Das soziale Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom

01.11.2004

Übersicht über die Kontroverse Bedingungsloses Grundeinkommen?
zwischen Götz Werner, Sylvain Coiplet, Stephan Eisenhut, Ingo Hagel, Ulrich Piel, Thomas Brunner, Heidjer Reetz, Franz Ackermann und Marc Desaules


 

Hartz IV, Grundeinkommen und Bewertung der menschlichen Arbeit

»Das Gros der Aktiengesellschaften schwimmt in Geld, in Deutschland genauso wie in Amerika oder Japan. Anstatt zu investieren, schütten sie das Geld an ihre Aktionäre aus - entweder direkt, in Form von Sonderdividenden, oder indirekt, indem sie eigene Aktien zurückkaufen und auf diese Weise den Börsenkurs nach oben treiben. (Die Vorstände) ... können sich wahlweise als Gönner gerieren, wenn sie eine Sonderdividende zahlen, oder als Wertsteigerer, wenn sie eigene Aktien zurückkaufen.«1

Drei Sätze aus einem »Zeit«-Artikel vom 7. Oktober, die die gegenwärtige Situation der großen Aktiengesellschaften auf den Punkt bringen. Stellt man daneben, was in den letzten Wochen noch alles durch die Medien ging, so wird man einer nahezu unglaublichen Diskrepanz gewahr: Da drücken Daimler-Chrysler, Siemens und andere große Unternehmen die Löhne, weil sie vorgeben, mit den hohen Löhnen in Deutschland nicht mehr konkurrenzfähig zu sein und sich sonst gezwungen sehen, die Produktion ins Ausland zu verlagern. Kurz nachdem die Manager dieser Unternehmen ihre Vorstellungen durchsetzen konnten, werden die Gewinnprognosen fürs gleiche Jahr deutlich nach oben korrigiert. Und dann ist da noch die Debatte über die Managergehälter und -Abfindungen, die in den letzten Jahren ins Maßlose gestiegen sind.

Deutlicher kann das Bild nicht mehr gezeichnet werden: Ein Teil der Gesellschaft ist in der Lage, sich immer mehr an dem westlichen, »demokratischen« Wirtschaftssystem zu bereichern, während einer anderer Teil in immer stärkerer Angst vor dem Absturz in die Arbeitslosigkeit und damit in eine ungesicherte wirtschaftliche Existenzlage lebt oder eben schon längst arbeitslos ist und immer mehr die Hoffnung verliert, einen seinen Fähigkeiten entsprechenden Arbeitsplatz zu finden. Wie aber reagiert die Politik auf diese Missstände? Auf der einen Seite quält sie sich - dies kein spezifisches Phänomen der deutschen Politik - mit ständig wachsenden Haushaltsdefiziten herum. Auf der anderen Seite versucht sie mit Steuergeschenken »Investitionsanreize« zu schaffen. Ist die Konjunktur erst einmal angeregt, so hofft man, wird auch die Arbeitslosigkeit zurückgehen und die Steuern werden umso reicher fließen. Diese Politik kommt den reichen Kapitalgesellschaften sehr entgegen. Nur investieren sie nicht so, wie es sich die Politiker gerne wünschen. Da aber ständig wachsende Haushaltsdefizite langfristig nicht hinnehmbar sind, muss gespart werden. Wenn aber so richtig gespart werden muss, dann kann auch kein Auge trocken bleiben und selbst eine Regierung, die ihren Ursprung im Sozialismus sieht und sich traditionell als Vertreter der Arbeiterschaft versteht, scheint nicht darum herum zu kommen, das Messer da anzusetzen, wo für sie die größten Ausgaben entstehen, also bei den gesetzlichen Sozialversicherungen.

Hartz IV: Arbeitsplatzbeschaffungspolitik oder Kostensenkungspolitik?

Die Reformen des »Arbeitsmarktes«, nach dem VW-Personalchef Peter Hartz benannt, - sollen primär dazu dienen, so wird zumindest behauptet, die Arbeitslosigkeit zu senken. Hartz schien hierfür der richtige Mann zu sein, hatte er doch bei VW einige Modelle verwirklichen können, die in der Tat nicht nur viele Arbeitsplätze in der Region Wolfsburg erhalten, sondern sogar neue geschaffen haben. Freilich mussten hier die Arbeitnehmer ihren Beitrag in Form von unbezahlter Mehrarbeit leisten. Doch das wurde akzeptiert, solange nachhaltig Arbeitsplätze entstanden. Bei der Ubertragung seiner Ansätze von der betrieblichen auf die wirtschaftspolitische Ebene scheiterte Hartz allerdings an den Mechanismen der »Dissensdemokratie«. Das, was als Hartz-Reformen seinen Namen trägt, ist ein im Kompromissgeschacher zwischen Regierung und Opposition zu Lasten der Arbeitnehmer radikalisierter Ansatz, den selbst Peter Hartz nicht mittragen kann.2 Den Regierungen, egal welcher Couleur, wird es in nächster Zukunft vor allem darum gehen, die Kosten der Arbeitslosigkeit für den Staatshaushalt so gering wie möglich zu halten.3 Die Hartz-Reformen werden hierzu ihren Beitrag leisten.

