Darwinismus stimmt eher für Mensch als für Tier

Quelle: GA 054, S. 035-036, 2. Ausgabe 1983, 12.10.1905, Berlin

Die Geistesforschung kann sich nicht in die unmittelbaren Angelegenheiten des Tages mischen. Dabei darf auch nicht der Glaube etwa aufkommen, daß die Geist-Erkenntnis etwas sein soll, das über aller Wirklichkeit in den Wolken schwebt und nichts zu tun hätte mit der Praxis des Lebens. Wir wollen weder die Ereignisse, die heute unmittelbar die Welt aufwühlen, in der Art etwa, wie man die Tagesereignisse behandelt, vortragen, noch wollen wir zu denen gehören, welche blind und taub sein möchten gegen dasjenige, was unmittelbar das menschliche Herz bewegt, was uns unmittelbar angeht. Zwischen diesen zwei Klippen muß ja der Geistesforscher stets den Weg hindurchfinden, so daß er niemals aufgeht in den Meinungen und den Anschauungen des Alltags; auf der andern Seite darf er sich niemals in bloße leere Abstraktionen verwickeln oder Autoritäten verfallen. Öfter durfte ich es von dieser Stelle aus sagen: Praktisch, unmittelbar praktisch, viel praktischer, als gewöhnlich die Tagespraktiker meinen, soll uns die Geisteswissenschaft machen. Aber sie soll uns dadurch praktisch machen, daß sie uns hineinführt in die tieferliegenden Kräfte des Lebens und uns über die Sachen aufklärt von diesen tieferliegenden Kräften aus, daß sie unser Handeln im Einklang mit den großen Weltgesetzen lenkt. Denn allein dann kann man in der Welt etwas erreichen, kann man in das Getriebe der Welt eingreifen, wenn man das im Sinne der großen Weltgesetze macht.

Nach dieser Voraussetzung lassen Sie mich zunächst auf ein paar Tatsachen hinweisen, die uns einzig und allein die Wichtigkeit unserer heutigen Fragen und, ich möchte sagen, die Aktualität derselben ins Gedächtnis rufen sollen.

Die eine Tatsache, die jedem vielleicht in Erinnerung ist, ist die, daß am 24. August 1898 der Bevollmächtigte des Zaren den in Petersburg akkreditierten auswärtigen Vertretern ein Rundschreiben übersandte, in dem unter anderem die folgenden Worte sich finden: «Die Aufrechterhaltung des allgemeinen Friedens und eine mögliche Herabsetzung der übermäßigen Rüstungen, welche auf allen Nationen lasten, stellen sich in der gegenwärtigen Lage der ganzen Welt als ein Ideal dar, auf das die Bemühungen aller Regierungen gerichtet sein müßten.

Das humane und hochherzige Streben Sr. Majestät des Kaisers, meines erhabenen Herrn, ist ganz dieser Aufgabe gewidmet. In der Überzeugung, daß dieses erhabene Endziel den wesentlichsten Interessen und den berechtigten Wünschen aller Mächte entspricht, glaubt die kaiserliche Regierung, daß der gegenwärtige Augenblick äußerst günstig dazu sei, auf dem Wege internationaler Beratung die wirksamsten Mittel zu suchen, um allen Völkern die Wohltaten wahren und dauernden Friedens zu sichern und vor allem der fortschreitenden Entwickelung der gegenwärtigen Rüstungen ein Ziel zu setzen.»

In diesem Schriftstück finden sich ferner die folgenden Worte: «Da die finanziellen Lasten eine steigende Richtung verfolgen und die Volkswohlfahrt an ihrer Wurzel treffen, so werden die Arbeit und das Kapital zum großen Teile von ihrer natürlichen Bestimmung abgelenkt und in unproduktiver Weise aufgezehrt. Hunderte von Millionen werden aufgewendet, um furchtbare Zerstörungsmaschinen zu beschaffen, die heute als das letzte Wort der Wissenschaft betrachtet werden und schon morgen dazu verurteilt sind, jeden Wert zu verlieren infolge irgendeiner neuen Entdeckung auf diesem Gebiete ...

Daher entsprechen in dem Maße, wie die Rüstungen einer jeden Macht anwachsen, diese immer weniger und weniger dem Zweck, den sich die betreffende Regierung gesetzt hat.» Das Schriftstück schließt damit, daß eine Konferenz mit Gottes Hilfe ein günstiges Vorzeichen des kommenden Jahrhunderts sein soll. - Zweifellos entspringt dieses Manifest einem Vorsatz. Wie dieser Vorsatz hat in Erfüllung gehen können, das lehren uns die neuesten Ereignisse. Dieser Vorsatz ist nicht gerade neu, denn wir können sogar Jahrhunderte weit zurückgehen, und da treffen wir im 16., 17, Jahrhundert einen Fürsten, Heinrich IV. von Frankreich, der dazumal die Idee zu einer solchen allgemeinen Friedenskonferenz anregte. Sieben von den damaligen sechzehn Ländern waren gewonnen, als Heinrich IV. ermordet wurde. Sein Werk hat niemand fortgesetzt. Wahrscheinlich könnten wir wohl, wenn es darum zu tun wäre, die Vorsätze zu diesem Zweck, die von diesen Stellen ausfließen, noch viel weiter zurückverfolgen.

