Die Besonderen Therapierichtungen
Wissenschaftsstreit am Beginn des 21. Jahrhunderts

01.08.2003

Die Besonderen Therapierichtungen: Wissenschaftsstreit am Beginn des 21. Jahrhunderts

Medizin – Quo vadis?

"Schul- und Schamanen-Medizin": Welche Sachgrundlagen hat die gegenwärtige Diskussion?

In Zusammenhang mit der Erstellung der Positivliste ist eine in mehrfacher Hinsicht bemerkenswerte Diskussion um die Bewertung der sog. Besonderen Therapierichtungen (§ 2 SGB V) entfesselt worden. Vor dem Hintergrund der bald 30jährigen gesetzestextlichen Verankerung eines Methodenpluralismus in der Medizin beeindruckt die nahezu fehlende Sachkompetenz in den bisher veröffentlichten Stellungnahmen von z. B. Erdmann (1) , Bock und Anlauf (2). In diesen kommt lediglich eine wenig kontrollierte emotionale Ablehnung zur Darstellung („Steiner-Jünger“, „anthroposophische Phraseologie“). Eine reflektierende inhaltliche Auseinandersetzung mit methodologischen Grundlagen der komplementären Medizin unterbleibt in diesen im ordenshüter-artigen Stil verfassten Proklamationen. Besorgniserregend ist allerdings eine patienten- und kollegenbezogene Ignoranz. Zum einen wird eine zahlenmäßig große Gruppe von selbstkritischen und reflektierenden Ärzten (ca. 30.000 Kollegen mit Schwerpunkt Naturheilverfahren, Homöopathie, Anthroposophische Medizin) durch Stichworte wie Druiden- und Schamanen-Medizin diskreditiert. Darüber hinaus ist die vorgetragene „Sorge“, dass diese Methoden durch ihre Verordnungsfähigkeit nun auch noch zu Lasten der Solidargemeinschaft fallen, nun vollständig unverständlich. Befürworten und nutzen doch die Bürgerinnen und Bürger Deutschlands nach der Umfrage des Instituts für Demoskopie Allensbach in über 70 % die Besonderen Therapierichtungen und Vorgehensweisen einer komplementären Medizin. Es erstaunt immer wieder, dass gerade diese Tatsache von dem orthodoxen schulmedizinischen Lager nicht wahrgenommen und in ihrem Signalcharakter nicht verstanden, geschweige denn in eine methodenkritische Reflektion, einbezogen wird.

Die Besonderen Therapierichtungen am Beispiel der Anthroposophischen Medizin

Die Anthroposophische Medizin ist im gegenwärtigen schriftstellerischen Aktionismus in besonderer Weise angegriffen worden. Da es sich bei dieser medizinischen Richtung um eine erkenntnistheoretisch aufwendige Methodologie handelt, kontrastiert hier besonders eindrücklich der minimale Kenntnisstand bei Kritikern wie Erdmann et al. Die eigentliche unterscheidende Grundthese der medizinischen Systeme liegt im Menschenbild. Die naturwissenschaftlich-objektivierende Medizin beschreibt durch ihre Methodologie einen soma-dominanten Seinsbereich des Menschen. Seele und personale Identität werden zu Epiphänomenen. Als wissenschaftliches Paradigma findet das von André Bierke beschriebene „Bloß-Prinzip“ seine nahezu uneingeschränkte Anwendung: Seelische und geistige Qualitäten werden in diesem Sinne „bloß“ zur epiphänomenalen Subjektivität, der keine Seinsdimension zukommt. Vor diesem Hintergrund wird Krankheit des Menschen zu einem reduktionistischen Problem naturwissenschaftlich beschreibbarer Funktionszusammenhänge. Diese Sichtweise impliziert diagnostische und therapeutische Vorgehensweisen und bestimmt hintergründig die Patienten-Arzt-Beziehung. Der erkrankte Mensch erlebt sich dadurch in wesentlichen Ebenen seines Wesens als nicht verstanden und nicht berücksichtigt und sucht nach Wegen und Möglichkeiten einer Heilkunst, die ein nicht reduktionistisches, sondern umfassendes Menschenbild zur Grundlage hat. Das Menschenbild der Anthroposophie erkennt in der Individualität und dem Seelischen genauso für sich bestehende Seinsebenen, wie sie für die prozessual-lebendige und naturwissenschaftlichen Dimensionen des Menschen beschreibbar sind. Jede dieser Seinsebenen verlangt eine eigenständige Methodologie im Erkenntniszugang. So wenig sich die geistige Aussage von Mozarts Requiem durch ein naturwissenschaftlich beschreibbares Ton-Frequenzspektrum auffinden lässt, so wenig kann ein kausal-analytisches Vorgehen Zugang finden zu komplexeren Seinsebenen des Menschen. Für die Anthroposophische Medizin ergibt sich als Leitlinie in ihrer nur kurzen Entwicklungszeit die Notwendigkeit, zu den Bereichen des physischen, naturwissenschaftlich beschreibbaren Organismus ebenso wie zu den lebendigen, seelischen und geistigen Seinsebenen des Menschen einen wissenschafts- theoretisch gestützten, intersubjektiv vermittelbaren Erkenntniszugang zu gewinnen (3). Das oft gebrauchte Vorurteil einer Weltanschauungsmedizin kann sie allein aus dieser Überlegung heraus nicht treffen. In der auf Goethe zurückweisenden Bedeutung bekommt das Wort „Weltanschauung“ allerdings eine andere Ausrichtung: Die Medizin muss sich fragen, welche Bereiche der Welt und des Menschen sie anschauen möchte und welche sie willkürlich ausklammert mit der Konsequenz eines reduktionistischen Menschenbildes.