Eine einseitige Sicht der Dinge wird daher zwangsläufig zu solchen Urteilen führen: Der Staat kann es sich nicht mehr leisten, ein Heer von Arbeitslosen auszuhalten. Zumal die Arbeitslosen und Sozialhilfeempfänger nicht die einzige Gruppe der Bezieher leistungsloser Einkommen ist: Da sind die Rentner, die immer mehr werden und die gesetzlichen Rentenkassen belasten. Da »explodieren« scheinbar die Kosten des Gesundheitswesen - es »implodieren« vor allem jedoch die Einnahmen der gesetzlichen Kassen, da die Gruppe derjenigen, die durch ihre Arbeitsleistung beitragspflichtig sind, immer kleiner wird. Und da wollen irgendwelche Sozialbewegte auch noch, dass die staatlichen Leistungen für solche, die Kinder erziehen bzw. für die Kinder selbst verstärkt werden, während es doch bei der gegenwärtigen Haushaltslage zu Gebote stünde, auch hier noch mehr zu kürzen.

Das Problem der leistungslosen Einkommen

Der Anteil der Bevölkerung, der ohne wirtschaftliche Leistungen erbringen zu müssen, ein Einkommen erzielt, wächst stetig. Es sind dieses aber nicht nur die Rentner, Arbeitslosen- und Sozialhilfeempfänger, Kranke und Kinder, für die im Prinzip eine staatliche Versorgungspflicht entsteht, sondern auch jene, die durch die Gestaltung der Eigentumsrechte in den Genuss kommen, ein Einkommen zu erzielen, ohne dafür etwas leisten zu müssen. Ein Herr Esser mag zwar glauben, eine wirtschaftliche Leistung vollbracht zu haben, die entsprechend prämiert werden muss, weil er durch sein Verhalten den Kurswert der Firma Mannesmann im Ubernahmegefecht nach oben getrieben hat; in Wirklichkeit hat er nur daran partizipiert, dass durch die Möglichkeit, Kapital - hier in Form von Aktien - wie eine Ware zu handeln, Umverteilungen bewirkt werden, die niemand mehr so recht durchschaut.4

Für den Anteil der Bevölkerung, der die nötigen Leistungen erbringen muss, bedeutet das, dass sie für immer mehr Menschen aufkommen müssen. Dem entgegen steht die Tatsache, dass durch den technischen Fortschritt immer weniger materielle Arbeitsleistungen nötig sind, um die Versorgung der Menschen mit den Gütern, durch die sie ihr materielles Verhältnis zur Außenwelt regeln, sicherzustellen. Wäre es aber nicht denkbar, dass die nötigen wirtschaftlichen Leistungen in der Tat nur von einer relativ kleinen Gruppe erbracht werden, ohne dass diese darunter leiden müssten? Abstrakt kann diese Frage selbstverständlich leicht mit ja beantwortet werden. Sucht man jedoch nach konkreten Lösungen, so gestaltet sich die Sache sehr kompliziert, ja nahezu aussichtslos. Insbesondere, wenn sie auf rein politischem Felde gelöst werden soll. Selbstverständlich würde die rot-grüne Regierung in Deutschland gerne den Interessen der Rentner, der Arbeitslosen, der Sozialhilfeempfänger und auch denen der Kapitalbesitzer entgegenkommen. Es ließe sich dann viel leichter regieren. Doch leider sieht sie sich Zwängen ausgesetzt, die es unvermeidlich erscheinen lassen, die Axt bei den gesellschaftlich Schwachen anzusetzen. Diese Probleme lassen sich nicht abstrakt lösen. Und staatliche Lösungen sind geradezu das Sinnbild für abstrakte Lösungen. Es muss ein Feld gefunden werden, auf dem sich die Probleme im konkreten Leben lösen lassen.

