Christentum als absolute Gleichheit aller Menschen

Quelle: GA 054, S. 432-433, 2. Ausgabe 1983, 29.03.1906, Berlin

Es ist vielleicht nirgends so gewaltig und grandios zum Ausdruck gekommen, was das innerste Wesen des Christentums ist, als in den Sagen, in die wir uns allmählich einleben und in denen sich die Aufgabe des Christentums innerhalb Mitteleuropas sinnbildlich abspielt: in der Lohengrin-Sage und in der Parzival-Sage.

Was hatte denn das Christentum als sein Lebenselixier? Die absolute Gleichheit aller Menschen. So wurde wenigstens das Christentum in der damaligen Zeit empfunden. Freiheit, Gleichheit gegenüber dem Höchsten, das der Mensch sich denken kann, das empfand man als das Kleinod, als die eigentliche Sendung und Mission des Christentums. Auf den Namen der Vorfahren, auf den Namen eines Stammes oder auf einen Familiennamen waren in den alten Zeiten die Vorfahren der Germanen stolz. Darauf beriefen sie sich, wenn sie sich in der Welt einen Wert zuteilen wollten. Auf das Gesetz, auf Titel und Namen beriefen sie sich in der Zeit, welche die Stammesliebe abgelöst hat. Jetzt sollten beide nicht mehr gelten, sondern nur der Mensch schlechtweg, der in seinem Innersten sich wesenhaft fühlte. Der Mensch ohne Titel, ohne Name war das christliche Ideal. Etwas Großes war damit gesagt. Das drückt sich aus in der Lohengrin- und in der Parzival-Sage.