Anthroposophische Medizin: Therapiekonzepte – praktische Vorgehensweisen

Da der Anthroposophischen Medizin ein Menschenbild zugrunde liegt, das die naturwissenschaftlich beschreibbare Dimension des Menschen einschließt und nicht im umgekehrten Sinne einen Reduktionismus veranlagen will, werden naturwissenschaftlich orientierte Vorgehensweisen unter Berücksichtigung eines holistischen Menschenbildes als selbstverständliche Grundlage angesehen. Insofern finden Vorgehensweisen der „Schulmedizin“ ihre Berücksichtigung in dieser als Erweiterung des naturwissenschaftlichen Ansatzes entwickelten Anthroposophischen Medizin. Allerdings bedarf jede Maßnahme ihrer inhaltlichen Begründung und Bewertung vor diesem umfassenden Menschenbild.

Der naturwissenschaftlich orientierte Therapieansatz erfolgt durch Therapieprinzipien, die z.B. der Suppression eines Krankheitsprozesses, Einstellung von Krankheitsparametern oder auch Substitution fehlender Organfunktionen dienen und einen pathogenetisch orientierten Therapieansatz darstellen. Es ist die in die Vergangenheit der Krankheitsentstehung gerichtete Blickrichtung, die sich auf krankheitsverursachende Faktoren und auf die Verselbständigung von Krankheitsprozessen bezieht. Demgegenüber ist ein Paradigmenwechsel erforderlich: Die Ergänzung der überwiegend pathogenetisch orientierten Medizin durch eine salutogen orientierte Heilkunst. Damit ist die therapeutische Orientierung auf das heilende, salutogene Potential (Aaron Antonowsky (4)) gemeint, das als eine leibliche, seelische und geistige „Lernfähigkeit“ nun nicht Vergangenheitsorientiert pathogenetisch beschrieben werden kann, sondern sich auf die salutogenen Reaktionsformen des menschlichen Wesens bezieht Diese führen Krankheit nicht zurück in ein Stadium geringerer Ausprägung, sondern zu Möglichkeiten einer zukünftigen Gesundheit. Eine bakterielle Infektion kann und muss ggf. in diesem Sinne suppressiv antibiotisch behandelt werden; auf der anderen Seite kann dem Organismus durch sein salutogenes Potenzial „aus eigenen Kräften“ die Genesung gelingen und damit eine neue Fähigkeit erlangen (z.B. Ausbildung einer spezifischen Immunität). Während die exponentielle Zunahme von Asthma, Neurodermitis, Pollinose bei Kindern westlicher Industriestaaten eine „immunologische Lernkrise“ anzeigt, belegt die Studie von Alm und Swartz (5), dass ein anthroposophischer Prophylaxe- und Therapieansatz eine wirksame Reduktion atopischer Erkrankungen herbeiführen kann.