Wenn nicht durch den Staat, wie aber dann könnten Lösungen für das immer gravierender werdende Verteilungsproblem gefunden werden? Die Marktwirtschaft - vom Sozialismus gar nicht zur reden - hat hier ganz offensichtlich versagt. Weder innerhalb des Wirtschaftslebens noch des politischen Staates kann ein brauchbarer Lösungsansatz gefunden werden. Einen schwer zugänglichen, aber sehr bedeutenden Ansatz hat Rudolf Steiner am Anfang des letzten Jahrhunderts entwickelt. Steiner hat zunächst einige Gesetze des sozialen Lebens aufgezeigt und dann, ab 1917, die Idee der Dreigliederung des sozialen Organismus dargestellt. Im Zentrum steht bei ihm die Frage, wie die menschliche Individualität ihre Fähigkeiten in richtiger Weise entwickeln und zum Einsatz bringen kann. Nur aus der richtigen Entfaltung der individuellen Fähigkeiten wird sich das soziale Leben fruchtbar gestalten können.5 Von diesem Gesichtspunkt her kommt er zu einer scharfen Ablehnung aller sozialistischen, staatsdirigistischen Ideale. Denn diese laufen immer darauf hinaus, die staatlichen Institutionen über die Individualität zu stellen und dadurch diese in ihrer Entfaltung beschränken. Genauso scharf sieht er allerdings die fatalen Wirkungen einer marktwirtschaftlichen Steuerung der sozialen Lebensprozesse. Hier wird die Individualität nicht durch den Staat beschränkt, sondern durch die Eigendynamik der Märkte überwältigt. Weder innerhalb des Wirtschaftslebens noch des Rechtslebens können die Bedingungen gefunden werden, welche die Individualität für ihre Entfaltung braucht. Diese sind einzig auf dem Gebiete des Geisteslebens zu finden. Will man Steiners Ansatz zur Lösung der Verteilungsfrage verstehen, ist es notwendig die Qualitäten dieser drei Bereiche genau zu erkennen und in ihrem Zusammenspiel zu begreifen.

Das Gesetz der sozialen Aufmerksamkeit

Eine Lösung der Verteilungsfrage im Sinne Steiners ist nur dann möglich, wenn die rechte Aufmerksamkeit für den anderen Menschen im sozialen Zusammenhang entstehen kann. In dieser Richtung ist auch zu verstehen was Steiner 1905 als »Soziales Hauptgesetz« formuliert hat. Es besagt nichts anderes, als dass »die Gesundheit« eines gesellschaftlichen Arbeitszusammenhanges umso größer ist je mehr die Menschen in der Lage sind, ihre Leistungen ganz aus dem Interesse für die Bedürfnisse der anderen Menschen zu erbringen und je mehr sie gewillt sind, die eigenen Bedürfnisse aus den Leistungen der anderen Menschen zu befriedigen.6 Man könnte dieses Gesetz als auch als »Gesetz der sozialen Aufmerksamkeit« bezeichnen. Für die Anwendung dieses Gesetzes auf die Einrichtungen des sozialen Lebens bedeutet dieses, dass diese immer so gestaltet sein sollen, dass die Einrichtung das Interesse am anderen Menschen nicht verhindert sondern fördert.

»Einrichtungen«, die im höchsten Maße das Interesse am anderen Menschen verhindern, sind die »Märkte« für Arbeit und Kapital. Betrachten wir zunächst den »Arbeitsmarkt«. Auf diesem wird dem Unternehmer ein Quantum Arbeitszeit für einen bestimmten Preis angeboten. Der Arbeitnehmer schuldet dem Arbeitgeber die vertraglich vereinbarte Zeit. Die in dieser Zeit erbrachten Leistungen werden als Eigentum des Arbeitgebers aufgefasst. Dieser verkauft die Leistung bzw. das Produkt in das sie eingegangen sind, auf eigene Rechnung weiter. Der Arbeitnehmer muss sich nicht dafür interessieren, welche Bedürfnisse mit seiner Leistung befriedigt werden. Ihm ist wichtig, dass der Marktpreis für seine Arbeit möglichst hoch steigt. Bei einem Überangebot an Arbeit wird der Preis entsprechend fallen. Aus der Marktlogik heraus wird er versuchen, sich gewerkschaftlich zu organisieren, um so eine Art Angebotsmonopol für die Arbeit zu schaffen. Dadurch kann es ihm gelingen - es gelingt nur immer weniger! -, den Preis der Arbeit höher zu halten, als dieses bei freier Konkurrenz der einzelnen Arbeitsanbieter möglich wäre. Mit dem Wert seiner Leistung hat dieses allerdings alles nichts zu tun.

Betrachten wir nun den Kapitalmarkt. Auf diesem besorgt sich der Unternehmer das Kapital, um damit seine Unternehmensideen zu realisieren. Größere Unternehmen besorgen sich das Kapital auf dem Wege, dass sie Anteile ihrer Unternehmen als Aktien verkaufen. Die Eigentümer des Unternehmens sind dann viele Aktienhalter, die, obwohl sie lediglich das Kapital gegeben haben, je mehr Einfluss auf das Unternehmen bekommen, desto größer der Anteil ist, den sie erworben haben oder stellvertretend für den Besitzer verwalten können.7 Der Unternehmer wird auf diesem Wege immer mehr zum Manager, der die Interessen der Aktienhalter zu vertreten hat. Werden die Aktien auf den Aktienmärkten frei gehandelt, so kann der Eigentümer beliebig wechseln. Der Manager muss dann nicht bestimmte Interessen eines konkreten Menschen vertreten, sondern die Interessen des Kapitals im Allgemeinen. Das sind aber keine menschlichen Interessen mehr, sondern vom Menschen abgelöste, in Marktgesetze aufgelöste abstrakte Interessen.

