr zu bringen. Man lebt in dem subjektiven Glauben, der Sache zu dienen, in Wirklichkeit schadet man ihr. Ohne es zu bemerken, lebt man seine persönlichen Impulse aus, die man als vorgeburtliche Anlage mitgebracht hat. Man schafft "anthroposophische Einrichtungen", hat aber noch nicht aus der Anthroposophie die Kraft gewonnen, diese Einrichtungen dauerhaft lebendig zu durchdringen.Für Rudolf Steiner ging es zunächst darum, daß diese vorgeburtlichen Anlagen verwandelt werden, bevor sie sich in einer absteigenden Bewegung für die anthroposophische Sache fruchtbar gemacht werden. Jeder, der für die anthroposophische Sache initiativ werden wollte, sollte zunächst dem Initiativvorstand "von unten her" "tätig entgegenkommen", damit dieser ihm das vermitteln kann, was er aus der Anthroposophie für seine Initiative braucht. Auch hier also steht am Anfang eine "aufsteigende Tätigkeit". Man erinnere sich an die schon oben angeführte Aussage Rudolf Steiners von 1920: "Aber ehe nicht die Menschen einsehen, daß sie nur gerade dadurch Individualitäten werden können, daß sie wiederum durch andere menschliche Individualitäten den Inhalt der Initiationswissenschaft aufnehmen, eher kann es nicht besser werden." Seit 1919 waren die Probleme innerhalb der Anthroposophischen Gesellschaft immer größer geworden, weil insbesondere bei den neu hinzu gekommenen Mitgliedern eine starke Tendenz vorhanden war, die Anthroposophie nach außen zu tragen und Einrichtungen zu gestalten; bei den alten Mitgliedern aber wiederum viel zu wenig Interesse dafür vorhanden war, was an Impulsen in den jüngeren Mitgliedern lebt. Der Initiativvorstand sollte gerade ein Organ sein, das aufsteigende und absteigende Bewegung durch seine Beratung in rechter Weise vermittelt. Man kann dieses mit dem Herzorgan vergleichen, in dem ebenfalls eine absteigende und eine aufsteigende Bewegung wirksam ist. #8 Abschließend wird in diesem Sinne dieses Verhältnis zwischen Vorstand und Mitgliedern charakterisiert:

"Wenn man immer mehr diesen Vorstand in solcher Art wird ansehen wollen, dann wird er in rechter Art der Berater werden können in allen Angelegenheiten der Gesellschaft. Und ein "Berater" möchte er sein; da er wohl weiß, daß es dem Geiste der Anthroposophischen Gesellschaft gründlich widerspräche, wenn er ein "Verfüger" sein wollte. Er wird bei seinen Ratschlägen an nichts anderes apellieren als an die freie Einsicht der Mitglieder; aber er wird auch nur rechter Berater sein können, wenn in rechter Gesinnung an seinen Platz gebracht wird, was in den Absichten, in den Bestrebungen der Mitglieder liegt."

Wolfgang Schuchhardt berichtet in seinem Buch "Schicksal in wiederholten Erdenleben" von Woodrow Wilson, daß dieser schon in jungen Jahren als eine Art Hobby Satzungen für studentische Gemeinschaften oder Debattiergesellschaften ausarbeitete und wie diese Begabung in späteren Jahren in der Prägung des Schlagwort vom "Selbstbestimmungsrecht der Völker" gipfelte. #9 Es ist dieses ein Bild für das Bestreben, ganz aus dem abstrakten Denken heraus die Einrichtungen des sozialen Organismus zu gestalten. Dieses lag Rudolf Steiner so ferne wie möglich. Dennoch musste er bei den Versammlungen der zu gründenden Landesgesellschaften der Anthroposophischen Gesellschaft im Jahre 1923 immer wieder beobachten, daß sehr viel Zeit und Energie dafür verbraucht wurde, "richtige Satzungen" für diese Gebilde zu formulieren. Vergessen wurde dabei, sich um den "Metaorganismus" zu kümmern. Also auch da war der "...schlimmste Wilsonianismus mitten unter uns..." #10 noch nicht überwunden. Es ist daher nicht verwunderlich, daß Rudolf Steiner nach der Weihnachtstagung immer wieder darauf hinwies, daß die dort formulierten Statuten einen ganz anderen Sinn hatten. Sie sollten die Beschreibung einer Realität sein: nämlich dessen, was dieser Vorstand für die Mitglieder tut, wie er für diese im Sinne der anthroposophische Sache initiativ wird. Nicht sollten abstrakte Normen und Forderung verfasst werden, von denen man wünscht, daß sich alle daran halten bzw., daß sie realisiert werden. Vor diesem Hintergrund wird man verstehen können, weshalb Rudolf Steiner seine Ausführung über die Tätigkeit des Initiativvorstandes für die Freie Hochschule für Geisteswissenschaft wie folgt ausklingen lässt:

"Der Vorstand am Goetheanum möchte, daß so ferne wie möglich läge, in Paragraphen und Programmen eine Verbindung mit dem Wirken in der Gesellschaft herzustellen; er möchte, daß das unmittelbar Menschliche, das in jeder Einzelheit auch individuell wirken kann, zur ganz allgemeinen Geltung innerhalb der Gesellschaft komme. Und er möchte das vor allem bei dem erreichen, was für die Freie Hochschule für Geisteswissenschaft getan werden soll."

Durch die richtige Initiative des Vorstandes wird also der Freie Hochschule für Geisteswissenschaft eine irdische Realität ermöglicht. Sie wird eine Einrichtung des Geisteslebens im sozialen Organismus. Es konnte dadurch erstmalig bis auf die Ebene des Organismus ein "neues Geistesleben" in Erscheinung treten: ein Geistesleben, welches nicht versucht, sich aus abstrakten Forderungen heraus selbst zu verwirklichen, sondern daß durch die artikulierten Bedürfnisse der Menschen "von unten her" in den sozialen Organismus "hereingerufen" wird. Wir haben gesehen, daß Rudolf Steiner sowohl die menschliche Individualität als Ganzes als auch das Geistesleben als Glied des sozialen Organismus mit der Sulphurqualität charakterisiert. Das Geistesleben als solches wird wiederum von ihm so charakterisiert, daß darin all das lebt, was aus der menschlichen Individualität hervorgeht. Dieses wirft ein bedeutendes Licht auf die Art der Beschaffenheit der Einrichtungen dieses Geistesleben. Wenn diese wirkliche Sulphurqualität haben sollen, dann dürfen sie niemals abgelöst von der menschlichen Individualität eine Bedeutung erlangen (sonst wäre auch an diesem Pol der Salcharakter dominant!). Die Sulphurqualität ist in Beziehung zu sehen, mit dem stets wandelbaren Wärmeelement. Wenn die Leitung einer Einrichtung des Geisteslebens in die Hände einer anderen Individualität übergeht, dann muss diese die Gestaltungen annehmen, die in den Möglichkeiten dieser Individualität liegen. Alles andere wäre der Ausdruck eines unfreien Geisteslebens. Von diesem Gesichtspunkt ist auch bedeutend, wie Rudolf Steiner die Statuten der Weihnachtstagung gestaltet hatte: sie beschrieben lediglich das ganz konkrete menschliche Verhältnis, welches bestand zwischen den Individualitäten, die den Initiativvorstand bildeten und den Menschen, die sich dieser Initiativgruppe anschließen wollten, weil sie in dem Tun dieser Menschen etwas Bedeutendes sahen. Darin haben wir das merkurielle Element erkannt, welches Rudolf Steiner zwischen dem in Einzelmenschen und dem sozialen Organismus aufzeigte. Dieses merkurielle Verhältnis wurde mit dem Tod Rudolf Steiners ein anderes, einfach durch die Tatsache, daß er keinen Nachfolger für die Leitung der Hochschule ernannte. Erst recht wurde dieses Verhältnis ein anderes, nachdem die ursprünglichen Initiativgruppe an ihrer Uneinigkeit zerbrochen war. Diese "Statuten" waren somit nicht dazu gedacht, eine dauerhafte Einrichtung zu begründen (obwohl sie aus bestimmten Gründen so formuliert waren, daß sie sich prinzipiell für eine handelsregisterliche Eintragung geeignet hätten), sondern sollten lediglich ein Bild von dem Kraftstrom geben, aus dem Einrichtungen jederzeit begründet oder erneuert werden können, wenn das dort beschriebene Verhältnis zwischen den konkret benannten Menschen besteht. Wer diese sulphurischen und merkuriellen Qualitäten der Weihnachtstagungsstatuten erleben kann, wird nicht in die Versuchung kommen, sie zu einem Programm umzudeuten.Mit der Weihnachtstagung wurde der Menschheit in einem Bilde vorgelebt, wie sich eine Menschengemeinschaft aus freiem Willen zu dem Metaorganismus erheben kann, in dem die "übersinnliche Michaelschule" #11 ihre Wirksamkeit entfalten darf. Es wurde gezeigt, wie Heilkräfte in den sozialen Organismus aus einer Erneuerung des Geisteslebens einfließen können. Das Gegenteil kann man gegenwärtig erleben, wenn man die Verhältnisse innerhalb des sozialen Organismus beobachtet. Das Wirtschaftsleben, durch die moderne Technik in unglaublicher Weise dynamisiert, schlägt das ganze Leben in seinen Bann. Besonders unheilvoll wirkt dabei die Gestaltung der Finanzströme, die man durch unsachgemäße Einrichtungen in die Gesetzmäßigkeit des Wirtschaftsleben eingebunden hat. Das nicht durch individuellen Willen sondern von Spekulantenbegierden geleitete Kapital diktiert heute, wo, wie lange und unter welche Bedingungen etwas produziert werden kann. Kein Wirtschaftsunternehmen kann sich dieser Diktatur entziehen. Ihrerseits versuchen diese, gemeinsam mit den Agenten des reinen Finanzkapitals, auf die Regierungen der verschiedenen Staaten ihren Einfluss geltend zu machen. Es werden heute in den sogenannten Demokratien, also auf dem Gebiete des Rechtslebens kaum noch Gesetze gestaltet, die aus einer wirklichen Beobachtung des Rechtsempfindens der in einem Rechtsgebiet zusammengeschlossenen Menschen entspringen. Die Gestalter der Gesetzesentwürfe sind die Lobbyisten des Wirtschaftslebens. Die Abstimmungen über diese Gesetzesentwürfe durch die gewählten Volksrepräsentanten sind eine einzige Farce, da diese in der Regel nicht einmal in der Lage sind, die vorformulierten Entwürfe eigenständig durchzuarbeiten. #12 Bis in die Gestaltung des Geistesleben machen sich diese an der menschlichen Individualität vorbeizielenden Einflüsse geltend. Man kann darin die Wirkung dessen erkennen, was aus der ahrimanischen Gegenschule zur Michaelschule stammt. Deren Einflußnahme beginnt im Wirtschaftsleben, also beim Salpol, und ergreift von dort wie ein Krankheitserreger den gesamten sozialen Organismus. Die Michaelschule hingegen muss am Sulphurpol durch individuelles menschliches Wollen in die Erdensphäre eintreten. Sie kann es nur, wenn ihr die rechte Wärme von den Menschen entgegengebracht wird. Rudolf Steiner sprach von einer Kulmination, zu der die anthroposophische Bewegung am Ende des Jahrtausends kommen sollte. Darauf haben viele Menschen mit großer Hoffnung gewartet. Diese Kulmination scheint nicht eingetreten zu sein. Könnte es sein, daß sich gegenwärtig immer noch zu wenig Menschen um den Metaorganismus kümmern? Könnte hier ein Feld liegen, auf dem noch unendlich viel "Anthroposophie tun" nötig ist?

