Israel, Palästina und die Dreigliederung

01.02.2001

Quelle
Zeitschrift „Der Europäer“
Jahrgang 5, Heft 4, Februar 2001, S. 10-11
Bibliographische Notiz

Veröffentlichung mit freundlicher Erlaubnis des Autors

Der Zionismus und die europäischen Nationalismen

Der Staat Israel, gegründet 1948, ist eigentlich ein mitteleuropäisches Produkt. Der Zionismus, der ihn geschaffen hat, ist als Bewegung in Mitteleuropa entstanden. Theodor Herzl, sein maßgeblicher Begründer, ein österreichischer Journalist, wollte darin am Ende des 19. Jahrhunderts die richtige Antwort auf den zunehmenden Antisemitismus sehen. Tatsächlich ist der Zionismus eine unter den Bewegungen des zunehmenden Nationalismus in Europa seit dem 19. Jahrhundert gewesen. Er hat ein streng ethnisches Nations- bzw. Volksverständnis gepflegt und damit einer Tendenz Ausdruck verliehen, die ihren Höhepunkt in Europa in den faschistischen Bewegungen nach dem Ersten Weltkrieg hatte. Der Zionismus war in seiner Haltung ursprünglich defensiv, nicht aggressiv wie die Faschismen. Er hat aber deren ethnische Grundannahmen geteilt. Er ist damit ein weiterer nationalistischer Faktor gewesen, der die Grundlagen des europäischen Völkerzusammenlebens zerstört hat, indem er den Belangen der Nation eine zu weit gefasste, zu große Bedeutung zugestehen wollte. Rudolf Steiner hat diesem zunehmenden Nationalismus am Ende des Ersten Weltkrieges die Idee der Dreigliederung entgegenzusetzen versucht, aber gegen die aufgepeitschten nationalen Emotionen damit nicht durchdringen können.

Die europäischen Völkerdifferenzierungen seit dem Mittelalter beruhten im wesentlichen auf Kultur, Sprache, z. T. auch Politik. Sie wurden in Relation gehalten durch eine freizügige ethnische Durchmischung und durch eine überwölbende gemeinsame Religion, das Christentum. Dagegen war die Ausdifferenzierung und Trennung der Völker in Asien und in der Antike weit nachhaltiger, sie umfasste eine sowohl ethnisch-rassische, als auch religiöse Separation. Die griechische Behandlung aller anderen Völker als «Barbaren» ist dafür ebenso charakteristisch wie die jüdische der anderen als «Heiden». Heute findet sich das Grundkonzept einer solchen starken Separation noch immer in Asien – etwa bei Japanern und Chinesen – wie auch im Judentum. [1] Der europäische Nationalismus, wie er im 19. Jahrhundert hochkam, brachte Elemente einer solchen starken Separation auch in Europa wieder zur Geltung. Im Zeitalter des Imperialismus – um die Wende zum Zwanzigsten Jahrhundert – war der europäische Nationalismus überall mit rassisch-rassistischen Abgrenzungskriterien durchsetzt. Überall machte sich demgemäß auch die Tendenz zu National- bzw. Volksreligionen wieder bemerkbar. Ihren Höhepunkt erreichte sie, als Hitler auf einem Reichsparteitag einmal ein höchstes Wesen als «unser deutscher Gott» ansprach. Rudolf Steiner hat vor diesen Tendenzen vor allem im und nach dem Ersten Weltkrieg gewarnt und sprach von einem Rückfall der europäischen Völker in den «Jahveismus», d.h. in das antike Konzept der blutsmäßig gebundenen Volksreligionen.

Diese Tendenz ist in Europa keineswegs überwunden: die Ereignisse auf dem Balkan der letzten zehn Jahre haben das deutlich gemacht. Besonders symptomatisch sind die Reste oder Tendenzen zu einem auf dem Blut beruhenden Staatsbürgerschaftsrecht, wie sie in Deutschland existieren bzw. wie sie etwa in Slowenien und Kroatien neu eingeführt wurden. [2]

Politisch nobilitiert wurden die Tendenzen eines extremen Nationalismus seit dem Ersten Weltkrieg durch die Anerkennung eines «Selbstbestimmungsrechtes der Völker», d.h. den Wilsonismus. [3] Das Zwanzigste Jahrhundert hat Europa im Sinne dieses Wilsonismus umgewandelt. In einer Serie von Kriegen und Katastrophen wurde das kompliziert durchmischte Zusammenleben der Völker in Mittel- und Osteuropa separiert und homogenisiert. Hier wurden gewissermaßen die ethnisch-geographischen Grundlagen für den Wilsonismus geschaffen.

