Verhältnisse als äußere Wirkungen der inneren Seelenverfassung

Quelle: GA 054, S. 087-091, 2. Ausgabe 1983, 02.03.1908, Hamburg

Es wird viel geredet heute von allerlei Verbesserungen, Vorschlägen und Dingen, die eingerichtet werden sollen. Sie müssen von Menschen eingerichtet werden. Sollte nicht ein wenig Unterschied sein zwischen Dingen, die von Menschen eingerichtet sind, die vom Leben etwas verstehen, und von Menschen, die in einer solch grandiosen Weise zugeben, daß sie nichts verstehen? Was nützt alles Reden, wenn man nicht einsieht, daß es darauf ankommt, wer darüber redet und ob der, der darüber redet, etwas weiß. Wieviel könnte dann von dem, was durch das Leben schwirrt, vielleicht ganz leeres Geschwätz sein und wieviel könnte von dem, was leeres Geschwätz ist, gar in Wirklichkeit umgesetzt werden und Leben gewinnen? - Die Frage ist wohl berechtigt. Derjenigen aber, welche heute nachdenken über die soziale Frage, gibt es viele; viel zu viele, wenn wir die Frage ernster ins Auge fassen, wenn wir ins Auge fassen, was notwendig ist, um etwas von dieser Frage wirklich Nützliches zu verstehen. Es gibt heute eine ganze Reihe von Leuten, die sagen: In dem Augenblick, wo die Verhältnisse besser werden, wo die Verhältnisse geändert werden, da wird auch das Leben der Menschen und ihre Lage besser sein. - Wir wissen, daß vor allen Dingen die vielleicht verbreitetste, umfassendste soziale Theorie in der Gegenwart, der Sozialismus selber, sich auch auf diesen Standpunkt stellt. Wir wissen, daß er immer betont: Ach, kommt uns nicht mit allerlei Vorschlägen, wie die Menschen besser werden sollen, wie die Menschen sich verhalten sollen!

Kommt uns nicht mit allerlei sittlichen Forderungen! Worauf es ankommt, ist lediglich - das betonen sie - die Zustände zu verbessern.

Symptomatisch kann einem das entgegentreten an einem solchen Weltverbesserer, der an verschiedenen Orten Deutschlands mit seinen sozialen Theorien auftritt, der immer erzählt: Ja, da behaupten die Leute, daß die Menschen erst besser werden müßten, wenn die Zustände besser werden sollen. Aber, sagt er, alles hängt davon ab, daß die Menschheit in die richtigen Zustände hineinversetzt werde. - Und er erzählt auch, wie man da und dort einmal die Wirtshäuser eingeschränkt hat und wie dann tatsächlich in einem solchen Orte weniger Betrunkene waren, und es dadurch einer Anzahl von Leuten besser gegangen sei. Er predigt dann dem Arbeiter, daß Menschenliebe, gegenseitige Brüderlichkeit leere Phrase sei. Alles käme darauf an, solche Arbeits- und Lebensbedingungen herbeizuführen, daß ein jeglicher seine auskömmliche Existenz habe, dann würde auch der moralische Zustand über die Erde schon von selber kommen.

Nun, Sie wissen ja, daß der Sozialismus in der Ausgestaltung einer solchen Anschauung weitgehend ist. Das ist nichts anderes als eine Folge des Materialismus in unserer Zeit, des Materialismus, der nicht, wie die Geisteswissenschaft, in das Innere des Menschen zu blicken vermag und zu erkennen vermag, daß alles, was an Zuständen, insofern es für die soziale Ordnung in Betracht kommt, von Menschen geschaffen ist, die Folge ist von Menschengedanken und Menschenempfindungen, sondern der glaubt, daß der Mensch ein Produkt der äußeren Verhältnisse sei. Dieser Glaube ist im höchsten Grade lähmend für die gedeihliche Betrachtung des sozialen Lebens. [...]

Ob es der eine oder andere zugesteht, es ist die Grundüberzeugung, daß heute alles gemacht werden kann, wenn man die äußeren Verhältnisse ändert, und bei Schäden, die die Menschheit bedrohen, schnell durch ein Gesetz Abhilfe schafft. Das sind so die Grundüberzeugungen in unserer Zeit. Und wenn wir zum Beispiel immer wieder sehen, daß Gesetze damit motiviert werden, daß man sagt: Die unerfahrene Menschheit darf nicht ausgeliefert werden diesen oder jenen Leuten -, dann merkt man gar nicht, daß man eine ganz andere Aufgabe hätte, als Gesetze zu machen, daß man die unerfahrene Menschheit belehren sollte, so daß sie selbstbestimmend sein könnte für ihre Taten.