Der »Kostenfaktor Arbeit« stellt in fast jedem Unternehmen eine zentrale Größe dar. Der Manager hat die Aufgabe, den Preis, der für diesen Produktionsfaktor aufgewendet wird, möglichst niedrig zu halten. Er kann sich nicht für die soziale Situation der Arbeitnehmer interessieren, da er den abstrakten Interessen der Aktienhalter genügen muss. Gelingt es ihm nicht, den Preis für die Arbeit möglichst gering zu halten, so beginnen die Aktionäre ihre Anteile zu verkaufen. Dadurch fällt der Wert der Aktien und damit des Unternehmens. Die Aktionäre erwarten von dem Manager, dass er den Wert des Unternehmens steigert. Ein Manager, der den Wert des Unternehmens massiv schmälert, wird früher oder später ausgewechselt. Ein Manager, der den Wert des Unternehmens steigert, wird für seine »Leistung«8 eine fürstliche Entlohnung erhalten.9 Es ist einfach eine Folge der Logik dieser Märkte, dass in den letzten Jahren die Einkommen der Arbeitnehmer immer weiter gedrückt wurden, während die Managergehälter geradezu explodierten. Die Arbeitnehmer hingegen, die die Entwicklung dieser Gehälter und der Renditen selbstverständlich genau verfolgen, werden dadurch noch mehr angeheizt, möglichst ihre Schäfchen ins Trockene zu bekommen. Diejenigen, die ihre Interessen durchsetzen können, werden dieses auch tun, gleichgültig ob es den anderen Arbeitnehmergruppen schadet, wenn in einer Branche die Löhne unverhältnismäßig hoch steigen. Das echte menschliche Interesse für die anderen, wird dadurch völlig untergraben.

Trennung von Arbeit und Einkommen

Wie müssten die Institutionen, durch die die Arbeit ins soziale Leben eingegliedert werden kann, beschaffen sein, damit dieses Interesse am anderen Menschen möglich wird? Die Institution »Arbeitsmarkt« führt, wie gezeigt, dazu, dass die Menschen arbeiten, weil sie durch die Arbeit etwas für sich erreichen wollen. Kann es Institutionen geben, die so wirken, dass die Menschen aus dem Interesse für andere arbeiten? Diese Frage verneint Rudolf Steiner entschieden. Die beste Institution wird nichts nützen, wenn der Mensch nicht von einer anderen Seite her für seine Arbeitsmotivation eine Anregung bekommt. Diese Anregung kann nur aus einem Geistesleben herauskommen, welches in der Lage ist, dem Menschen eine Entwicklungsperspektive zu geben.10 Ein Geistesleben, das den Menschen als Ergebnis materieller Prozesse betrachtet, kann diese Perspektive nicht schaffen. Insofern ist bei allen Aussagen Rudolf Steiners zur sozialen Gestaltung immer zu berücksichtigen, dass diese nur im Zusammenhang eines wirklich aufbauenden geistigen Lebens wirksam sein können. Obwohl somit primär die Änderung der Einrichtungen nicht eine Besserung der sozialen Verhältnisse hervorbringen kann, sieht er es als notwendig an, dass die Frage der Arbeitsmotivation von dem Einkommensmotiv getrennt wird. Denn in der Verknüpfung dieser beiden Elemente sieht er eines der stärksten Hemmnisse für die Entwicklung eines echten sozialen Zusammenlebens - und dieses Hemmnis sollte auf jeden Fall beseitigt werden.