Die Dreigliederung wollte seinerzeit nach dem Ersten Weltkrieg eine Idee zur Verfügung stellen, wie dieses komplizierte Zusammenleben der Völker in anderer Weise als mit dem «Selbstbestimmungsrecht», wie es fruchtbar gestaltet werden könnte. In dieser Hinsicht hat sie in Europa nicht mehr die gleiche Aktualität wie vor 80 Jahren. Die damaligen nationalen Fragen sind in der Zwischenzeit größtenteils durch Gewalt und Vertreibung «bereinigt» worden. (Allerdings aktualisieren sich inzwischen durch Einwanderungsbewegungen zunehmend neue Fragen des Völkerzusammenlebens.)

Die Aktualität der Dreigliederung in Palästina

Dagegen ist das mitteleuropäische Problem des Zusammenlebens der Völker mit dem Zionismus in einen anderen Weltteil exportiert worden, in den Nahen Osten. Der Staat Israel, der sich dort gebildet hat, versteht sich als Staat aller Juden mit einem ethnisch geprägten Staatsbürgerschaftsrecht. Wie es aus einem solchen Staatsbürgerschaftsrecht mit einer gewissen Zwangsläufigkeit folgt, haben seine Bewohner gegenüber den Arabern im eigenen oder im militärisch besetzten Territorium eine Herrenmenschenmentalität ausgebildet. Die Besetzung von Westjordanland und Gazastreifen, wie sie von Israel 1967 vollzogen wurde, hat im militärischen Bereich ihre innere Logik. Diese militärische Logik wird auch eine (eventuelle) Zwei-Staaten-Lösung immer überschatten. Sie wird dazu tendieren, dass der mächtigere der beiden Staaten, d.h. Israel, einen übergeordneten Status im Gesamtgebiet beanspruchen wird. D.h.: selbst wenn Israel schließlich doch in diesen Gebieten einen eigenen Palästinenserstaat zulassen sollte – wozu es eigentlich verpflichtet ist –, ist nicht leicht vorstellbar, dass dieser auf die Dauer mehr sein könnte als einst die südafrikanischen homelands, d.h. ein Gebilde, in das einige unangenehme Verantwortlichkeiten ausgelagert werden, das aber de facto nur über eine sehr eingeschränkte Souveränität verfügt.

Eine Regelung des Israel-Palästina-Problems auf der Basis der Zweistaatlichkeit wird also keine gedeihliche sein können. Was deshalb in Israel-Palästina anstünde, ist, ähnlich wie im alten Mitteleuropa, die Bildung eines Staates, der sich von nationalen oder religiösen Grundlagen freimachen müsste und damit beiden Völkern eine gleichberechtigte Heimat bieten könnte. Das war genau das Problem, das für Rudolf Steiner seinerzeit zum Ausgangspunkt wurde, um die Dreigliederung als politisch-soziales Konzept auszuarbeiten. Insofern wäre irgendeine Art von Wiederaufnahme dieser Ideen das, was in Israel heute geleistet werden müsste. Tatsächlich hat es ja auch in Israel immer wieder einzelne Stimmen gegeben, die für einen übernationalen Staat plädiert haben. Dass einem solchen Projekt gewaltige, vielleicht übermächtige Widerstände entgegenstehen, soll und kann nicht geleugnet werden. Aber es scheint illusionär, an irgendeine andere Art von Lösung zu glauben, die zugleich den elementaren Anforderungen der Menschlichkeit gerecht würde.

Andreas Bracher, Hamburg

Anmerkungen

[1] Das Diasporajudentum allerdings, indem es auf politische Eigenständigkeit Verzicht leistet, pflegt auf eine eigene Art eine weitergehende Einfügung in das allgemeine Völkerleben.

[2] Es ist ironisch, dass von den Folgestaaten des alten Jugoslawien sich gerade Rest-Jugoslawien, d.h. Serbien, in seinem Staatsbürgerschaftsrecht weiter als Vielvölkerstaat verstanden hat, während Kroatien und Slowenien sich als Staaten aller Kroaten bzw. aller Slowenen verstehen.

[3] Eine Bezeichnung für das Programm, mit dem der amerikanische Präsident Wilson (Präsident 1913-1921) seit 1917 den Ersten Weltkrieg beenden wollte und das vor allem eine Zerschlagung der mitteleuropäischen Kaiserreiche mit sich brachte.