Selbstbeschränkung von Demokratie als Vertretung oder Referendum

Quelle: GA 334, S. 178-182, 1. Ausgabe 1983, 18.04.1920, Dornach

Es lebt im Inneren des Menschen ein gewisser Impuls, der ihn in einer gewissen Zeit für etwas reif macht. So ist es auch mit der ganzen Menschheit. Dasjenige, was in der ganzen Menschheit heraufgekommen ist im Laufe der letzten drei bis vier Jahrhunderte, das ist etwas, dem die Menschheit nicht entgehen kann.

Man konnte gar nicht anders innerhalb der Menschheit, als den Ruf ertönen lassen nach Demokratie. Was man auch für Ideale hingestellt hat, im äußeren sozialen Leben, das Ideal der Demokratie, das ist dasjenige, das am allermeisten die Menschheit der Gegenwart ergriffen hat, und auch ergreifen muß. Es muß dasjenige, was Staat ist, demokratisch werden, demokratisch werden im weitesten Umfange. Gerade in der Schweiz sollte man so etwas empfinden, wo man ja die alte Demokratie hat, aber wo man auch wahrnehmen wird nach und nach die Notwendigkeit, diese Demokratie von gewissen Gebieten zu entlasten.

Was heißt denn Demokratie? Demokratie heißt: die Möglichkeit, daß die Menschen in bezug auf dasjenige, was für alle gleiche Angelegenheiten sind, was für jeden mündig gewordenen Menschen Angelegenheit des Lebens ist, daß darüber die Menschen, sei es durch Referendum, sei es durch Vertretung, selber entscheiden. Das ist zuletzt das Ideal der Demokratie, das gleiche unter den Menschen in bezug auf die Entscheidungen jetzt alles desjenigen, was von mündig gewordenen Menschen gleich ist - nach diesem strebte der Staat. Aber was strebte der Staat, der sich eben im Laufe der Geschichte entwickelt hat, der aus ganz anderen Verhältnissen hervorgegangen ist, bloß an? Zwei Gebiete können niemals im Menschenleben demokratisch entschieden werden: das eine Gebiet ist dasjenige des Geisteslebens und das andere Gebiet ist dasjenige des Wirtschaftslebens. Gerade, wer es ehrlich meint mit der Demokratie, der muß sich klar darüber sein: Wenn volle Demokratie werden soll, dann muß aus dem Gebiete des bloß demokratischen Staates ausgesondert werden auf der einen Seite das Geistesleben, auf der anderen Seite das Wirtschaftsleben.

[...] Die Mittelstaaten Europas und Rußland, sie haben am eigenen Leib erfahren müssen, daß dieser Einheitsstaat nicht bestehen kann so, wie er bisher bestanden hat. Diejenigen, die noch nicht von diesem Schicksal betroffen sind, die glauben heute noch, es läßt sich abwenden. Es wird sich nicht abwenden lassen, wenn man nicht zum Rechtlichen die Idee faßt, wie aus dem menschlichen Willen heraus den Zuständen abgeholfen werden könne. Da ist es doch, wo wirklich aus reichlicher Beobachtung heraus und aus der Erwägung der geschichtlichen Verhältnisse heraus, die Idee der Dreigliederung einsetzen will. Sie sagt: Immer ehrlicher und ehrlicher müssen die Menschen im Streben nach Demokratie werden. Dann aber muß das demokratische Prinzip sich beschränken auf das bloße Staatsprinzip, in dem jeder Mensch über alles, was alle mündig gewordenen Menschen angeht, in gleicher Weise zu entscheiden hat. Wie gesagt, entweder durch Referendum oder durch Vertretung.