Fussball EM 2008 - gemeinsam für den Völkerhass

23.06.2008

Es ist in der Tat fast wie im Sommermärchen von 2006: in nahezu jeder größeren deutschsprachigen Stadt prügeln sich die Völker krankenhausreif (siehe unten). Und das trotz des irrsinnigen Sicherheitsaufgebots, das allein in der Schweiz 53 Millionen Franken verschlingt. Die Polizeikräfte der Schweiz reichen offenbar nicht aus, um die durch die Fussball-Europameisterschaft erzeugte Gewalt einzudämmen. Mehrere Hundertschaften der deutschen Polizei wurden hinzugezogen, und sage und schreibe 15.000 Mann der schweizerischen Armee.

Man spricht dieser Tage gerne von "Entgleisungen", um die Friedfertigkeit der breiten Masse zu unterstreichen. Als Günther Netzer, ARD-Experte und Fernsehrechte-Inhaber, den Sieg der deutschen Nationalmannschaft über die portugiesische vor laufenden Kameras so kommentierte: "Ja, das sind Deutsche Tugenden, Deutsche Tugenden haben wir immer noch am besten - dafür fürchtet man uns, und damit verbreiten wir Angst und Schrecken.“ - da sprachen die wenigen, denen unter Netzers Ergüssen nicht der Brustkorb geschwollen war, von einer "Entgleisung". Eine "Entgleisung" hat man das auch genannt, als in der Klagenfurter Innenstadt Deutsche Fussball-Fans vor dem Spiel Deutschland gegen Polen Lieder sangen wie: "Deutsche kauft nicht bei Polen", oder "Alle Polen müssen einen gelben Stern tragen."

Ich vermag keine Entgleisungen zu erkennen. Der Zug liegt genau auf seinem Gleis. Die Fans zuerst dazu zu animieren, in den Stadien die nackten Bäuche aneinander zu reiben, und ihnen dann zu verbieten, sich gegenseitig die Köpfe einzuschlagen, das ist so, als ob man das Kiffen erlaubt, aber das Inhalieren verbietet.

In allen Ländern Europas wird es während der Fussball-EM ähnlich aussehen. Die jahrelange Arbeit von Pädagogen, Sozialarbeitern und Richtern ist in Minuten zerstört. Während diese um jedes einzelne Individuum kämpfen mussten, gelingt es den vereinten Kräften von Staatsmacht und Wirtschaft in kürzester Zeit, aus dem Völkerhass einen Flächenbrand zu machen.

Man kann trotzdem gut miteinander auskommen, das stimmt. Man gönnt sich was. Als der "Super-Express", eine polnische Boulevard-Zeitung, auf der Titelseite eine Fotomontage mit den abgeschlagenen und bluttriefenden Köpfen von Joachim Löw, Nationaltrainer der deutschen Nationalmannschaft, und Michael Ballack, Kapitän der deutschen National-Elf, zeigte, vergönnte das eine RTL-Nachrichtensprecherin mit einem verständnisvollen Lächeln und dem Kommentar, daß das eben zu einer EM dazugehöre.

Nirgends wird das Wesen des Nationalismus so deutlich wie im Fussball. Während ich in meiner Wohnung sitze und schreibe, höre ich plötzlich um mich herum die Menschen ekstatisch aufschreien, zeitgleich; Menschen, die sich nicht kennen. Was verbindet sie?

Lukas Podolski ist Pole, hat aber vom deutschen Staat ein Papier, eine Bescheinigung also, daß er den Gesetzen untersteht, mit denen das deutsche Volk angeblich so gar nicht zufrieden ist. Als der Pole Lukas Podolski gegen die polnische Mannschaft einen Treffer erzielt, da stürmen all jene, die auch so ein Papier haben wie Podolski, schreiend aus ihren Häusern und schwenken schwarz-rot-goldene Fahnen, manche schnappen sich auch einen Polen und verprügeln ihn.

Der Nationalismus ist eben universell, und keineswegs Ausdruck der Verbindung durch eine Volkszugehörigkeit. Das ist schlimm genug, wenn sich die Menschen für das hassen, was sie aufgrund der jeweiligen Volkszugehörigkeit unterscheidet. Der Nationalismus braucht aber das Volk gar nicht. Die nationale Gemeinschaft ist abstrakt. Es würde ausreichen, einer Gruppe verschiedener Völker und Rassen ein X auf die Hand zu malen, einer anderen ein Y, und man könnte sie dazu bringen, sich gegenseitig umzubringen.

Die Gemeinschaft wird bloß dadurch erzeugt, daß man anstelle des Individuums eine Masse als eine Eins definiert, indem man sie von einer anderen Masse unterscheidet. Diese Unterscheidung kann, wie im Falle der Zugehörigkeit zu einer Nation, völlig abstrakt, bloß zeichenhaft sein. Das ist aber erst der äußere Rahmen, den der Nationalismus für seine Entfaltung braucht. Seine eigentliche Substanz liegt im Nationalgefühl. Was ist das, was sich dann mit der Abstraktion verbindet, was empfinden die Menschen, während sie ein Fussballspiel verfolgen, worin liegt der Genuß?

