Heil und Elend nicht allein durch Einrichtungen

Quelle: GA 034, S. 208-211, 2. Ausgabe 1987, 10.1905

Robert Owen darf in einem gewissen Sinne als ein Genie der praktischen sozialen Wirksamkeit bezeichnet werden. Zwei Eigenschaften waren bei ihm vorhanden, welche diese Bezeichnung wohl rechtfertigen mögen: ein umsichtiger Blick für sozialnützliche Einrichtungen und eine edle Menschenliebe. Man braucht nur zu betrachten, was er durch diese beiden Fähigkeiten zustande gebracht hat, um deren ganze Bedeutung richtig zu würdigen. Er schuf in New Lanark mustervolle industrielle Einrichtungen, und beschäftigte die Arbeiter dabei in einer Weise, daß sie nicht nur ein menschenwürdiges Dasein in materieller Beziehung hatten, sondern daß sie auch innerhalb moralisch befriedigender Verhältnisse lebten. Die Personen, welche da zusammengebracht wurden, waren zum Teil herabgekommen, dem Trunk ergeben. Er stellte bessere Elemente zwischen solche ein, die durch ihr Beispiel auf die andern wirkten. Und so wurden die denkbar günstigsten Ergebnisse zustande gebracht. Was Owen da gelang, macht es unmöglich, ihn mit anderen mehr oder weniger phantastischen «Weltverbesserern» - sogenannten Utopisten - auf eine Stufe zu stellen. Er hielt sich eben im Rahmen praktisch ausführbarer Einrichtungen, von denen auch jeder aller Träumerei abgeneigte Mensch voraussetzen kann, daß sie zunächst auf einem gewissen beschränkten Gebiete das menschliche Elend aus der Welt schaffen würden. Auch ist es nicht unpraktisch gedacht, wenn man den Glauben hegt, daß solch ein kleines Gebiet als Muster wirken und von ihm allmählich eine gesunde Entwickelung des Menschenloses in sozialer Richtung angeregt werden könnte.

Owen selbst dachte wohl so. Deshalb wagte er sich auf der betretenen Bahn noch einen weiteren Schritt vorwärts. Im Jahre 1824 ging er daran, im Gebiete Indiana in Nordamerika eine Art kleinen Musterstaates zu schaffen. Er erwarb ein Landgebiet, auf dem er eine auf Freiheit und Gleichheit gebaute menschliche Gemeinschaft begründen wollte. Alle Einrichtungen wurden so getroffen, daß Ausbeutung und Knechtung Unmöglichkeit waren. Wer an eine solche Aufgabe herantritt, muß die schönsten sozialen Tugenden mitbringen: die Sehnsucht, seine Mitmenschen glücklich zu machen, und den Glauben an die Güte der Menschennatur. Er muß der Ansicht sein, daß sich ganz von selbst innerhalb dieser Menschennatur die Lust zu arbeiten entwickeln werde, wenn der Segen dieser Arbeit durch entsprechende Einrichtungen gesichert erscheint.

In Owen war dieser Glaube so stark vorhanden, daß es schon recht schlimme Erfahrungen sein mußten, die ihn in demselben wankend werden ließen.

Und - diese schlimmen Erfahrungen traten wirklich ein. Owen mußte nach langen edlen Bemühungen zu dem Bekenntnis kommen, daß «man mit der Verwirklichung solcher Kolonien stets scheitern müsse, wenn man nicht vorher die allgemeine Sitte umgewandelt; und daß es mehr wert wäre, auf die Menschheit auf dem theoretischen Wege einzuwirken, als auf dem der Praxis». - Zu solcher Meinung ist dieser Sozialreformer durch die Tatsache gedrängt worden, daß sich Arbeitsunlustige genug fanden, welche die Arbeit auf ihre Mitmenschen abladen wollten, wodurch Streit, Kampf und zuletzt der Bankerott der Kolonie folgen mußten.

Owens Erfahrung kann lehrreich sein für alle, die wirklich lernen wollen. Sie kann hinüberleiten von allen künstlich geschaffenen und künstlich ausgedachten Einrichtungen zum Heile der Menschheit zu fruchtbarer, mit der wahren Wirklichkeit rechnenden sozialen Arbeit.

Gründlich geheilt konnte Owen sein durch seine Erfahrung von dem Glauben, daß alles Menschenelend nur bewirkt werde durch die «schlechten Einrichtungen», in denen die Menschen leben, und daß die Güte der Menschennatur schon von selbst zutage treten werde, wenn man diese Einrichtungen verbessert. Er mußte sich davon überzeugen, daß gute Einrichtungen überhaupt nur aufrecht zu erhalten sind, wenn die daran beteiligten Menschen ihrer inneren Natur nach dazu geneigt sind, sie zu erhalten, wenn diese mit warmem Anteile an ihnen hängen.

Man könnte nun zunächst daran denken, es sei notwendig, die Menschen, denen man solche Einrichtungen verschaffen will, theoretisch darauf vorzubereiten. Etwa dadurch, daß man ihnen das Richtige und Zweckentsprechende der Maßnahmen klar machte. Es liegt für einen Unbefangenen gar nicht so ferne, aus Owens Bekenntnis so etwas herauszulesen. Und dennoch kann man zu einem wirklich praktischen Ergebnis nur dadurch gelangen, daß man tiefer in die Sache eindringt. Man muß von dem bloßen Glauben an die Güte der Menschennatur, der Owen getäuscht hat, zu wirklicher Menschenkenntnis vorschreiten. - Alle Klarheit, welche die Menschen jemals darüber sich aneignen könnten, daß irgendwelche Einrichtungen zweckmäßig sind und der Menschheit zum Segen gereichen können - alle solche Klarheit kann auf die Dauer nicht zum gewünschten Ziele führen. Denn durch solch eine klare Einsicht wird der Mensch nicht die inneren Antriebe zur Arbeit gewinnen können, wenn auf der anderen Seite sich bei ihm die im Egoismus begründeten Triebe geltend machen. Dieser Egoismus ist einmal zunächst ein Teil der Menschennatur.