Fußnoten

1 GA 181, Berlin, 16. Juli 1918

2 GA 257, Stuttgart, 23. Januar 1923, S.28

3 vgl. hierzu Rudolf Steiner, "Von der Natur zur Unter-Natur", in: GA 26, S. 255 ff.

4 "Man hat (...) nicht nötig, auf anthroposophischem Boden zu agitieren, denn man hat nur nötig, das den Menschen zu geben, wonach sie ohnedies verlangen, wenn man nur die Wege findet, daß die Menschen einem ihr Verlangen eben äußern.", Rudolf Steiner in: GA 260a, S. 123

5 GA 199, S. 70, Hervorhebungen S.E.

6 siehe Fußnote 4

7 vgl. GA 260a, S. 159

8 vgl. GA 129, Vortrag vom 25.8.1911, S.169

9 vgl. W. Schuchardt: Schicksal in wiederholten Erdenleben Bd1, S. 149

10 vgl. erstes Zitat in diesem Text

11 Von der Michaelschule spricht Rudolf Steiner in den Karmavorträgen, insbesondere am 28. Juli 1924 (GA 237)

12 vgl. Johann-Günther König, Alle Macht den Konzernen ­ Das neue Europa im Griff der Lobbyisten, Hamburg 1999, S.171ff.


Quelle: "Was in der Anthroposophische Gesellschaft vorgeht", Nachrichten für deren Mitglieder, Heft Nr. 41, 8. Oktober 2000, S. 306-310, Nachdruck mit freundlicher Genehmigung des Autors