Gleichheit vor Gott reinkarniert in Gleichheit vor Mammon

Quelle: BGA 088, S. 016-019, 2. Ausgabe 1983, 26.10.1905

Es ist nicht richtig wenn gesagt wird, daß das Elend, obwohl wir es in den schlimmsten Farben schildern können, heute größer wäre als es in früheren Jahrhunderten war. Das ist nicht der Fall. Wir würden entschieden eine Verfälschung der objektiven Wirklichkeit begehen. Versuchen Sie einmal, objektiv die Verhältnisse in der Stadt Köln von heute und vor 120 Jahren zu studieren. Sie werden sehen, daß vieles doch besser geworden ist. Und dennoch haben wir die soziale Frage. Wir haben sie, weil die Menschen noch eine andere Entwicklung durchgemacht haben, und zwar deshalb, weil sie innerlich in großem Maße zum Denken, zum Selbstbewußtsein gekommen sind und weil ihre Bedürfnisse ganz andere geworden sind. Und da werden wir, wenn wir die Frage so studieren, allerdings notwendig hingewiesen auf die großen Zusammenhänge, die dann für uns in der Weltgeschichte entstehen, wenn wir nicht, wie der moderne Forscher, zu kurzsichtig sind. Um diese Dinge zu beurteilen, ist es nötig, die großen Gesetze des Lebens kennenzulernen. Was bewirkt nun, daß das Soziale überhaupt diese Gestalt angenommen hat? Das ist die Art und Weise, die der menschliche Geist angenommen hat. Blicken Sie zurück auf die Zeit der Französischen Revolution. Anderes hat man dazumal gefordert. Eine mehr nach dem juristischen hinzielende Frage war es, die das Ideal von «Freiheit - Gleichheit - Brüderlichkeit» hervorgebracht hat. Nach Freiheit riefen die französischen Revolutionshelden im Westen Europas. Nach Brot rufen die im Osten Europas heute Kämpfenden. Es sind nur zwei verschiedene Gestalten einer und derselben Sache, zwei verschiedene Forderungen des Menschen, der gelernt hat, solche Fragen zu stellen, weil sich seine Seele gewandelt hat.

Diese Wandlung der Seele müssen wir etwas näher studieren. Wir müssen studieren und verstehen, warum die Seelen der großen Menschenmassen heute - und dieses dehnt sich über Jahrhunderte aus - zu diesen Forderungen gekommen sind. Hier tritt zuerst in praktischer Anwendung, unser Verständnis unterstützend, die theosophische Weltanschauung ein. Nur derjenige, der die Dinge versteht, vermag sie zu beurteilen. Nur der vermag in die Seele hineinzuschauen, der im großem Weltzusammenhange sieht, was in dieser Seele vorgeht. Und nur der vermag in den Seelen etwas zu bewirken und zu leiten in die Zukunft, der von den Gesetzen der Seele etwas versteht.

Eine kleine Zwischenbemerkung: Die Wissenschaften der Gegenwart, die Biologie, der Darwinismus, der Haeckellanismus, sie haben uns große Ideen gebracht. So auch die Idee, daß jegliches Lebewesen auf den ersten Stufen seines Daseins, im Keimzustande noch, die Lebensformen wiederholt, die vorher draußen in der Natur durchgemacht worden sind. Diese kurze Wiederholung der verschiedenen Lebensstadien gibt es auch in dem Wesen, das sie alle zusammenfaßt, und auf der Stufenleiter der Entwicklung höher steigt als alle anderen: im Menschen. Nehmen Sie an, ein Geist hätte ein Bewußtsein gehabt in der Zeit, als es noch keine Menschen gab, dann hätte er nicht nur wissen müssen, was schon geschehen war, sondern er hätte sich auch - im Gegensatz dazu - ein Bild machen müssen von der zukünftigen Entwicklung. Er hätte sich aus dem damaligen Tierzustande ein Bild für die Zukunft machen müssen. Nur der Mensch, der in seiner Keimanlage die vorhergehenden Gestaltungen wiederholt, kann uns zeigen, was zu tun ist. Das Tun ist es, was über alles Wissen hinausgehen muß. Kein Wissen beschäftigt sich mit etwas anderem, als mit dem, was da war. Wollen wir aber in die Zukunft hinein wirken, so müssen wir das tun, was noch nicht da war. Das zeigen uns die großen Gesetze, die in der Zukunft verwirklicht werden sollen. In einer gewissen Weise ist alles schon dagewesen, was in der Zukunft entstehen wird, nämlich durch die Intuition. Ein Geist, der damals eingegriffen hätte, hätte Intuition haben müssen, um die verborgenen Gesetze des Daseins, die für die Vergangenheit und die Zukunft gelten, herausfinden zu können. Deshalb pflegt die Theosophie die Intuition. Das ist das, was hinausreicht über die bloße physische Erfahrung der Welt. Die Theosophie sucht die Gesetze, die durch Intuition zu erkennen sind, und die uns hinleiten in die Zukunft des Menschengeschlechtes.