Nun ist diese Forderung nach der Trennung von Arbeit und Einkommen von vielen Interpreten Rudolf Steiner missverstanden worden. So führen etwa die Anhänger eines gesetzlich garantierten Grundeinkommens Rudolf Steiner als einen Vertreter desselben an.11 In der Tat liegt der Gedanke eines Grundeinkommens als eine Realisation der Trennung von Arbeit und Einkommen zunächst nahe. Und es sind ihm wesentlich sinnvollere Aspekte abzugewinnen, als dem Grundsicherungsmodell mit integriertem Arbeitszwang, welches die deutsche Bundesregierung nun einfuhrt?12 Wennschon ein Arbeitsmarkt besteht, so wird argumentiert, so müssen zumindest die Auswirkungen dieses Arbeitsmarktes auf die existentielle Lage der Arbeitnehmer begrenzt werden. Michael Opielka schreibt dazu: »Ein unabhängig vom Arbeitsmarkt gezahltes, existenzsicherndes, individuelles Grundeinkommen würde das Privateigentum an Produktionsmitteln, die zweite Säule des Kapitalismus, nicht antasten. Doch die Lohnarbeit wäre nicht mehr das Nadelöhr, das man im Interesse des Lebensunterhaltes passieren muß«13 Steiner geht es aber gerade darum, die für alles Menschliche aufmerksamkeitslähmende Wirkung des Arbeits- und Kapitalmarktes aufzudecken und Möglichkeiten eines vom menschlichen Bewusstsein her getragenen Einsatzes der Produktionsfaktoren Arbeit und Kapital aufzuzeigen. Das für manche Anhänger des auf Steiners Sozialem Hauptgesetz fußenden Gedankens der Trennung von Arbeit und Einkommen Erstaunliche ist, dass Steiner in den »Kernpunkten der sozialen Frage« mit größter Selbstverständlichkeit das Leistungsprinzip für die Bewertung der Arbeit betont. Menschen, die befähigt sind, Leistungen in den sozialen Organismus einzubringen, sollen auch über den Austausch dieser Leistungen ihr Einkommen erwerben. Nur wem diese Möglichkeit fehlt - also Kindern, Alten und Kranken -, der soll ein Einkommen durch den Rechtsstaat erhalten können.14

Doch wäre es nicht eine Rückkehr zum Prinzip der Erwerbsarbeit, wenn die Leistungen der Menschen bewertet werden? Tritt dann nicht das Motiv, möglichst viel für die eigene Leistung zu erhalten, in den Vordergrund? Für Karl Kossmann etwa, dem Initiator des sehr fortschrittlichen Einkommensmodells der WALA Heilmittel GmbH, ist die Bezahlung der Leistungen ein Ausdruck des Warencharakters der Arbeit, den es zu überwinden gilt. Dennoch sieht er es in der gegenwärtigen Situation noch nicht als möglich an, darauf völlig zu verzichten.15 Aber wäre ein solcher Verzicht wirklich sinnvoll? Oder ist es vielleicht gerade erforderlich, die Leistung des Menschen in einer anderen Weise in den Blick zu bekommen als das heute möglich ist?

Die Bewertung der menschlichen Arbeit

Dass eine Leistung entsprechend honoriert wird steht in keiner Weise im Widerspruch zu dem, was Steiner 1905 als »Soziales Hauptgesetz« formulierte. Im Gegenteil: Es ist geradezu seine Erfüllung. Denn um eine Leistung entsprechend honorieren zu können, muss ich die rechte Aufmerksamkeit für sie entwickeln. Eine Gemeinschaft, in der sich diese Aufmerksamkeit füreinander stark entfaltet, wird die Leistungen der Menschen, die aus dem echten Interesse für die Bedürfnisse der anderen Menschen erbracht werden, selbstverständlich anders honorieren, als Leistungen derjenigen, die rein aus egoistischen Motiven erbracht werden. Denn durch erstere werden die Bedürfnisse in einem weit aus höheren Maße befriedigt werden als durch die letzteren. Die Trennung der Arbeitsmotivation von dem Einkommensmotiv erfordert nicht, dass Leistungen etwa nicht bewertet werden sollen. Weil dieses so ist, kann Steiner in den »Kernpunkten der sozialen Frage« auch, ohne sich in Widerspruch zum Sozialen Hauptgesetz zu setzen, behaupten: »Wenn einer scheinbar mehr Einkommen haben wird als ein anderer, so wird dies nur deshalb sein, weil das >Mehr< wegen seiner individuellen Fähigkeiten der Allgemeinheit zugute kommt.«16 Und er kann in einem Vortrag über die Bewertung der Unternehmertätigkeit ausführen: »Der Betreffende wird gewisse Ansprüche stellen für seine geistige Leistung, für seine Führerleistung, für seine Leitung. Wenn einmal ein wirklicher Vertrag zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer geschlossen wird - der heute übliche Vertrag ist nur ein Scheinvertrag -, wird der Arbeitnehmer einsehen, dass seine Interessen am besten vertreten sind, wenn der Unternehmer den Betrieb mit seinen individuellen Kräften gut leitet, ohne ihn aber zu besitzen. Und dies ist eben dann möglich, wenn der Unternehmer ursprünglich aus freier Initiative die Forderung für seine geistige Leistung aufstellt und darüber mit den Arbeitern verhandelt. Kann diese Forderung nicht erfüllt werden, muss der Unternehmer mit seiner Forderung eben heruntergehen. Aber die Forderung muss aus völlig freier Initiative ursprünglich gestellt werden. Findet der Unternehmer keine Abnehmer, so muss er, was sich von selbst versteht, heruntergehen. Aber nun muss es dabei bleiben. Er bezieht nun aus dem Unternehmen heraus nichts weiter als den vereinbarten Anteil, der, wenn sich seine Arbeit vergrößert, vergrößert werden kann.« 17