Dies ist die eine Tatsachenreihe. Die andere ist diese: Die Haager Friedenskonferenz fand statt. Sie alle kennen den Namen der verdienstvollen Persönlichkeit, welche ihr Ideal mit einer seltenen Hingebung und auch mit einer seltenen Sachkenntnis verfolgt, den Namen Bertha von Suttner. Ein Jahr nach der Haager Friedenskonferenz suchte sie die Akten zu sammeln zu einem Buche, in dem sie die zum Teil schönen und herrlichen Reden verzeichnete. Dem Buche schickte sie eine Vorrede voraus. Ich bitte zu berücksichtigen, es war ein Jahr vergangen, nachdem Bertha von Suttner auf dieses Werk der Friedenskonferenz hat sehen können. Die Folgen ahnte sie schon, nachdem ein Jahr vergangen war.

Im diametralen Gegensatz dazu hatten wir inzwischen den blutigen Transvaalkrieg mit abgelehnter Vermittlung, und heute haben wir wieder Krieg. Wenn wir uns heute ein wenig umsehen in der Welt, sehen wir den Kampf sehr vieler edler Menschen um den Friedensgedanken, schon in den Herzen hochsinniger Idealisten die Liebe zu einem allgemeinen Weltfrieden, und doch ist auf der andern Seite in andern Zeiten auf unserem Erdenkreis kaum so viel Blut geflossen wie jetzt. Es ist dies eine ernste, sehr ernste Angelegenheit für jeden, der sich auch mit den großen seelischen Fragen beschäftigt.

Einerseits haben wir die hingebenden Friedensapostel in ihrer regsamen Tätigkeit. Wir haben die ausgezeichneten Leistungen der Bertha von Suttner, welche mit seltener Größe alle Furchtbarkeiten des Kampfes und des Krieges hinzustellen verstand; aber vergessen wir nicht, daß wir auch die Kehrseite haben. Vergessen wir nicht, daß auch sehr viele unter unseren urteilsfähigen Menschen sind, die auf der andern Seite uns immer und immer wieder versichern, daß sie den Kampf für nötig halten gerade zum Fortschritt, als etwas, was die Kräfte stählt. Nur im Kampf gegen den Widerstand wüchsen die Kräfte. Der Forscher, der so viele Denker an sich herangezogen hat, wie oft hat er es ausgesprochen, daß er den starken Krieg wünscht und daß nur der starke Krieg die Kräfte in der Natur vorwärtsbringen kann. Vielleicht hat er das nicht in so radikalen Worten ausgesprochen, aber so denken dennoch viele. Selbst innerhalb unserer geisteswissenschaftlichen Bewegung sind Stimmen laut geworden, daß es eine Schwäche, geradezu eine Versündigung wäre am Geist der nationalen Stärke, wenn man etwas gegen den Krieg, der zur nationalen Ehre, zur nationalen Macht geführt hat, einwende. Jedenfalls stehen sich heute die Ansichten auf diesem Gebiete noch immer schroff, sehr schroff gegenüber. Aber die Haager Friedenskonferenz hat eines gebracht.

Sie hat die Stimmen gebracht einer Reihe von Leuten, welche an der Spitze der Führung der öffentlichen Angelegenheiten stehen. Eine große Reihe der Repräsentanten der Staaten hat dazumal ihre Zustimmung dazu gegeben, daß die Haager Konferenz stattfinden konnte. Man sollte glauben, daß eine Sache, die eine solche Zustimmung von solchen Stellen gefunden hat, im eminentesten Sinne aussichtsvoll sein müßte.

Nun, um wirklich Stellung nehmen zu können in der Weise, wie eine spirituelle Welt- und Lebensanschauung Stellung nehmen läßt, müssen wir etwas tiefer in die ganzen Dinge hineinsehen. Wenn wir die Frage des Friedens als eine ideale Frage verfolgen, wie sie sich im Laufe der Zeit entwickelt hat, und daneben die Tatsachen des Kampfes und Streites verfolgen, so müssen wir doch wohl sagen, daß vielleicht die Art und Weise, wie dieses Ideal eines allgemeinen Friedens verfolgt wird, die Aufmerksamkeit und eine Untersuchung herausfordert. Viele von denen, die das Kriegshandwerk geführt haben, sind es selbst, in deren Herzen Schmerz und vielleicht sogar Abscheu vor den Folgen und Wirkungen des Krieges vorhanden ist. Solche Dinge legen uns wohl die Frage in den Mund: Kommen denn die Kriege überhaupt von irgend etwas, das sich durch Grundsätze und Ansichten aus der Welt schaffen läßt? Wer tiefer in die Seelen der Menschen hineinsieht, der weiß, daß zwei getrennte, ganz verschiedene Wege dasjenige hervorrufen, was zum Kriege führt. Das eine ist das, was wir Urteilskraft und Verstand, was wir Idealismus nennen, das andere ist die menschliche Begierde, die menschlichen Neigungen, die menschlichen Sympathien und Antipathien. Manches wäre anders in der Welt, wenn es ohne weiteres möglich wäre, die Begierden, Wünsche und Leidenschaften nach den Grundsätzen des Herzens und Verstandes zu regeln. Das ist nämlich nicht möglich, sondern das Umgekehrte ist bis jetzt in der Menschheit immer dagewesen.

Was die Leidenschaft will, was die Begierde verlangt, dazu schafft der Verstand, dazu schafft selbst das Herz eine Maske mit seinem Idealismus. Und wenn Sie die Geschichte der menschlichen Entwickelung verfolgen, dann können Sie immer und immer wieder die Frage stellen, wenn Sie da und dort Grundsätze, da oder dort Idealismus aufleuchten sehen: Welche Begierden und Leidenschaften lauern im Hintergrunde? Wenn wir dieses bedenken, dann könnte es gar wohl sein, daß man mit den schönsten Grundsätzen gerade heute noch nichts anfangen könnte in dieser Frage, dann könnte es sein, daß etwas anderes notwendig ist, weil einfach die menschlichen Leidenschaften, Triebe und Begierden noch nicht weit genug sind, um dem Idealismus des Einzelnen zu folgen. Sie sehen, die Frage liegt tiefer, und wir müssen sie auch tiefer erfassen. Wir müssen wirklich einen Blick in die menschliche Seele und ihre Grundkräfte hinein tun, wenn wir die ganze Sache richtig beurteilen wollen. Der Mensch sieht nicht immer genug von seinem Entwickelungsgang, der Mensch sieht oft nur eine kleine Spanne Zeit, und da muß eine weitgehende Weltanschauung uns den Blick eröffnen, der auf der einen Seite tief hineinführt und uns auf der andern Seite die größeren Zeiträume überblicken läßt, damit wir über die Kräfte ein Urteil bekommen die uns in die Zukunft hineinführen sollen.