Zu den salutogenen Therapiekonzepten gehört zunächst die medikamentöse Therapie. In der Anthroposophischen Medizin ist die Misteltherapie innerhalb der Onkologie am stärksten verbreitet und intensiv wissenschaftlich untersucht. In Deutschland ist es mittlerweile das am häufigsten eingesetzte onkologische Medikament. Auch weitere Arzneimittel aus den verschiedenen Naturreichen gehören, zumeist in potenzierter Form, zu dem Arzneimittelschatz. Die oftmals und seit Jahrzehnten nahezu gleichlautend vorgetragenen Ablehnungen jedes potenzierten Heilmittels (Eine Tollkirsche, im Bodensee aufgelöst, kann doch keine Wirkung haben!) machen eine immer wieder überraschend undifferenzierte Sichtweise deutlich. Die von L. Kolisko begründete Forschung zu den potenzierten und hochpotenzierten Arzneisubstanzen, die offenbar die Medizin seit mehr als einem Jahrtausend begleiten, hat innerhalb eines Jahrhunderts verschiedene beachtenswerte Ergebnisse aus der Grundlagenforschung erbracht. Die Metaanalyse von Linde (6) weist auf eine Wirksamkeit mit potenzierten Heilmitteln hin. Die Verfahrensweise, wie mit einem Wissenschaftler wie Benveniste, der vor wenigen Jahren Ergebnisse seiner Grundlagenforschung zu hochpotenzierten Substanzen veröffentlichte, ist für die Form einer nicht mehr sachlich geführten Auseinandersetzung beispielhaft (7-9). Erst spät konnte sein inquisitorischer Ausschluss aus der Wissenschaftsgemeinde eine gewisse Rehabilitation durch die Arbeiten von Belon und Brown erfahren, die nun, ca. 10 Jahre später, seine Ergebnisse bestätigten (10, 11). Obgleich sicher viele wesentliche wissenschaftliche Fragestellungen noch unbeantwortet sind, ist hier eine vorurteilsfreie Wissenschaftsgesinnung einzufordern, die nicht dem von Morgenstern treffend formulierten Motto „was nicht sein kann, auch nicht sein darf“ folgt. Hier sind Entwicklungsbedingungen für eine Forschung zu schaffen, die diesen Therapieansätzen gerecht wird. Zurückliegende gesetzgeberische Vorgaben wie das Vorschaltgesetz führen zu weiteren unverhältnismäßigen Belastungen der meist mittelständigen Arzneimittelhersteller, die dem gleichzeitig gegebenen Auftrag bei der Wirksamkeitsdokumentation ihre Produkte den evidenzbasierten Kriterien zu folgen, allein schon deswegen nicht nachkommen können. Hersteller von Medikamenten im Low-Budget-Bereich , häufig ohne Patentschutz, da die Rezepturen z. T. seit Jahrzehnten bis Jahrhunderten bekannt sind, können nicht Zulassungsstudien mit Summen von mehreren Millionen Euro durchführen, da die Arzneimittelpreise dies nicht zulassen.

Zum salutogenen Therapiekonzept gehört im weiteren die seelische Ebene. Für das anthroposophische Krankheitsverständnis ergeben sich zu jeder Erkrankung Implikationen zum seelischen Wesen des Menschen. Entsprechend ist jeder Therapieansatz erweiterungsbedürftig, der ausschließlich auf einer reparativen Intention beruht und damit kausal-analytisch orientiert ist. In der Anthroposophischen Medizin wird in den Therapieformen der Künstlerischen Therapie und der Heileurythmie die seelisch-geistige Aktivität des Patienten angesprochen und aktiv in den Heilungsprozess einbezogen. Dadurch ist es möglich, Behandlungskonzepte sinnvoll und bzgl. ihrer Wirksamkeit im klinischen Alltag eindrucksvoll zu unterstützen (holistischer Ansatz).