Je mehr der Unternehmer in der Lage ist, aus den objektiven Erfordernissen tätig zu werden, desto mehr wird er auch seine Forderungen über die Höhe seines Anteils in freien Verhandlungen durchsetzen können. Innerhalb der gegenwärtigen Rechtsverhältnisse sind solche freien Verhandlungen nicht möglich, weil sich Unternehmer und Arbeiterschaft nicht als Gleiche begegnen können. Dieses ginge nur, wenn das Besitzrecht an Produktionsmitteln so gestaltet wäre, dass es nicht durch Marktprozesse sondern durch Bewusstseinsprozesse übertragen werden kann.18 Der Unternehmer würde dann dem Arbeiter als jemand gegenüberstehen, der im gemeinsamen Produktionsprozess bestimmte geistige Aufgaben übernimmt. Die geistigen Leistungen müssten dann im Verhältnis zu den materiellen Leistungen eine entsprechende Bewertung finden.19 Dieses erfordert eine Wahrnehmung der Leistungen des anderen. Dabei kommt es überhaupt nicht darauf an, ob die Leistungen objektiv richtig bewertet werden, sondern darauf, dass das Bewertungsergebnis beide Seiten zufrieden stellt. Selbstverständlich könnten sich Arbeiter und Unternehmer auch darauf einigen, dass alle den gleichen Anteil am gemeinsam Erzeugten verdienen. Dennoch werden in der Regel die Vereinbarungen darauf hinauslaufen, dass solchen, die sehr viel für die Gemeinschaft leisten, auch ein höherer Anteil von der Gemeinschaft zugestanden wird. Meistens wird dies der Gemeinschaft wieder zugute kommen. Denn der geistig Produktive wird dieses Mehr in der Regel stärker für die Entfaltung von kulturellen Tätigkeiten verwenden, als diejenigen, welche ihre Fähigkeiten hinsichtlich der geistigen Produktivität nicht im gleichen Maße entwickelt haben. Die Entfaltung des kulturellen Lebens wirkt sich in jedem Fall heilsam auf den gesamten sozialen Organismus aus.

Die Bedingungen dafür herzustellen, dass sich Arbeiterschaft und Unternehmer als Gleiche begegnen können, ist eine Aufgabe des Rechtslebens. Die konkrete individuelle Begegnung, in der die Aufmerksamkeit für die Leistungen des anderen entwickelt wird, ist eine Angelegenheit, die sich innerhalb des Geisteslebens abspielt. Die vertragliche Festlegung des Anteils, den die Leistenden an dem gemeinsam Produzierten haben werden, ist wiederum eine Angelegenheit des Rechtslebens, während die konkrete Realisierung des wirtschaftlichen Ertrages eine Angelegenheit des Wirtschaftlebens ist. Erst wenn es gelingt, diese drei Bereiche klar zu trennen und in ihrem Zusammenwirken zu durchschauen, wird man zu konkreten Lösungen finden können.

Vom Problem der abstrakten Lösungen: Grundeinkommen und Hartz IV

Die Idee eines Grundeinkommens neben einem fortbestehenden Arbeits- und Kapitalmarkt, sozusagen als dessen Korrektiv, erfüllt die Forderungen des Sozialen Hauptgesetzes in keiner Weise. Zwar ist die Machtposition des Kapitals etwas abgeschwächt, weil der abhängig Beschäftigte bei der Kündigung nicht in ein völliges Existenzloch fällt. Dennoch bestehen die Einrichtungen, die die Aufmerksamkeit für den anderen Menschen in stärkstem Maße ablenken, weiterhin. In gewisser Weise wird die Aufmerksamkeitslähmung sogar noch verstärkt: Wieso soll ich mich als Unternehmensleiter, wenn ich Leute entlasse, dafür interessieren, wie diese ihren Unterhalt in Zukunft bestreiten werden? Sie bekommen doch ein existenzsicherndes Grundeinkommen! Mit der Idee des Grundeinkommens wird das Grundproblem des modernen sozialen Lebens - das ist die Aufmerksamkeitsschwäche für den anderen - nicht gelöst.