Sehen wir uns einmal die menschliche Seele an, da, wo wir sie vielleicht in einem Punkte tief und gründlich studieren können. Da haben wir heute etwas, was wir vor acht Tagen berühren konnten, von einer andern Seite her. Da haben wir eine naturwissenschaftliche Theorie, den sogenannten Darwinismus. Innerhalb dieser naturwissenschaftlichen Ansicht spielt ein Begriff eine große Rolle. Und dieser Begriff heißt: Kampf ums Dasein.

Unter dem Zeichen des Kampfes ums Dasein stand jahrzehntelang unsere gesamte Naturwissenschaft, unsere ganze Anschauung. Da sagten ja die Naturforscher so: Diejenigen Wesenheiten in der Welt, welche im Kampfe ums Dasein am besten sich erhalten, die am meisten Vorsprung gewinnen über ihre Mitgeschöpfe, die bleiben, die andern vergehen. So daß wir uns nicht zu wundern brauchen, wenn diejenigen Wesenheiten, die wir um uns herum haben, die am besten angepaßten sind, denn sie haben sich durch Jahrmillionen hindurch herausgebildet. Die Tüchtigsten sind übriggeblieben, die Untüchtigen sind untergegangen.

Der Kampf ums Dasein ist die Losung der Forschung geworden. Und woraus ist dieser Kampf da hineingekommen? Nicht aus der Natur ist er gekommen. Darwin selbst, obgleich er ihn in größerem Stile betrachtet als seine Nachfolger, hat ihn von einer über die Menschengeschichte sich verbreitenden Anschauung des Malthus genommen, jener Anschauung, daß die Erde in einer solchen Progression Nahrungsmittel hervorbringt, daß diese Zunahme in viel geringerem Maße steigt als die Zunahme der Bevölkerung. Diejenigen, welche sich mit diesen Dingen beschäftigt haben, werden wissen, daß man sagt: Die Zunahme der Nahrungsmittel steigt im arithmetischen, die Zunahme der Bevölkerung im geometrischen Verhältnis. Das bedingt einen Kampf ums Dasein, einen Krieg aller gegen alle. - Davon ausgehend, hat Darwin auch am Ausgange der Natur den Kampf ums Dasein angenommen. Und diese Anschauung entspricht nicht einer bloßen Idee, sondern den modernen Lebensgestaltungen. Bis in die Verhältnisse des Einzelnen ist in der Form der allgemeinen wirtschaftlichen Konkurrenz dieser Kampf ums Dasein zur tatsächlichen Wirklichkeit geworden. Man hat diesen Daseinskampf in nächster Nähe gesehen, man hat ihn für etwas Natürliches im Menschenreich gehalten und dann in die Naturwissenschaft aufgenommen.

Von solchen Anschauungen geht Ernst Haeckel aus, der in der kriegerischen Betätigung, im Krieg geradezu einen Kulturhebel gesehen hat. Der Kampf sei das, was stark macht, das Schwache soll untergehen, die Kultur fordere, daß das Schwache untergeht. - Die Nationalökonomie hat dann diesen Kampf wieder auf die Menschenwelt zurück angewendet. So haben wir große Theorien innerhalb unserer Nationalökonomie, innerhalb unserer sozialen Theorien, welche den Kampf ums Dasein wie etwas ganz Berechtigtes und von der menschlichen Entwickelung nicht zu Trennendes ansehen. Man ist in diesen Sachen - nicht vorurteilslos, sondern mit diesen Prinzipien - weiter zurückgegangen in die ältesten Zeiten, und da versuchte man das Leben barbarischer wilder Völkerschaften zu studieren. Man glaubte, den Menschen in seiner Kulturentwickelung belauschen zu können und glaubte, da das wildeste Kriegsprinzip zu finden. Huxley hat gesagt: Sehen wir hinaus in die Natur der Tiere, so gleicht der Kampf ums Dasein einem Gladiatorenkampf, und das ist Naturgesetz. Und sehen wir von den höheren Tieren auf die niederen und stellen wir uns ein auf den bisherigen Gang der Weltentwickelung, so belehrt uns die Tatsachenwelt überall, daß wir in einem allgemeinen Kampf ums Dasein leben.

Sie sehen, das konnte ausgesprochen werden, das konnte als allgemeines Weltgesetz vertreten werden. Wer sich klar darüber ist, daß nicht Worte auf die Lippen kommen, die nicht tief in der Menschenseele begründet sind, der wird sich sagen, daß die Gefühle, die Empfindungen, die ganze Seelenverfassung unserer Besten heute noch immer von der Anschauung ausgeht, daß Krieg, Kampf im Menschengeschlecht, ja in der ganzen Natur etwas Gesetzmäßiges ist, etwas, dem man nicht entrinnen kann.