Schließlich wird im Therapiekonzept der Anthroposophischen Medizin die individuelle Ebene in der Patient-Arzt-Begegnung angesprochen. Hier sind biographische Faktoren genauso wesentlich wie Fragen der Sinnfindung in der Erkrankung. Dem Ansatz liegt ein Krankheitsverständnis zugrunde, das Krankheit nicht als Betriebsstörung im “Mechanismus Mensch“ begreift, sondern Krankheit und Heilung als Entwicklungsschritte der Individualität des Menschen sehen lernt. Das Menschenbild der Anthroposophie begreift Individualität als zukunftsfähig und untrennbar mit dem Entwicklungsgedanken verbunden. Formulierungen wie diejenige Jacques Lusseyran: „Das Ich hat gewisse Wachstumsbedingungen. Es ernährt sich ausschließlich nur von den Bewegungen, die es selber macht“(12), weisen auf diesen Zusammenhang hin. Entsprechend wird von Patienten deutlich erlebt, ob eine medizinische Vorgehensweise souverän Krankheitserscheinungen einstellt oder supprimiert, oder ob in der ärztlichen Betrachtungsweise des erkrankten Menschen diese Entwicklungsperspektive mitlebt.

Wirksamkeitsnachweis in der Anthroposophischen Medizin

Ein oftmals gemachter Vorwurf berührt den Wirksamkeitsnachweis. Es werden randomisierte und placebokontrollierte Studien vermisst, ohne die ein Wirksamkeitsnachweis nicht möglich sei. Das z. Z. ausdrucksstark vorgetragene Credo einer von D.L. Sackett (13-17) umfassend verstandenen Evidenzbasierten Medizin ist zwischenzeitlich verschiedentlich einer Kritik unterzogen worden. In dieser Zeitschrift hat Wiechert (18) sogar seine Sorge um eine Entwissenschaftlichung der Medizin geäußert. Für die Besonderen Therapierichtungen, die – dem dargestellten zufolge nichts „Besonderes“ sondern eine sinnvolle Ergänzung bilden sollen - sind diese Messinstrumente nicht durchgehend geeignet. Es handelt sich nicht um eine generelle „Forschungsfeindlichkeit“ oder einen nicht zu hinterfragenden Sonderstatus, sondern darum, dass jede zu messende Qualität ein adäquates Messinstrument benötigt. Die therapeutische Wirksamkeit geht über die durch eine randomisiert – kontrollierte Doppelblindstudie dokumentierte Veränderung von Surrogatparametern hinaus. Neben kurzfristigen, intermediaten Effekten („Wirkungen“) ist vor allem auf die langfristige „Wirksamkeit“ zu achten und damit auf die „Nachhaltigkeit“ einer Therapie. Diese therapeutische Wirksamkeit hängt von mehreren Faktoren ab. Sie wird bestimmt durch das Beziehungsdreieck von Patient – Arzneimittel/Therapeuticon und Arzt. In diesem Kontext ereignet sich die eigentliche Wirksamkeit und erfährt durch alle drei Faktoren eine mögliche Verstärkung oder Abschwächung. Ein „als wirksam“ geltendes Medikament kann sowohl durch den Patienten als auch durch den Arzt (richtige Indikationsfindung, Compliance etc. ) in seiner Wirksamkeit verstärkt oder abgeschwächt werden. In dieses Wirksamkeitsgeflecht spielen somit die unterschiedlichsten gesellschaftlichen, zivilisatorischen und kulturellen Hintergründe und die individuellen Überzeugungen des Patienten und Arztes mit herein und bestimmen seine Effektivität. Die doppelblind randomisiert durchgeführte Studie trennt dieses Beziehungsgeflecht bewusst und löst es damit aus seinem im medizinischen Alltag gegebenen Kontext heraus. Es wird ein nun beziehungslos in einem virtuellen Raum stehender Einzelfaktor analysiert. Dies mag für bestimmte Fragestellungen ein adäquater und annehmbarer Weg sein, für medizinische Systeme, die kontexthaft aufgebaut sind, kann es nicht das geeignete Messsystem zur Untersuchung der Wirksamkeit sein. Hierzu sind komplementäre Methodologien erforderlich.

In der Anthroposophischen Medizin wird unter Einbeziehung individueller Regulationsmöglichkeiten, d.h. der salutogenen Potenz des Patienten, aus dem Gesamtkontext heraus therapiert. Die methodologische Grundlage stellt daher zunächst die Analyse des Einzelfalles dar. Durch die Berücksichtigung der verschiedenen Dimensionen des Menschen (Leib, Seele und Geist) ist auch die Diagnostik und Therapie mehrdimensional, was sich in umfassenden sog. Therapiekonzepten widerspiegelt. Medizinische Erkenntnis beruht nicht zwangsläufig auf großen Fallzahlen, sondern kann zweifelsfrei am Einzelfall erfolgen. Der richtig analysierte Einzelfall gibt Aufschluss über die Wirkzusammenhänge der verschiedenen Einzelkomponenten. Eine im Einzelfall überzeugend dargelegte Wirksamkeit (z.B. Senkung des Blutzuckers nach Insulininjektion) bedarf - nach Kriterien der Einzelfallanalyse aufbereitet - nicht der weiteren Evaluation, ebenso wenig wie das Fallgesetz in der Physik durch Wiederholung der Experimente ‚richtiger‘ wird.