Eines dieser großen Weltgesetze, das uns Führer sein kann, ist das Gesetz der Reinkarnation. Zunächst macht es uns verständlich, daß auf höheren geistigen Gebieten nichts anderes gilt als das, was das Gesetz im Sinne Darwins und Haeckels angedeutet hat. Es macht uns begreiflich, warum dieses oder jenes in einem bestimmten Zeitalter als Bedürfnis empfunden wird. Wer sich da hinein vertieft, der weiß, wann das letzte Mal das nach allgemeiner Befreiung dürstende Leben vorhanden war, wann und was die Menschen in sich aufgenommen haben als Impulse, wonach sie heute rufen sollen. Die, welche heute nach Freiheit und Gleichheit rufen - ich sage das mit derselben objektiven Sicherheit, mit der der Naturwissenschaftler über das Physische gesprochen hat -, alle diejenigen Seelen, die heute nach Freiheit und Gleichheit rufen, haben das gelernt auf einer anderen Stufe ihres Daseins, in einer früheren Verkörperung. Die großen Bedürfnisse der heutigen Menschen waren in der ersten Zeit des Christentums, in der Zeit der ersten christlichen Jahrhunderte, verkörpert. Die Menschen haben alle den Drang nach Gleichheit, vor dem heute der Mensch im geistigen Leben steht, aufgenommen. Das Christentum hat die Botschaft der Gleichheit vor Gott gebracht. In früheren Jahrhunderten gab es eine solche Gleichheit nicht.

Was ich jetzt sage, das sage ich nicht in abträglicher Art, das sage ich mit derselben nüchternen Objektivität, mit der ich über irgendein naturwissenschaftliches Problem sprechen würde.

Dieselbe Seele, die einstmals in sich aufgenommen hat als einen Impuls «gleich sind sie vor Gott und vor der Menschheit», wenn man ihre eigentliche Seele betrachtet, und alles, was äußerliche Ungleichheit bedingt, hat keine Bedeutung vor dem geistigen Leben. Wenn die Grube sich über uns schließt, werden wir alle gleich sein und gleich werden. Daß das die Seele aufgenommen hat, lebt in der Seele fort und kommt heraus in einer neuen Form. Die Betrachtung der großen Welt hat gewaltig große Erziehungsperspektiven in ihren Kulturfortschritten. Schon einmal habe ich darauf aufmerksam gemacht, wie sich diese Erziehung auf der Erde ausnimmt in den vorchristlichen Zeiten. Sehen wir zurück in die Zeiten des Ägyptertums. Da war eine großen Anzahl von Menschen, die mit Arbeiten beschäftigt war, von deren Schwierigkeit sich heute ein Mensch keine Vorstellung mehr machen kann. Willig arbeiteten sie. Und warum? Weil sie wußten, daß dieses Leben eines unter vielen ist. Jeder sagte sich: Derjenige, der mir die Arbeit befiehlt, ist ein solcher wie derjenige, der ich auch einstmals sein werde. Dieses Leben muß in verschiedenen Verkörperungen ausgeglichen werden, denn es regelt sich aus diesen Erkenntnissen.

Daran schließt sich das Gesetz vom Karma an. Was ich in einem Leben erlebt habe, ist verdient, oder es wird mir in späteren Zeiten vergolten. Hätte sich das aber so fortentwickelt, dann hätte der Mensch das Erdenreich übersehen. Es wäre ihm dieses eine Leben zwischen Geburt und Tod nicht wichtig gewesen. Dazu hat dann das Christentum die Erziehungsmaßnahmen gegeben, um dieses Leben zwischen Geburt und Tod wichtig zu nehmen. Es ist nur scheinbar, wenn das Christentum davon abzweigt, denn es hat auch stark auf das Jenseits hingewiesen. Es hat sogar auf das eine Leben ewige Strafe und ewige Belohnung gesetzt. Wer glaubt, daß das eine Leben von unendlicher Wichtigkeit ist, der lernt es in diesem Leben wichtig zu nehmen. Es dreht sich um die Wahrheiten, die dem Menschen frommen, und es frommt dem Menschen, in der Idee dieses einen Erdenlebens erzogen zu werden. Das waren die zwei Aufgaben: Erziehung zum Wichtignehmen des Erdenlebens zwischen Geburt und Tod, und auf der anderen Seite dazu, daß außerhalb dieses Erdenlebens vor Gott alle gleich sind. Nur dadurch ist dieses Erdenleben ertragen worden, daß es so aufgefaßt wurde, daß vor Gott alle gleich sind. Wer das so betrachtet, der wird in der Entwicklung der Menschheit, seit der Entstehung des Christentums, ein Herabsteigen in die physische Welt beobachten. Mehr und mehr fühlt sich der Mensch dem physischen Dasein verpflichtet. Dadurch übertrug er mehr und mehr die Wichtigkeit des Satzes von der Gleichheit vor Gott auf die Gleichheit im materiellen Dasein selbst.

Das Bild ist nicht mißzuverstehen. Die Seele, die vor 1800 Jahren etwa gewohnt war, die Gleichheit für das Jenseits zu beanspruchen, die bringt den Impuls der Gleichheit mit sich, aber in bezug auf das, was heute wichtig ist: «Gleichheit vor dem Mammon».

Keine Kritik, nichts Abfälliges sehen Sie bitte darin, sondern die objektive Feststellung eines Weltgesetzes der sich entwickelnden Seele. So muß man den Gang der Zeiten studieren. Dann wird man verstehen, daß es nur eines gibt, was in dieser Seele wieder eine andere Richtung, ein Aufsteigen veranlassen kann, wenn wir die Seele, die nach Gleichheit ruft, wieder hineinbekommen in das Jenseits. Nach dem Jenseits hatten wir hinaufgeblickt, von dem Diesseits hatten wir hinausgeblickt. Heute ist die Seele durch diesen Impuls auf sich selbst zurückgewiesen. Heute sucht sie dasselbe in dem Diesseits. Soll sie wieder einen Aufstieg finden, so muß sie in dem Diesseits den Geist, das Innere finden, im Seelischen selbst. Das ist dasjenige, was die theosophische Weltbewegung erstrebt: die Seele vorzubereiten für die drei Stadien, weil sie innerlich voll des Gottes wird, voll der göttlichen Weisheit und sich deshalb wieder hineinzustellen weiß in die Welt, so daß sie wieder die Harmonie zwischen sich und der Umwelt finden wird.