- Sie können nun sagen: Aber die Forscher sind ja vielleicht ganz humane Menschen gewesen, die in ihrem tiefsten Idealismus den Frieden, den Ausgleich ersehnten und herbeiwünschten. Doch ihr Stand, ihre Wissenschaft hat sie überzeugt, daß dem nicht so ist, und vielleicht haben sie mit blutendem Herzen ihre Theorie hingeschrieben. - Dies wäre ein Einwand, wenn nicht zunächst etwas ganz anderes eingetreten wäre. Wir dürfen sagen, daß unter allen denen, die glaubten wissenschaftlich und nationalökonomisch zu denken, im ganzen West- und Mitteleuropa in den sechziger und siebziger Jahren die gekennzeichnete Theorie gang und gäbe war. Gang und gäbe war die Stimme, daß Krieg und Kampf ein Naturgesetz sei, dem man nicht entrinnen könne. Gründlich hatte man aufgeräumt, so glaubte man, mit der alten Auffassung von Rousseau, daß nur die menschliche Unnatur in den allgemeinen Frieden der Natur Kampf und Krieg, Gegensatz und Disharmonie hineingebracht hat. Es war ja noch am Ende des 18. Jahrhunderts diese Rousseausche Stimmung verbreitet, daß, wenn man hineinsieht in das Leben und Treiben der Natur, die noch unbeeinflußt ist von der Überkultur des Menschen, man dann überall Einklang und Friede sieht. Nur der Mensch mit seiner Willkür und seiner Kultur hat den Kampf und Streit in die Welt gebracht. - Das war noch Rousseausche Anschauung, und die Forscher versicherten uns im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts: Ja, schön wäre es, wenn es so wäre, aber es ist nicht der Fall. Die Tatsachen belehren uns in anderer Weise.

Und doch fragen wir uns einmal ernstlich: Hat das Gefühl gesprochen oder haben die Tatsachen gesprochen? Schwer könnten wir etwas einwenden, wenn die Tatsachen in dieser Weise sprächen.

Da trat im Jahre 1880 ein merkwürdiger Mann auf, ein Mann, der einen Vortrag hielt in der Naturforscherversammlung vom Jahre 1880 in St. Petersburg in Rußland, einen Vortrag, der für alle diejenigen, die sich für diese Frage gründlich interessieren, von einer großen und tiefgehenden Bedeutung ist. Dieser Mann ist der Zoologe Keßler. Er ist bald danach gestorben. Sein Vortrag handelte über das Prinzip der gegenseitigen Hilfe in der Natur. Für alle diejenigen, welche solche Dinge ernsthaft anfassen, geht von der Forschung und wissenschaftlichen Reife, welche damit angeregt wird, ein ganz neuer Zug aus. Hier wurden zum erstenmal in der neueren Zeit Tatsachen aus der ganzen Natur zusammengestellt, die beweisen, daß alle früheren Theorien über den Kampf ums Dasein mit der Wirklichkeit nicht übereinstimmen.

In diesem Vortrag finden Sie auseinandergesetzt und durch die Tatsachen bewiesen, daß die tierischen Arten, die tierischen Gruppen sich nicht entwickeln durch den Kampf ums Dasein, daß es in Wahrheit einen Kampf ums Dasein nur ausnahmsweise zwischen zwei Arten gibt, nicht aber in der Art selbst, deren Individuen sich im Gegenteil Hilfe leisten, und daß die Arten am dauerhaftesten sind, deren Individuen am meisten veranlagt sind zu solcher gegenseitigen Hilfe. Nicht Kampf, sondern gegenseitige Hilfe gewährt lange Existenz. Dadurch war ein neuer Gesichtspunkt erreicht. Nur hat es die moderne Forschung zuwege gebracht, daß durch eine merkwürdige Verkettung von Umständen eine Persönlichkeit, die für die Gegenwart auf dem unglaublichsten Standpunkt steht, Fürst Kropotkin, die Sache weitergeführt hat. Er hat bei Tieren und Stämmen an einer Unsumme von festgelegten Tatsachen zeigen können, welche Bedeutung in der Natur und im Menschenleben dieses Prinzip der gegenseitigen Hilfe hat. Ich kann jedem empfehlen, dieses auch in deutscher Übersetzung vorliegende Buch, übersetzt von Gustav Landauer, zu studieren.

Dieses Buch bringt eine Summe von Begriffen und Vorstellungen in den Menschen hinein, die eine Schule sind für den Aufstieg zu einer spirituellen Gesinnung. Nun verstehen wir aber diese Tatsachen erst dann richtig, wenn wir sie im Sinne der sogenannten esoterischen Anschauung beleuchten, wenn wir diese Tatsachen mit den Grundlagen der Geisteswissenschaft durchdringen. Ich könnte ja schon deutlich sprechende Beispiele vorführen, allein Sie können sie in dem angeführten Buche lesen. Das Prinzip der gegenseitigen Hilfeleistung in der Natur ist: Diejenigen kommen am weitesten, die dieses Prinzip am meisten ausgeprägt haben. - Die Tatsachen sprechen also deutlich und werden immer deutlicher für uns sprechen. In der geisteswissenschaftlichen Anschauung sprechen wir, wenn wir von einer einzelnen Tierart sprechen, genau so, wie wir von einem einzelnen Menschen, von der einzelnen Individualität eines Menschen sprechen. Eine Tierart ist uns dasselbe auf niederem Gebiete, was auf höherem Gebiete das einzelne menschliche Individuum ist. Ich habe es schon einmal hier gesagt: Eine Tatsache muß man sich so recht klar vor Augen führen, um zu verstehen, in welchem Gegensatz der Mensch gegenüber dem ganzen Tierreich ist. Dieser Gegensatz drückt sich in dem Ausspruche aus: Der Mensch hat eine Biographie, das Tier hat keine Biographie. Beim Tiere sind wir zufrieden, wenn wir die Gattung beschrieben haben. Beim Menschen sagen wir: Vater, Großvater, Enkel, Sohn; beim Löwen unterscheidet sich das nicht so, daß wir jeden einzelnen besonders beschreiben sollten. Gewiß, ich weiß, daß da viel eingewendet werden kann; ich weiß, daß der, welcher einen Hund oder einen Affen liebt, glaubt, eine Biographie des Hundes oder des Affen schreiben zu können. Eine Biographie soll aber nicht enthalten, was der andere von dem Wesen wissen kann, sondern das, was das Wesen selbst gewußt hat. Selbstbewußtsein gehört zu einer Biographie, und in diesem Sinne hat nur der Mensch eine Biographie.