Gibt der randomisiert-kontrollierte Versuch bewusst den Gesamtkontext auf und versucht durch Ein- und Ausschlusskriterien möglichst eine homogene Gruppe zu erzielen an der eine Wirkung (meist auf einen Surrogatmarker) beurteilt werden kann, so inkludiert die differenziert individuelle Therapie den Gesamtkontext und versucht den Wirkzusammenhang als Gesetzmäßigkeit zu erfassen. Daher stellt der randomisiert kontrollierte Versuch (randomized controlled trial = RCT) ein artifizielles System dar, welches zugunsten einer eindimensionalen Ursache - Wirkungsbeziehung den Gesamtkontext außer Acht lässt. Streuungen in der Wirkung sind ein Beweis für die Inhomogenität und damit für die nicht erfassten (wesentlichen) Parameter, auf die die Inhomogenität zurückzuführen ist.

Diese Philosophie (RCT) kann die komplexen Wechselwirkungen von Vielfachgemischen nicht berücksichtigen, da einfache Ursache-Wirkungsbeziehungen für die Einzelkomponenten nur schwer zu eruieren sind. Besonders komplizierend erscheinen dann Phänomene, die einen überadditiven Effekt der Einzelkomponenten zeigen, wie dies z. B. bei den Mistelgesamtextrakten der Fall ist.

Damit ist klar, dass der RCT das beste Instrument zum Nachweis einer kausalen Ursache-Wirkungsbeziehung ist. Dass dieser reduktionistische Ansatz den ‚Goldstandard‘ einer evidenzbasierten Medizin darstellt ist methodologisch jedoch zu hinterfragen. Er stellt die optimierte ‚Spielregel‘ für den Nachweis einer (reduktionistischen) Ursache-Wirkungsbeziehung dar, ist aber unzweifelhaft ein artifizielles System. Ob damit eine (nachhaltige) Wirksamkeit erreicht ist, muss erst noch durch sog. Outcome-Studien mit harten Endpunktparametern bewiesen werden.

Die komplementäre Medizin muss daher für sich in Anspruch nehmen dürfen, im Gegensatz zum randomisierten kontrollierten Versuch, den Patienten in seinem Gesamtkontext zu belassen und aus dieser Mehrdimensionalität heraus, zur gesetzmäßigen Erfassung der interaktiv wirkenden Einzelkomponenten zu einem Therapiekonzept zu kommen, d. h. über die Einzelfallanalyse zur wirkenden Gesetzmäßigkeit (= therapeutic causality report = TCR). Ein entsprechender methodologischer Ansatz ist bereits von Kiene als Cognition Based Medicine publiziert worden (19). Dass auch die komplementäre Medizin das Outcome mit harten Endpunkten zu prüfen hat, liegt auf der Hand. Über dem heutigen Goldstandard des RCT und deren Metaanalysen in der EBM liegen die eigentlichen Outcome-Studien mit harten Endpunkten. Diese sind als große (epidemiologische) Kohorten-Studien durchzuführen, wie dies z. B. bei der UKPDS Studie für den Diabetes geschah. Damit ist die Möglichkeit gegeben die Gesamtsituation des Patienten realistisch einzubeziehen. Artifizielle Systeme haben ihre Berechtigung, man kann sie als Spielregeln betrachten, nur stellt die Abseitsregel im Fußball nicht die Patentregel für alle anderen Ballspiele dar. Interessanterweise zeigte die UKPDS Studie hinsichtlich harter Endpunkte, wie z. B. Überlebenszeit für einige Arzneimittel eine fehlende Wirksamkeit, obwohl eine validierte Evidenz auf der Ebene Ia (Metaanalyse) und Ib (RCT Studien) bezogen auf den Surrogatmarker HbA1c vorlagen. Wirksamkeit stellt sich daher als ein systemischer Wert mit Kontextabhängigkeit dar. Entsprechende Prüfungen im Kontext auf harte Endpunkte sind für sämtliche Systeme zu fordern, jedoch für die konventionelle wie die besonderen Therapierichtungen noch ein hohes und fernes Ziel. Dass aber hier der RCT eine Überlegenheit gegenüber anderen kontextbezogenen Studiendesigns für solche harten Endpunkte hat ist unbelegt und die Arbeiten von Benson und Concato weisen auf die Wertigkeit von Kohortenstudien im Kontext hin (20, 21).