Richtig verschärft wird dieses Grundproblem durch die Maßnahmen der jüngsten Reformen des Arbeitsmarktes. Annett Mängel schreibt hierzu in den »Blättern für deutsche und internationale Politik« treffend: »Das zentrale Problem von Hartz IV liegt ... auf einer tieferen Ebene: nämlich dem zunehmenden Ausschluss von gesellschaftlicher Partizipation. Immer mehr Bürger müssen gerade im Osten erkennen, dass ihre Arbeitskraft zukünftig allenfalls zum Ein-Euro-Job taugt. Deutlicher könnte der Ausweis gesellschaftlicher Funktions- und Bedeutungslosigkeit kaum sein.«20 Beider gesellschaftlichen Partizipation geht es in erster Linie nicht darum, ein Einkommen zu erzielen, sondern sich mit seiner Leistung in die Gesellschaft eingliedern zu dürfen. Wird dieser Leistung nicht mit der rechten Aufmerksamkeit begegnet oder wird sie gar erzwungen, dann stellt dieses eine elementare Verletzung der Menschenwürde dar. Dieses empfinden die betroffenen Menschen, wenn sie es in der Regel auch nicht bewusst artikulieren können. Und diese Verletzung rumort im Inneren der Menschen und sucht verzweifelte Ventile. Die erschreckende Zunahme rechtsradikaler Tendenzen ist letztlich nur ein Ausdruck solcher unterbewusst wirkender Verletzungen.

Der westliche Mensch leidet an einem sozialen Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom. Er hat einseitig ein Kopfbewusstsein entwickelt, welches nicht in der Lage ist, zu dem Geistigen im anderen Menschen durchzudringen. Den ihm entsprechenden Ausdruck findet dieses Kopfbewusstsein besonders in dem Versuch, die soziale Frage durch staatlich-dirigistische Maßnahmen zu lösen. Ein wirklich soziales Leben kann sich aber nur da entfalten, wo sich Menschen in ihrer Individualität begegnen und wahrnehmen. Den Ort, wo diese individuelle Begegnung stattfindet, bezeichnet Steiner als »Geistesleben«. Innerhalb dieses Geisteslebens müssen zuerst Entwicklungen stattfinden, die diese Aufmerksamkeitsstörungen auflösen. Wer zum Geistigen des anderen Menschen nicht durchdringt, kann es auch nicht richtig bewerten. Tritt dieses Geistige dann auch noch in einer Form auf, in der es sich Machtmittel bedient, um seine Interessen durchzusetzen - und im modernen, auf Privatbesitz an Produktionsmittel beruhenden Unternehmertum ist das in besonderem Maße der Fall -, dann erweckt das mit Notwendigkeit eine Ablehnung gegen alle geistigen Führungsqualitäten. Die sozialen Aufmerksamkeitsstörungen werden dadurch weiter verschärft. Ein modernes Geistesleben im Sinne Steiners muss sich aller Machtmittel begeben. Es muss rein auf die »freie Empfänglichkeit« der anderen Menschen bauen. Und es muss selbst Sorge dafür tragen, dass diese Empfänglichkeit wieder entsteht.21 Das ist schwierig, denn es erfordert die Entwicklung eines viel umfassenderen Bewusstseins, als das gegenwärtige Kopfbewusstsein. Dennoch wird eine heilsame Entwicklung des sozialen Lebens nur auf diesem Wege möglich werden.