Diese entspricht dem, was beim Tiere eine Beschreibung der ganzen Gattung oder Art ist. Daß jede Tiergruppe eine Gruppenseele hat, ist der äußere Ausdruck für die Tatsache, daß jeder individuelle Mensch eine Seele in sich trägt.

Ich habe es auch hier schon auseinandersetzen dürfen, daß unmittelbar mit unserer physischen Welt eine verborgene Welt verbunden ist, die astrale Welt, die nicht aus solchen Gegenständen und Wesenheiten besteht, die man mit den Sinnen wahrnehmen kann, sondern die aus dem Stoff gewoben ist, aus dem unsere Leidenschaften und Begierden gewoben sind. Wenn Sie den Menschen prüfen, so können Sie sehen: er hat seine Seele bis herunter auf den physischen Plan oder auf die physische Welt geführt. Auf dieser physischen Welt gibt es keine individuelle Seele für das Tier. Sie finden aber für das Tier eine individuelle Seele, die auf dem sogenannten Astralplan ist, auf der hinter unserer Physischen Welt verborgenen astralen Welt. Die Tiergruppen haben individuelle Seelen in der astralen Welt. Da haben wir den Unterschied zwischen dem Menschen und dem Tierreiche. Wenn wir uns nun fragen: Was kämpft denn in Wahrheit, wenn wir im Tierreiche den Kampf ums Dasein verfolgen? - dann müssen wir sagen: Die Wahrheit ist, daß hinter diesem Kampf, der zwischen den Arten im Tierreich ausgefochten wird, der astrale Kampf der seelischen Leidenschaften und Begierden steht, der in den Gattungs- oder Gruppenseelen wurzelt. - Würde aber innerhalb der Gattung im Tierreich von einem Daseinskampf die Rede sein, dann wäre das so, als wenn sich im Menschen die eigene Seele in ihren verschiedenen Teilen bekämpfen würde. Dies ist eine wichtige Wahrheit. Es kann die Regel nicht sein, daß innerhalb einer tierischen Art der Kampf ist, sondern es kann nur zwischen den Arten der Daseinskampf stattfinden.

Denn die Seele der ganzen Art ist eine einheitliche, und weil sie einheitlich ist, muß sie die Teile beherrschen. Es ist die gegenseitige Hilfeleistung innerhalb der Tierwelt, die wir bei den Arten verfolgen können, einfach der Ausdruck der einheitlichen Tätigkeit der Art oder der Gruppenseele. Und wenn Sie hinblicken auf alle diese Beispiele, die Sie in dem erwähnten interessanten Buche angeführt finden, dann bekommen Sie eine schöne Einsicht in die Art und Weise, wie die Gruppenseelen wirken. Zum Beispiel, wenn ein Individuum einer gewissen Krebsart durch Zufall auf den Rükken geworfen wird, so daß es nicht selbst wieder aufstehen kann, daß dann eine größere Anzahl von in der Nähe befindlichen Tieren herbeikommt und dem Tiere aufhilft. Diese gegenseitige Unterstützung kommt aus einem gemeinschaftlichen Seelenorgan der Tiere heraus. Und verfolgen Sie einmal die Art und Weise, wie Käfer sich unterstützen, um eine gemeinschaftliche Brut zu pflegen oder zu schützen, um eine tote Maus zu bewältigen und so weiter, wie sie sich da verbinden, sich unterstützen, gemeinschaftliche Arbeit ausführen, dann sehen Sie die Gruppenseele an der Arbeit. Das können Sie bis herein in die höchsten Tierarten verfolgen. Es ist wahr, wer einen Sinn hat für dieses Treiben in der gegenseitigen Hilfeleistung bei den Tieren, der bekommt nach und nach auch einen Einblick, einen Begriff, eine Ahnung von dem Treiben der Gruppenseelen. Und gerade da kann er sich das Sehen mit den Augen des Geistes aneignen. Da wird das Auge sonnenhaft.

Beim Menschen nun haben wir es zu tun mit einer individuell gewordenen Gruppenseele. In jedem einzelnen Menschen wohnt eine solche Gruppenseele. Und so ist es für den Menschen, wie es für die verschiedenen Tiergattungen ist, in der Tat möglich, daß er als einzelner in einen Kampf eintritt gegen jeden einzelnen andern.

Nun aber sehen wir uns einmal den Zweck des Kampfes an, ob der Kampf um des Kampfes willen in der Weltenentwickelung da ist. Was ist denn geworden aus dem Kampf der Arten? Es sind diejenigen Arten übrig, welche sich am meisten gegenseitig unterstützen, und diejenigen, welche unter sich am kriegerischsten sind, die sind zugrunde gegangen. So lautet das Naturgesetz. Daher müssen wir sagen, daß in der äußeren Natur der Fortschritt in der Entwickelung darin besteht, daß an die Stelle des Kampfes der Friede tritt. Da wo die Natur an einem bestimmten Punkte, an dem großen Wendepunkte angelangt ist, da herrscht in der Tat der Ausgleich; der Friede, zu dem sich der ganze Kampf durchgebildet hat, ist vorhanden. Bedenken Sie doch einmal, daß Pflanzen untereinander als Arten einen Daseinskampf führen. Aber bedenken Sie, wie schön und großartig sich das Pflanzenund das Tierreich in ihrem gemeinschaftlichen Entwickelungsprozeß gegenseitig unterstützen: Das Tier atmet Sauerstoff ein und Stickstoff aus, die Pflanze atmet Sauerstoff aus und Stickstoff ein. So ist ein Friede des Universums möglich.

