Ist Anthroposophie nur ein Adjektiv? Zur Lage der „anthroposophischen“ Medizin

16.06.2013

Erstmals erschienen in Das Goetheanum, Ausgabe 24/2013.

Am 20. April kam unsere Tochter zur Welt. Sie ist kerngesund, und wir sind überglücklich. Der Weg durch die Mechanik des ‹anthroposophischen› Krankenhauses, das wir für die Entbindung gewählt hatten, gestaltete sich jedoch als wahrer Spießrutenlauf…

Seit 1963 wird jedem Säugling unter dem wohlklingenden Namen Vitamin K ein synthetischer Stoff gespritzt, der die Blutgerinnung verstärkt – angeblich weil alle Säuglinge von Natur aus einen ‹zu› geringen Blutgerinnungswert hätten. Die Absurdität dieser Begründung liegt auf der Hand: Wenn alle Säuglinge diesen Wert haben, woran will man dann ermessen, dass er ‹zu› gering sei? Wer ist auf die Idee gekommen, die Blutgerinnung eines Erwachsenen zu Grunde zu legen, um die Natur eines Säuglings zu beurteilen?

Tatsächlich kann durch Vergabe von Vitamin K eine eventuell tödlich verlaufende Hirnblutung verhindert werden. Das betrifft etwa 30 Säuglinge pro Jahr. Deshalb erhöht man prophylaktisch bei allen 700 000 Säuglingen den Wert, um jene 30 quasi mitzunehmen. Erst nachdem 1992 eine Studie nachwies, dass Vitamin K die Wahrscheinlichkeit erhöht, an Leukämie zu erkranken, müssen Eltern gefragt werden, ob sie der Spritze zustimmen. Schulmediziner empfehlen seither eine Verabreichung in Tröpfchen-Form. Dieser Hintergrund wurde uns verschwiegen. Stattdessen warb man für die Tröpfchen-Variante der Schulmedizin als angebliche ‹anthroposophische Alternative›. Doch auch diese Variante erhöht ja den Blutgerinnungswert – und wir wollten ihn gerade nicht erhöhen!

So entschieden wir uns gegen Vitamin K. Nun begann ein seltsames Schauspiel: «Hat Ihre Tochter schon Vitamin K bekommen?» fragte eine zuvorkommende Schwester. «Nein, wir haben bereits zwei Kolleginnen und dem Arzt gesagt, dass Vitamin K nicht infrage kommt». Die Schwester: « Dann sprechen Sie doch bitte mit dem Kinderarzt darüber, denn so ganz ohne geht ja auch nicht». So ging es in einem fort – dass wir klar «Nein» gesagt hatten, kam nicht an. Wir verließen das Krankenhaus schließlich früher als geplant, um den ständigen ‹Empfehlungen› dieser Art zu entkommen.

Dass wir von der Pflege begeistert waren, mildert nicht unsere Kritik an der ‹Medizin›. In dieser Hinsicht lässt sich unsere Erfahrung so zusammenfassen: Wir trafen kaum jemanden, der seine Meinung in eigener Urteilskraft begründen konnte. Stattdessen begegneten wir überall einem gewissen Herrn ‹man›. Dieser sagte immer wieder: «Man macht es heute so und so. Aber entscheiden müssen Sie selbst.» Auf dem eigentlichen Aktionsfeld war man also nicht nur außerstande, einen anthroposophischen Standpunkt zu vertreten, sondern man vertrat dort überhaupt keinen Standpunkt. Stattdessen suggerierte man überall absichtslos die Norm. Dass man den Patienten auf diese Weise mit dessen subjektiver Meinung alleine ließ, hielt ‹man› zu allem Überfluss für ein Merkmal ‹anthroposophischer› Freiheit!

Ich traue einem Menschen so weit, wie die Gründe seines Handelns in ihm selbst liegen und Ergebnis individueller Erkenntnisarbeit sind. Bemerke ich, dass ein Arzt etwas vertritt, was er gar nicht tatsächlich ‹vertritt›, sondern nur zu sagen gewohnt ist, vielleicht weil es ein Gremium hinter ihm so möchte, oder weil wirtschaftliche Interessen und rechtliche Bedenken hineinspielen, so möchte ich ihm nicht mein Kind anvertrauen. Freiheit ist somit die notwendige Voraussetzung jeder Vertrauensbildung. Dass ein Teil der uns behandelnden Ärzte – wie wir später erfuhren – die Anthroposophie ablehnt, ist also völlig in Ordnung. Nicht in Ordnung ist, diesen Ärzten eine anthroposophische Klinikleitung vor die Nase zu setzen.

Anthroposophie kann nicht standardisiert werden. ‹Anthroposophisch› wäre nämlich ein Krankenhaus, in dem zunächst der behandelnde Arzt, ob ‹Anthroposoph› oder nicht, sein eigener Herr ist, und von anderen allenfalls freilassende Ratschläge entgegenzunehmen hat. Dann kann der Patient die zu erwägende Idee zurückverfolgen zu dem Subjekt, das sie denkt, und sich in ein Verhältnis zu dessen Gründen bringen. Nur dann ist aber jenes Verhältnis von Mensch zu Mensch möglich, in dem auch Anthroposophie anwesend sein kann. Solange ich dagegen mit Instanzen rechnen muss, die hinter dem Anwesenden agieren und unabsichtlich in seinen Gedanken ausufern, ist Objektivität ausgeschlossen.

Deshalb setzte sich Rudolf Steiner gerade nicht für die ‹Freiheit› der ‹anthroposophischen› Institution ein, sondern für die Freiheit des Individuums, das heißt für die Freiheit des Lehrers in der Waldorfschule und in jeder Schule, oder die des Arztes in jedem Krankenhaus – eben für die Freiheit des einzelnen Menschen.

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