1 Robert von Heusinger: Und sie schwimmen in Milliarden, in »Die Zeit«, 7. Oktober 2004
2 Vgl. Arne Daniels: Vom Erlöser zum Buhmann, www.stern.de/wirtschaft/unternehmen
3 Da die CDU/CSU die wesentlichen Verschärfungen der Hartz-Reformen im Vermittlungsausschuss durchgesetzt hat, ist kaum davon auszugehen, dass bei einem Regierungswechsel eine Nachbesserung dieser Reformen im Sinne der Arbeitslosenhilfe-Empfänger erfolgen wird. Im Gegenteil: Bedenkt man, dass CDU/ CSU in diesem Ausschuss die wechselseitige Unerhaltspflicht von Kindern und Eltern, keine Rentenfreibeträge für unter 50-Jährige, keine Vermögensfreibeträge für Kinder, eine weitere Verschärfung der Sanktionen und eine Absenkung des Leistungsniveaus auf zwei Drittel der nun beschlossenen Bezüge forderten, so darf bei einem Regierungswechsel allerhöchstens von Nachbesserungen im Sinne einer Verschärfung ausgegangen werden.
4 Sehr lesenswert ist in diesem Zusammenhang der Aufsatz von Helmut Greutz, der darlegt, wie sich der Anteil der Einkommensbildung aus Kapitalvermögen gegenüber dem Anteil aus der Erwerbsarbeit in den letzten Jahrzehnten immer weiter vergrößert hat und wie dieses auch unter den bestehenden Bedingungen mit Notwendigkeit sein muss. Siehe: »Das Goetheanum« Nr. 35 vom 29. 8. 2004
5 Schon am Ende des 19. Jahrhunderts hat Steiner in einem Aufsatz auf eine Entwicklungsgesetzmäßigkeit hingewiesen, die er später als »soziologisches Grundgesetz« bezeichnet hat: »... wenn wir genau zusehen, so ist in der Geltendmachung des Individuums gegenüber den im Anfange der Kulturentwicklung notwendig entstehenden Gemeinschaften, die sich auf Untergrabung der Individualität aufbauen, ein gutes Stück geschichtlicher Entwicklung gegeben.« Aus: Rudolf Steiner: Gesammelte Aufsätze zur Kultur- und Zeitgeschichte 18871901 (GA 31), Dornach 1989, 5.
6 Wörtlich heißt es: »Das Heil einer Gesamtheit von zusammenarbeitenden Menschen ist um so größer, je weniger der einzelne die Erträgnisse seiner Leistungen für sich beansprucht, das heißt, je mehr er von diesen Erträgnissen an seine Mitarbeiter abgibt, und je mehr seine eigenen Bedürfnisse nicht aus seinen Leistungen, sondern aus den Leistungen der anderen befriedigt werden.«
7 Gemeint sind die Aktienfonds und Banken, die in der Regel als die Verwalter für viele Kleinaktionäre auftreten und dadurch einen sehr großen Einfluss auf die Unternehmen ausüben können.
8 Die geistige Leistung der Unternehmensleitung soll damit in keiner Weise in Frage gestellt werden. Solange ein Manager den Wert des Unternehmens durch den Einsatz seiner Organisationsfähigkeiten steigert, ist eine entsprechende Vergütung derselben nur berechtigt (siehe auch weiter unten). Als »wertsteigernde Leistung« kann jedoch nicht betrachtet werden, wenn es den Managern gelingt, aus einer Machtposition heraus den Anteil der Lohneinkommen immer weiter zu drücken.
9 Die Entwicklung der Managergehälter ist insbesondere in den letzten Jahren immer stärker durch die Vergütung über Aktienoptionen geprägt. Die Vergütung schwankt daher mit den Aktienkursen.
10 Siehe Rudolf Steiner: Geisteswissenschaft und soziale Frage (GA 34), Dornach 1989, 5. 218€
11 Vgl. z.B. Michael Opielka: Grundeinkommen statt Hartz I in: »Blätter für deutsche und internationale Politik«, 9/04, 5. 1085 und »Info3«, Oktober 2004, 5. 23€
12 Siehe hierzu die erwähnten Ausführungen von Opielka.
13 Michael Opielka: Wenn Lohnarbeit nicht mehr das Einzige wäre, in: »Freitag«, Nr. 41 vom 1. Oktober 2004,S. 6
14 Vgl. Rudolf Steiner: Die Kernpunkte der sozialen Frage (GA23), Dornach 1989, S. 101.
15 Karl Kossmann: Von der Idee zur Wirklichkeit, 5. 195 € Siehe auch meine Rezension auf S. 72 dieses Heftes. 16 Steiner: Kernpunkte, 5. 101.
17 Rudolf Steiner: Vergangenheits- und Zukunftsimpulse im sozialen Geschehen (GA 90), Vortrag vom 21. März 1919, Dornach 1989, S. 28.
18 Steiner sieht sehr wohl die Bedeutung der individuellen Verfügbarkeit über die Produktionsmittel und lehnt daher alle sozialistischen Verstaatlichungsmodelle ab. Er fordert ein Eigentumsrecht an Produktionsmitteln, welches die individuelle Verfügbarkeit solange gewährleistet, wie dieses von dem Nutzer für die Allgemeinheit verwendet wird. Hierzu führt er in den Kernpunkten (5. 99) aus: »Die Rechtseinrichtungen werden dafür sorgen, dass ein Produktionsbetrieb nur so lange mit einer Person oder Personengruppe verbunden bleibt, als sich diese Verbindung aus den individuellen Fähigkeiten dieser Personen heraus rechtfertigt. Statt dem Gemeineigentum der Produktionsmittel wird im sozialen Organismus ein Kreislauf dieser Mittel eintreten, der sie immer von neuem zu denjenigen Personen bringt, deren individuelle Fähigkeiten sie in der möglichst besten Art der Gemeinschaft nutzbar machen können.«
19 Zum Zusammenwirken von geistiger und materieller Arbeit in der Wertbildung vgl. auch meinen Beitrag zur Kapitaltheorie Rudolf Steiners in: Roland Benedikter (Hg.): Postmaterialismus, Bd. 5, Das Kapital (Erscheinungstermin November 2004)
20 Annett Mängel: Grundverunsicherung. In: »Blätter für deutsche und internationale Politik«, Nr. 10/04, 5. 1160. 21 Vgl. Steiner: Kernpunkte, 5. 65.


Quelle: die Drei 11/2004, Nachdruck mit freundlichen Genehmigung des Autors