Was die Natur auf diese Weise durch ihre Kraft hervorbringt, es ist für den Menschen bestimmt, daß er es bewußt aus seiner individuellen Natur hervorbringe. Stufenweise ist der Mensch fortgeschritten und stufenweise hat sich bei ihm dasjenige gebildet, was wir als das Selbstbewußtsein unserer individuellen Seele erkennen. Unsere Weltlage müssen wir so betrachten, daß wir sie herausentwickelt denken und dann ihre Tendenz nach der Zukunft hin verfolgen. Gehen Sie zurück in frühere Zeiten, dann sehen Sie im Menschenreiche bei seinem Aufgange noch Gruppenseelen walten, die in kleinen Stämmen und Familien vorhanden sind; da haben wir es also auch beim Menschen mit Gruppenseelen zu tun.

Je weiter Sie in der Welt zurückblicken, desto kompakter, desto einheitlicher erscheinen Ihnen die Menschen, die so zusammengefaßt sind. Wie ein Geist ist es, der die alte Dorfgemeinde durchdrang, die dann zum primitiven Staate wurde. Sie könnten studieren, wie es noch etwas anderes war, als Alexander der Große seine Massen in den Krieg führte, als wenn heute Menschenmassen mit ihren viel ausgebildeteren individuellen Willen in einen Krieg geführt werden. Das muß man richtig beleuchten. Denn das ist der Gang der fortschreitenden Kultur, daß die Menschen immer individueller, selbständiger und bewußter werden, selbstbewußter. Aus Gruppen, aus Gemeinsamkeiten hat sich das Menschengeschlecht herausgebildet. Und geradeso wie wir Gruppenseelen haben, welche die einzelnen Tierarten leiten und lenken, so waren die Völker geleitet und gelenkt von den großen Gruppenseelen. Immer mehr und mehr entwächst der Mensch durch seine fortschreitende Erziehung der Lenkung der Gruppenseele und wird immer selbständiger und selbständiger. Diese Selbständigkeit brachte ihn dahin, daß er, während er früher doch in den Gruppen nur mehr oder weniger feindlich seinem Nebenmenschen entgegengetreten ist, er heute tatsächlich in einem die ganze Menschheit durchdringenden Daseinskampf mitten drinnensteht. Das ist unsere Weltlage, und diese ist das Schicksal insbesondere unserer Rasse, das heißt unserer unmittelbaren Gegenwart.

In der Geisteswissenschaft unterscheiden wir in der gegenwärtigen Weltenentwickelung zunächst fünf aufeinanderfolgende große Rassen, dann sogenannte Unterrassen. Die erste Unterrasse wurde entwickelt in uralten Zeiten, im fernen Indien. Zunächst war diese Unterrasse durchsetzt von einer Priesterkultur. Diese Priesterkultur gab ja unserer jetzigen Rasse die ersten Impulse. Sie war herübergekommen aus der atlantischen Kultur, die auf einem Boden war, der heute den Grund des Atlantischen Ozeans bildet.

Diese Rasse gab den Ton an; dann wurde sie gefolgt von andern Unterrassen, und wir sind jetzt die fünfte. Das ist nicht eine Einteilung, die der Anthropologie oder einer Rassentheorie entlehnt ist, sondern eine solche, wie sie im sechsten Vortrage dieser Reihe näher ausgeführt werden wird. Die fünfte Rasse ist die, welche den Menschen am weitesten gebracht hat in seinem Sondersein, in seinem individuellen Bewußtsein. Das Christentum hat den Menschen geradezu dazu vorbereitet, ein solches Sonderbewußtsein zu erlangen: der Mensch mußte dieses Selbstbewußtsein erringen. Wenn wir zurückblicken auf die Zeit vor Christus, wo im alten Ägypten die gigantischen Pyramiden gebaut worden sind, da hat ein Heer von Sklaven Arbeiten verrichtet, von deren Schwierigkeiten und Mühen heute sich kein Mensch mehr eine richtige Vorstellung macht. Aber mit Selbstverständlichkeit und einem ungeheuren Frieden haben zu der weitaus größten Zeit diese Arbeiter gerade gebaut. Sie haben gebaut, weil in jener Zeit die Lehre von Reinkarnation und Karma eine Selbstverständlichkeit war. Das sagt Ihnen kein Buch, aber das wird Ihnen, wenn Sie in die Geisteswissenschaft eindringen, allmählich ganz klar. Jeder Sklave, der da seine Hände wundarbeitete und in Not und Elend war, der wußte für sich genau: Das ist ein Leben unter vielen, und ich habe das, was ich jetzt erleide, als Folge dessen zu tragen, was ich in den früheren Leben mir vorbereitet habe! Wenn das aber nicht der Fall ist, so werde ich in einem künftigen Leben die Wirkung dieses meines jetzigen Lebens erfahren; der, welcher mir heute befiehlt, ist auf demselben Standpunkte gewesen, wie ich es heute bin, oder er wird es noch sein.