Die Besonderen Therapierichtungen bedürfen daher eines Studienspektrums, das von der Grundlagenforschung über die wissenschaftliche Aufarbeitung des Einzelfalles bis zu systemvergleichenden Outcome-Studien reicht.

Gemeinsam ist nun dem Hauptteil und den Anhängen der Positivliste, dass für alle Bestandteile der Positivliste durch Aufarbeitung sämtlicher wissenschaftlicher Literatur für nur weniger als 2% aller gelisteten Medikamente entsprechende Wirksamkeitsstudien i. S. sog. Outcome-Studien mit harten Endpunkten bestehen.

Im Gegensatz zu den Vermutungen derjenigen Autoren, die Schamanen- und Druidentum als medizinischen Wildwuchs in Deutschland befürchten und den „Wissenschaftsstandort Deutschland“ damit als bedroht erleben, besteht die notwendige Herausforderung einer wirklichen Wissenschaft vom Menschen und nicht nur seines naturwissenschaftlich, kausal-analytisch beschreibbaren Funktionszusammenhanges. Wird zukünftig das salutogene Potential auch in der konventionellen (Schul-)Medizin mehr berücksichtigt, so muss über den Ressourcenverbrauch zu Lasten der Sozialversicherung für die Anthroposophische Medizin nicht gestritten werden vielmehr muss gefragt werden, ob eine Medizin, die sich ganz auf den Schwerpunkt Intervention und Suppression stützt, langfristig bezahlbar bleibt oder ob eine Medizin, die den Einzelnen mit in die Verantwortung seiner eigenen Gesundheit nimmt und seine eigenen salutogenen Ressourcen aktiviert, langfristig das mit Abstand effektivere und kostengünstigere System darstellt. Liegen die Arzneimittelkosten z. Z. in Deutschland zu Lasten der GKV bei ca. 23 Milliarden Euro, so Verbrauchen die Anthroposophika davon weniger als ein Promille, wobei die Versorgung durch anthroposophische Ärzte weit darüber liegt. Ob die Besonderen Therapierichtungen daher ein Problem für die Sozialversicherung angesichts dieser marginalen Kosten sind oder die überwiegend einstellende und suppressiv arbeitende und damit ressourcenfressende konventionelle Medizin hier von ihren eigenen Problem ablenken möchte muss ein jeder anhand der Faktenlage selbst beurteilen. Auffallend erscheint jedoch gerade das laute Rufen kardiologischer Kollegen, das die Kassen leer seien und daher nur noch das Notwendige und wissenschaftlich Abgesicherte finanziert werden darf. Der internationale Vergleich spricht jedoch gegen diese Sparkardiologen in Deutschland. Wann beginnt auch in der Ärzteschaft die Reflexion beim eigenen Handeln, bevor über andere gerichtet und demagogisch ausgegrenzt wird?

Hierzu kann die Diskussion mit den komplementären Therapierichtungen eine konstruktive Hilfestellung sein, um von einer reduktionistischen und in dieser Eigenschaft auch von den Patienten als schmerzhaft erlebten Medizin zu einer den gesamten Menschen umfassenden Heilkunst zu kommen.

Dr. med. Matthias Girke
Gesellschaft Anthroposophischer Ärzte in Deutschland
Gemeinschaftskrankenhaus Havelhöhe
Kladower Damm 221
14089 Berlin

Dr. med. Harald Matthes
Forschungsinstitut Havelhöhe am Gemeinschaftskrankenhaus Havelhöhe Berlin
Kladower Damm 221
14089 Berlin
 

 

Literatur

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4. Antonovsky A. The Sctructural Sources of Salutogenic Strengths. In: Cooper CL, Payne R, editors. Individual Differences: Personallity and Stress. New York: Wiley; 1994. p. 67-104.

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Quelle: DAMiD. Original unter www.damid.de/besonders.htm.