Man lenkt nicht leicht den Blick von den Zuständen auf die Menschen. Dies ist aber die Aufgabe der Geisteswissenschaft. Sie lenkt ganz ab von den Zuständen und ganz und gar hin auf die Menschen. Fragen wir uns in bezug auf alle Dinge, die als Zustände und Verhältnisse um uns herum sind: Woher kommen diese Verhältnisse und diese Zustände? - Insofern sie nicht von der Natur verhängt sind, sind sie Ergebnisse des menschlichen Empfindens und Denkens. Das, was heute Zustände sind, waren Gedanken und Willensimpulse von Menschen, die vorher gelebt haben. Und die Verhältnisse sind so, weil Menschen sie so gemacht haben. Wollen wir bessere Zustände machen, dann müssen wir vor allen Dingen mehr lernen, müssen bessere Gedanken und Empfindungen und Willensimpulse entwickeln. Wenn wir aber Umschau halten im Umkreise der Sozialtheoretiker, selbst der radikalsten, meinetwegen der Sozialdemokratie, dann sind diese Theorien zumeist gar nicht irgendwie hinausgehend über dasjenige, was die Menschen schon immer gedacht haben. Sie sind denselben Gedanken und Impulsen entsprungen, denen unsere Verhältnisse entsprungen sind und die zu unserer Lage geführt haben. Wir müssen imstande sein, Menschen zu haben, die das Leben kennen und wissen, um was es sich bei den Kräften, die hinter dem Leben stehen, handelt. [...]

Man lernt niemals den Menschen kennen, wenn man eine Weltanschauung, die nur auf das Äußere sich richtet, aufstellt. Sobald der materialistisch getrübte Blick, der sich nur auf den äußeren Menschen richtet, sobald der Mensch nicht weiß, was hinter dieser physischen Körperlichkeit sich verbirgt, und er dadurch nicht die Fähigkeit erlangt, sozusagen hinter die Kulissen zu schauen, ist er gar nicht imstande, wirklich nicht imstande, irgend etwas über die Kräfte zu verstehen, die das Leben lenken und leiten. Das ist aber gerade die Aufgabe der Geist-Erkenntnis. [...]

Verhältnisse - davon sind wir ausgegangen - werden vielfach als dasjenige angesehen, was den Menschen anders machen könnte, und man denkt abstrakt nach, wie Verhältnisse geändert werden können. Die Geisteswissenschaft hat es einzig und allein zu tun mit der realen Menschenseele, mit Verhältnissen von Mensch zu Mensch. [...]

Was ist denn eigentlich die Grundtatsache, gleichsam das Grundphänomen, von dem alles Elend, alles soziale Leid überhaupt in der Welt abhängen kann? - Diese Grundtatsache kann uns die Geist-Erkenntnis zeigen, indem sie uns vor eine, heute von der größten Zahl der Menschen gar nicht verstandene und gar nicht anerkannte Tatsache stellt. Diese Tatsache hängt zusammen mit einer Grunderscheinung aller Entwickelung. Man möchte sagen, trocken ausgesprochen, sie zeigt uns durch eine tiefere Lebensbetrachtung, daß Not, Leid und Elend nicht allein - und am allerwenigsten, wenn man auf den Grund geht - abhängt von äußeren Verhältnissen, sondern von einer gewissen Seelenverfassung und im Zusammenhang damit mit deren äußeren Wirkungen.

Der Praktiker, der sich viel gescheiter dünkt, wird das lächerlich finden. Aber es ist das Praktischste im Leben, was man nur betonen kann. Es ist der Satz, von dem Sie sich mehr und mehr überzeugen werden, daß Not, Elend und Leid nichts anderes sind als eine Folge des Egoismus. Wie ein Naturgesetz haben wir diesen Satz aufzufassen, nicht so, daß etwa bei einem einzelnen Menschen, wenn er egoistisch ist, immer Not und Leid eintreten müssen, sondern daß das Leid - vielleicht an einem ganz andern Orte - doch mit diesem Egoismus zusammenhängt. Wie Ursache und Wirkung, hängt der Egoismus mit Not und Leid zusammen. Der Egoismus führt im Menschenleben, in der sozialen Menschenordnung, zum Kampf ums Dasein. Der Kampf ums Dasein ist der eigentliche Ausgangspunkt für Not und Leid, sofern sie sozial sind.