Unter dieser Gesinnung aber wäre niemals das ganze selbstbewußte Erdenleben zur Entfaltung gekommen, und die hohen Mächte, welche das Schicksal des Menschengeschlechts im Großen leiten, wußten, was sie taten, als sie eine Zeitlang, durch Jahrtausende hindurch, das Bewußtsein von Reinkarnation und Karma schwinden ließen. Das war die große bisherige Entwickelung des Christentums, daß es verschwinden gemacht hat das Hinaufsehen, das Hinaufblicken zu einem jenseits, das ausgleichend wirken soll, und aufmerksam gemacht hat auf die ungeheure Wichtigkeit des Diesseits.

Mag es ja in seiner radikalen Ausführung zu weit gegangen sein, aber das mußte geschehen, denn die Dinge der Welt entwickeln sich nicht nach der Logik, sondern nach andern Gesetzen. Man hat von diesem Erdenleben eine Ewigkeit von Strafen abgeleitet; die Entwickelungstendenz hat dazu geführt, wenn es auch ungereimt ist. So hat die Menschheit gelernt, sich bewußt zu sein dieser einen Erdenexistenz. Dadurch wurde die Erde, dieser physische Plan, dem Menschen unendlich wichtig. Und es mußte so werden, es mußte so kommen. Alles, was heute geschieht, was den Erdkreis in materieller Beziehung erobert hat, alles das konnte sich nur entwickeln aus einer Gesinnung heraus, welche auf einer Erziehung fußt für diese Erde, abgesehen von dem Gedanken von Reinkarnation und Karma. So sehen wir die Folge dieser Erziehung: das vollständige Herableben des Menschen auf den physischen Plan. Denn da nur konnte sich die individuelle Seele entwickeln, da ist sie abgesondert, eingeschlossen in diesen Leib und kann nur herausschauen als ein abgeschlossenes Sonderdasein durch seine Sinne. Damit haben wir immer mehr und mehr von menschlicher Konkurrenz, immer mehr und mehr von der Wirkung des Sonderdaseins hineingebracht in das Menschengeschlecht. Wir dürfen uns nicht wundern, wenn das Menschengeschlecht heute noch lange nicht reif sein kann, um das, was heranerzogen werden mußte, wiederum auszuschalten.

Wir haben ja gesehen, daß die gegenwärtigen Arten der Tiere durch ihre gegenseitige Hilfe zu ihrer Vollkommenheit sich entwickelt haben, und daß der Kampf nur von Art zu Art gewaltet hat. Wenn aber die menschliche Individualität dasselbe ist wie die Gruppenseele der Tiere, dann wird die menschliche Seele zu einem Selbstbewußtsein nur kommen können, indem sie denselben Kampf durchmacht wie die Tiere draußen in der Natur. Solange der Mensch noch nicht die Selbständigkeit ganz herausentfaltet hat, solange wird der Kampf noch dauern. Aber der Mensch ist dazu berufen, in bewußter Weise das zu erreichen, was draußen auf dem physischen Plane da ist. Daher wird es ihn führen auf den Bewußtseinsstufen seines Reiches zu gegenseitiger Hilfe und Unterstützung, weil das Menschengeschlecht eine einzige Art ist. Und die Kampflosigkeit, wie sie im Tierreich zu finden ist, muß in bezug auf das ganze Menschengeschlecht erst erreicht werden: ein vollständiger, allumfassender Friede. Nicht der Kampf hat die einzelne Tierart groß gemacht, sondern die gegenseitige Hilfe und Unterstützung. Dasjenige, was als Gruppenseele in der Tierart als einzelne Seele lebt, das ist friedlich mit sich selbst, das ist die einheitliche Seele. Nur die menschliche individuelle Seele ist in diesem physischen Sondersein eine besondere.

Das ist die große Errungenschaft für unsere Seele, die wir aus der spirituellen Entwickelung uns aneignen, daß wir in Wahrheit erkennen die gemeinschaftliche Seele, welche das ganze Menschengeschlecht durchzieht, die Einheit in der ganzen Menschheit, die wir nicht als unbewußtes Geschenk empfangen, sondern die wir uns bewußt erringen müssen. Diese einheitliche Seele im ganzen Menschengeschlecht wahrhaft und wirklich zu entwickeln, das ist die Aufgabe der geisteswissenschaftlichen Weltanschauung.

Das spricht sich in unserem ersten Grundsatz aus: einen Bruderbund zu gründen über die ganze Erde hin, ohne Rücksicht auf Rasse, Geschlecht, Farbe und so weiter. Das ist die Anerkennung der Seele, die der ganzen Menschheit gemeinsam ist. Bis in die Leidenschaften hinein muß die Läuterung stattfinden, die es dem Menschen selbstverständlich macht, daß in seinem Bruder die gleiche Seele lebt. Im Physischen sind wir getrennt, im Seelischen sind wir eine Einheit als Ich des Menschengeschlechtes. Aber nur im wahren wirklichen Leben können wir das erfassen und uns da hineinfinden. Daher kann es nur die Pflege spirituellen Lebens sein, welche uns durchdringt mit dem gemeinschaftlichen Hauch dieser einheitlichen Seele. Nicht die gegenwärtigen Menschen mit ihren Grundsätzen, sondern die Zukunftsmenschen, welche immer mehr und mehr das Bewußtsein für diese Einheitsseele entwickeln, die werden es sein, die den Grund zu einem neuen Geschlecht, zu einer neuen Rasse legen, die in gegenseitiger Hilfe ganz aufgeht. Daher besagt unser erster Grundsatz etwas ganz anderes, als was sonst gewöhnlich gesagt wurde. Wir kämpfen nicht, wir bekämpfen auch nicht den Krieg oder etwas anderes, weil der Kampf überhaupt nicht zur höheren Entwickelung führt. Aus dem Kampf heraus hat sich jede Tierart als eine besondere Rasse entwickelt. überlassen Sie allen Kampf um uns herum den Bissigen, die noch nicht reif genug sind, das aufzusuchen, was die gemeinschaftliche Seele im Menschengeschlecht im spirituellen Leben aufsucht.