Allein darin, daß das, was das Wesen des Menschen ausmacht, aufgehoben wird. Was dem Menschen wesentlich ist, daß der eine Mensch dem anderen als Individuum gegenüberstehen muß, weil er im Unterschied zum Tier in gewisser Weise eine Gattung für sich ist, das kann abgestreift werden. In diesem Nachgeben besteht der Genuß, in dem Leugnen der eigenen Individualität und dem sehnsuchtsvollen Nachhängen des Wunsches, sich mit den anderen Individuuen in einem größeren Ganzen zu vereinigen. Was den Italiener im Nationalrausch bewegt, ist also identisch mit dem, was der deutsche Nationalist als seine Nationalität behauptet. Daher das gönnerhafte, das man trotz der Feindschaft überall findet.

Wenn man in Berlin mit der U-Bahn fährt, dann ist das an normalen Tagen ziemlich trist, man starrt sich entweder an oder versucht dem Blick des anderen auszuweichen. Als ich neulich, offenbar kurz vor einem Deutschland-Spiel, die U-Bahn bestieg, da war das anders. Eine ältere Dame saß mir gegenüber und strahlte mich an. Ich war irritiert. Plötzlich sagte sie: "Und, was meinen Sie, werden wir gewinnen?" Ich mußte an Zuckmayers "Als wärs ein Stück von mir" denken. Darin beschreibt Zuckmayer, wie er kurz vor Kriegsausbruch mit dem Zug nach Deutschland fährt, und Fremde ihm plötzlich freundlich zunicken, oder ihn auf eine intime Art ansprechen, so als wären sie seit Jahren miteinander bekannt.

Es kann ja nicht bestritten werden, daß die Überwindung seines Einzeldaseins ein Urmotiv und sicher auch ein berechtigtes Ziel des Menschen ist. Es ist aber vollkommen ausgeschlossen, daß wir das, was alle Religionen und Philosphien dieser Welt anstrebten, jetzt einfach dadurch erreichen, daß wir auf der Erde herumkriechen und uns gegenseitig beschnüffeln. Auf die Gemeinsamkeiten, die er dabei findet, kann ein Mensch seinen Stolz nicht gründen.

Während der WM 2006 konnte man auch in diversen vermeintlich Anthroposophischen Zeitschriften Fetsreden auf das neue deutsche Volkstum finden (siehe hier). Die deutsche "Volkseele" sah man da in der Orgie anschwellen. Das wird sich zur EM 2008 sicher wiederholen. Was für eine geringe Meinung muß man aber von dem eigenen Volk haben, wenn man glaubt, daß sich die Seele des Volkes in diesem Geblöke aussprechen würde! Und welche Verkehrung der Anthroposophie: diese will ja gerade der wissenschaftliche Weg sein, auf dem Geistiges und Seelisches zur Anschaung und zur Wirksamkeit gebracht werden kann.

Wer ein Bewußtsein von dem eigenen Volk hat, das er ja nur durch erkenntnismäßige Arbeit erlangt haben kann, der wird gegenüber den Eigentümlichkeiten des eigenen Volkes wie gegenüber denen eines anderen Volkes Liebe und Achtung empfinden. Das Wissen um die eigene Volkszugehörigkeit, die Achtung vor der "Volksseele", die Liebe zu dem "Volksgeist": all das wird es ihm gerade verbieten müssen, sich mit Farbe zu beschmieren und stöhnend herumzuhüpfen. Da können die Volkseelen gerade nicht zu Hause sein in dieser EM 2008, im Gegenteil, da werden sie erschlagen.

Der Nationalismus läßt keinen Raum für die Völker. Weder kann bei einer Fussball EM oder WM die eigene Kultur zur Geltung kommen, noch kann die andere Kultur wahrgenommen, geschweige denn geachtet werden. Waldemar Hartmann, der mit „Waldis EM-Club“ derzeit Rekordquoten für die ARD einfährt, hat gezeigt, welche Wahrnehmung der anderen Kultur man bei dieser Art der friedlichen Begegnung der Kulturen haben kann, als er schon einmal für die richtige Stimmung für das bevorstehende EM-Halbfinalspiel Deutschland-Türkei sorgte: „Sie können froh sein, wenn sie nur zwei Tore kriegen. So wie ich mir nicht von jedem Pizzabäcker habe erklären lassen wollen, wie Fußball funktioniert, nur weil Italien öfter mal Weltmeister war, möchte ich mir in Zukunft auch nicht von einem Döner-Verkäufer erklären lassen müssen, wie der Ball rollt.“