Das Scheitern der WTO-Ministerkonferenz in Cancún

01.09.2003

demo again wtoIn Cancún hat Anfang September die 5. Ministerkonferenz der Welthandelsorganisation - kurz WTO - getagt. Es gab keine Einigung, außer darüber, dass man sich uneinig ist. Das ist eigentlich ein Fortschritt. Bisher war es den Industrieländern gelungen, den so-genannten Entwicklungsländern einzureden, dass eine weitere Liberalisierung des Welthandels ihnen nur zugute kommen kann. Und sie hatten sich immer geweigert auch nur zu untersuchen, ob dies auch in der Realität stimmt. Dass in manchen Entwicklungsländern weite Teile der heimischen Industrie zusammengebrochen sind, hat sie nicht gestört. Dies entspricht ihrem geheimen Wunsch nach einer Deindustrialisierung der Entwicklungsländer.

Landwirtschaft und Industrie

wto kill farmersStatt von Entwicklungsländern zu reden, sollte man eher von Landwirtschaftsländern sprechen. Es gibt Landwirtschaftsländer und Industrieländer. Wobei Erdöl zur Landwirtschaft zu rechnen ist. Und je näher wir einer Weltwirtschaft kommen, je deutlicher werden die Probleme zwischen Landwirtschaft und Industrie. Bei einer Weltwirtschaft gibt es nämlich von außen keine Korrektur mehr. Eine Weltwirtschaft muss sich von innen selbst korrigieren können. Eine Welthandelsorganisation, welche diesen Namen verdient, muss dieser Entwicklung Rechnung tragen und die alten Theorien des Freihandels über Bord werfen. Der Freihandel hilft hier genauso wenig wie die Staatswirtschaft.

Seit Seattle 1999 scheitern die Welthandelskonferenzen immer wieder an dieser Diskrepanz zwischen Landwirtschaft und Industrie. Industrieländer können sie dadurch abfangen, dass sie ihre Landwirtschaft massiv subventionieren. Dies geht aber auf Kosten der Landwirtschaftsländer, die mit diesen Dumpingpreisen nicht mithalten können, was zur Verarmung der eigenen Bauern führt. Und wenn sie versuchen, zur anderen besseren Seite zu wechseln und selber Industrieländer zu werden, werden sie durch die massiven Zölle der Industrieländer auf verarbeitete Produkte daran gehindert. Die Preise stimmen nicht mehr - das heißt, es können nicht mehr alle davon leben. "WTO kill farmers" meinen die Bauern und einer - Lee Kyong Hae - nahm sich bei diesem WTO-Treffen selber das Leben, um auf die katastrophale Situation aufmerksam zu machen.

Die Staatswirtschaft mit ihren Subventionen und Zöllen hat also versagt. Der Freihandel wird es aber auch nicht richten. Das Problem sind nämlich nicht die Subventionen und Zöllen selber, sondern deren Politisierung, die Tatsache, dass Staaten darüber entscheiden. Sie dienen dann vor allem dem Weltmachtstreben der amerikanischen - oder der europäischen Regierung. Diese Politisierung ist es auch, die zur heutigen Polarisierung zwischen Industrieländern und Landwirtschaftsländern geführt hat. Was eine Polarität innerhalb der Wirtschaft selbst hätte bleiben sollen, ist zum Graben zwischen Staaten geworden. Diesen Graben würde der Freihandel nur vertiefen. Zum Freihandel sind die Industrieländer nämlich nur dort bereit, wo sie meinen auch ohne staatliche Unterstützung über die anderen Länder siegen zu können. Und daran wird sich nichts ändern, solange wirtschaftliche und staatliche Interessen so verwoben bleiben, wie sie es heute sind.

Die neuen WTO-Kritiker

demo again wtoAls herausgekommen ist, dass sich die Entwicklungsländer diesmal nicht einschüchtern lassen, haben die Globalisierungskritiker gejubelt. Lieber keine Entscheidungen als schlechte Entscheidungen. Das war schon länger ihr Motto. Noch spannender war aber die Reaktion der bisherigen WTO-Befürworter. Pascal Lamy, der EU-Handelskommissar, hielt das Konsensprinzip der WTO plötzlich für mittelalterlich. Sie sollte daher dringend reformiert werden. Robert Zoellick, der US-Handelsbeauftragte, machte klar, dass er in Zukunft die WTO links liegen lassen wird und lieber Druck auf die einzelnen Länder üben will. Gerade davor haben die Europäer immer Angst gehabt, Angst davor, dass die Amerikaner sich ein größeres Stück vom Weltkuchen schneiden als sie und sie letztendlich ausstechen können.

Enttäuscht wurden auch maßgebliche Waldorfwürdenträger wie Detlef Hardorp, die sich - wenn überhaupt - von diesem WTO-Treffen eher eine Liberalisierung im Bereich des Erziehungswesens versprochen haben. Sie wussten zwar inzwischen, dass das Thema Erziehungswesen wahrscheinlich außerhalb der Verhandlungen bleiben würde. Aber grundsätzlich verstehen sie jede Liberalisierung als Schwächung des Einheitsstaates und daher als Stärkung eines freien Geisteslebens. Nur so ist es zu verstehen, dass Detlef Hardorp zu den Globalisierungsbefürwortern gehört und dafür sorgt, dass sich auch die anderen freien Schulen in gemeinsamen Erklärungen dazu bekennen - zuletzt in einer europaweiten Erklärung. Von Rudolf Steiner hätte er lernen können, dass der größte Feind der sozialen Dreigliederung nicht der Einheitsstaat ist, sondern die Zweigliederung zwischen Staat und Wirtschaft, sprich zwischen Staat und Globalisierung. Aber man ist lieber modern - und naiv.

Man sieht ja auch heute, wie wenig die Leute Empfindung haben für ein freies Geistesleben, daran, dass da oder dort Forderungen auftreten für ein vom Staate emanzipiertes Wirtschaftsleben. Wer im wahren Sinne für die Dreigliederung des sozialen Organismus ist, dem sollte es nur nie einfallen, etwa zu sagen: Da ist ja schon ein Stück von der Dreigliederung des sozialen Organismus, nämlich die Zweigliederung. - Viel besser ist der chaotische Einheitsstaat als eine irgendwie geartete Zweigliederung.

Rudolf Steiner (GA 339, S. 115)

Sylvain Coiplet


Quelle: Gleichnamiger Aufsatz im Trigolog Berlin 10/2003, vom Autoren genehmigter Nachdruck.