Eine wirkliche Friedensgesellschaft ist eine solche, die nach Geist-Erkenntnis strebt, und die wirkliche Friedensbewegung ist die geisteswissenschaftliche Strömung. Sie ist die Friedensbewegung, so wie in der Praxis einzig und allein eine Friedensbewegung sein kann, weil sie ausgeht auf das, was im Menschen lebt und der Zukunft entgegengeht.

Wie ein Zug von Osten her hat sich immer das spirituelle Leben entwickelt. Der Osten war das Gebiet, in dem das spirituelle Leben gepflegt worden ist. Und hier im Westen war das Gebiet, in dem die äußere materielle Kultur entfaltet worden ist. Daher wird auch nach dem Osten gesehen als nach einem Gebiete, wo die Menschen träumen und schlafen. Wer aber weiß, was in den Seelen jener vorgeht, die von uns Träumende oder Schlafende genannt werden, wenn sie in Welten aufsteigen, welche die westlichen Völker nicht kennen? - Nun müssen wir heraus aus unserer materiellen Kultur mit Berücksichtigung alles dessen, was in der physischen Welt um uns herum ist. Mit dem, was wir auf dem physischen Plan erobert haben, müssen wir hinauf in das Geistige, in das Spirituelle. Es ist in gewissem Maße mehr als symbolisch bedeutend, daß in England der Darwinismus noch in Huxley einen Vertreter gefunden hat, der aus seiner westlichen Anschauung heraus nötig hatte zu sagen: Die Natur zeigt uns, daß die Menschenaffen gegeneinander kämpften, und der Stärkste war es, der auf dem Plane blieb -, während vom Osten die Parole ausging: Stützung, gegenseitige Hilfe, das ist es, was die Zukunft sichert! - Wir haben eine ganz besondere Aufgabe hier in Mitteleuropa. Nichts würde es uns helfen, einseitig morgenländisch oder einseitig englisch zu sein. Wir müssen das Morgenrot des Ostens und die physische Wissenschaft des Westens zu einer großen Harmonie vereinigen. Dann werden wir verstehen, wie vereinigt wird die Idee der Zukunft mit der Idee des Kampfes um das Sonderdasein.

Es ist mehr als zufällig, daß in jenem Grundbuch der Theosophie, demjenigen Buch, aus dem der, welcher sich tiefer einlassen will auf das spirituelle Leben, Licht auf dem Wege finden kann, das zweite Kapitel bedeutsam mit einem Satz schließt, der mit dieser Idee zusammenfällt.

Nicht wie eine Phrase steht es hier in «Licht auf den Weg», sondern weil die Entwickelung zum Geist den Menschen dahin führen wird, wo die Menschen erkennen werden, daß mit der gemeinsamen Seele, die sich hineinlebt in die einzelne Menschenseele, die in ihr auflebt und aufleuchtet, zu gleicher Zeit die schönen Worte zusammenstimmen, womit die beiden Kapitel in «Licht auf den Weg» schließen. Derjenige, der sich ganz hineinvertieft in dieses herrliche Büchelchen, das die Seele nicht nur mit dem Inhalt erfüllt, der uns innerlich fromm und gut macht und auch nach und nach dem Menschen durch die Kraft der Worte wirkliches Hellsehen gibt, er sieht den Ausgleich im einzelnen, wenn er das durchlebt hat, was in jedem Kapitel steht. Und dann senken sich auf und in die Seele die letzten Worte: «Der Friede sei mit dir.» Das wird sich am Schlusse der ganzen Menschheit mitteilen durch dasjenige, was wir als Geisteskraft hegen und pflegen. Dann senkt sich spirituell der Menschengenius über das Menschengeschlecht, dessen hauptsächliche Worte sein werden: Der Friede sei mit dir. - Das eröffnet uns die richtige Perspektive. Da müssen wir nicht nur von Friede sprechen, uns den Frieden als Ideal hinstellen, Verträge schließen, Schiedsgerichtssprüche herbeisehnen, da müssen wir das geistige Leben, das Spirituelle pflegen, dann rufen wir in uns die Kraft hervor, die als Kraft der gegenseitigen Hilfeleistung sich über das ganze Menschengeschlecht ausgießt. Wir bekämpfen nicht, wir tun etwas anderes: Wir pflegen die Liebe, und wir wissen, daß mit diesem Pflegen der Liebe der Kampf verschwinden muß. Wir stellen nicht Kampf gegen Kampf. Wir stellen die Liebe, indem wir sie hegen und pflegen, gegen den Kampf. Das ist etwas Positives. Wir arbeiten an uns in der Ausgießung der Liebe und begründen eine Gesellschaft, die auf Liebe gebaut ist.

Das ist unser Ideal. Dann werden wir, wenn wir das seelisch lebendig durchdringen, in einer neuen Weise, in der Weise, wie es das Christentum will, einen uralten Spruch wahrmachen. Und ein neues Christentum oder vielmehr das alte Christentum wird für die neue Menschheit erwachen. Seinem Volke hat Buddha einen Spruch gegeben, der eine solche Pflege in Aussicht nimmt. Aber eine solche Pflege der Liebe hat auch das Christentum in vielleicht noch schöneren Worten, wenn man sie richtig versteht: Nicht durch Kampf überwindet man den Kampf, nicht durch Haß überwindet man den Haß, sondern den Kampf und den Haß überwindet man in Wahrheit allein durch die Liebe.