Arbeit erst durch Weisheit und Hingabe für das Ganze wertvoll

Quelle: GA 054, S. 096-099, 2. Ausgabe 1983, 02.03.1908, Hamburg

Der Praktiker, der sich viel gescheiter dünkt, wird das lächerlich finden. Aber es ist das Praktischste im Leben, was man nur betonen kann. Es ist der Satz, von dem Sie sich mehr und mehr überzeugen werden, daß Not, Elend und Leid nichts anderes sind als eine Folge des Egoismus. Wie ein Naturgesetz haben wir diesen Satz aufzufassen, nicht so, daß etwa bei einem einzelnen Menschen, wenn er egoistisch ist, immer Not und Leid eintreten müssen, sondern daß das Leid - vielleicht an einem ganz andern Orte - doch mit diesem Egoismus zusammenhängt. Wie Ursache und Wirkung, hängt der Egoismus mit Not und Leid zusammen. Der Egoismus führt im Menschenleben, in der sozialen Menschenordnung, zum Kampf ums Dasein. Der Kampf ums Dasein ist der eigentliche Ausgangspunkt für Not und Leid, sofern sie sozial sind. Nun gibt es auf Grund unserer heutigen Denkweise eine Überzeugung, gegenüber welcher das, was jetzt behauptet ist, geradezu absurd erscheint. Warum? Weil man heute überzeugt ist, daß ein großer Teil, der weitaus größte Teil des menschlichen Lebens, auf Egoismus gebaut sein muß. Zwar mit Worten und Theorien will man es nicht zugeben, aber in der Praxis wird man es bald zugeben. Man gibt es in folgender Weise zu. Man sagt: Es ist ganz natürlich, daß der Mensch für seine Arbeit entlohnt wird, daß der Mensch den Ertrag seiner Arbeit persönlich erhält - und doch ist das nichts anderes als die Umsetzung des Egoismus in das nationalökonomische Leben. Wir leben unter Egoismus sobald wir dem Prinzip leben: Wir müßten persönlich entlohnt werden, was ich arbeite, muß mir bezahlt werden. - Die Wahrheit liegt von diesem Gedanken so weit ab, daß sie ganz unsinnig erscheint. Wer sich überzeugen will von der Wahrheit über den Egoismus, der müßte einmal intimer eingehen auf allerlei Weltengesetze. Er müßte sich einmal nachdenklich der Frage hingeben, ob denn die Arbeit, die als solche persönlich entlohnt wird, wirklich das Lebenerhaltende ist, ob es auf diese Arbeit ankommt? - Es ist sonderbar, diese Frage aufzuwerfen. Aber nicht eher, als man darüber nachdenken wird, wird man über die soziale Frage aufklären können.

Denken Sie sich - es ist dies ein paradoxer Vergleich - einen Menschen auf eine Insel versetzt. Der sollte dort allein sich versorgen. Sie werden sagen: Er muß arbeiten! - Er muß aber nicht bloß arbeiten, das ist nicht das, worauf es ankommt, sondern es muß zu seiner Arbeit etwas hinzutreten. Und wenn die Arbeit bloß Arbeit ist, dann kann sie unter Umständen für sein Leben absolut nutzlos sein. Denken Sie einmal, der Mensch auf der Insel täte gar nichts, als vierzehn Tage lang Steine werfen. Das wäre eine anstrengende Arbeit, und nach gewöhnlichen menschlichen Begriffen könnte er damit recht viel Lohn verdienen. Dennoch steht diese Arbeit mit dem Leben nicht im geringsten Zusammenhang. Arbeit ist nur dann lebenfördernd und hat Wert, wenn etwas anderes hinzukommt. Wenn diese Arbeit auf das Bearbeiten der Erde geht und die Erde das Produkt gibt, dann hat Arbeit mit dem Leben etwas zu tun. Wir sehen sogar bei niedrigen Wesen, daß Arbeit getrennt ist von der Produktion. So sehen wir eine Möglichkeit, zu dem ungeheuer wichtigen Satze zu kommen, daß Arbeit als solche gar keine Bedeutung hat für das Leben, sondern nur diejenige, die weise geleitet ist. Durch von Menschen hineingelegte Weisheit ist dasjenige hervorzubringen und zu schaffen, was dem Menschen dient. Im Kleinsten nicht verstanden, sündigt das heutige soziale Denken gegen diesen Satz. Und es kommt nicht darauf an, daß irgend jemand schöne abstrakte Theorien ausdenkt, sondern der wirkliche Fortschritt hängt davon ab, daß jeder einzelne Mensch im sozialen Sinne denken lernt. Das heutige Denken ist vielfach unsozial. Unsozial ist es zum Beispiel, wenn jemand am Sonntagnachmittag draußen ist und sagt, angeregt durch Gelegenheit: Ich werde zwanzig Ansichtskarten schreiben. - Richtig ist es und sozial gedacht, zu wissen und zu empfinden, daß diese zwanzig Karten so und so viele Briefträger veranlassen, so und so viele Treppen zu steigen. Sozial gedacht ist es, zu wissen, daß jede Handlung, die man tut, im Leben eine Wirkung hat. Nun kommt aber jemand und sagt, er denke sozial insofern, als ihm klar sei, daß durch das Kartenschreiben mehr Briefträger angestellt werden müssen und Brot bekommen. - Das ist ebenso, wie wenn man bei einer Arbeitslosigkeit aussinnt, was man bauen will, um Arbeit zu schaffen. Aber es kommt nicht darauf an, Arbeit zu schaffen, sondern darauf, daß die Arbeit der Menschen einzig und allein verwendet wird, wertvolles Gut zu schaffen.

Wenn man dies bis in die letzten Konsequenzen durchgeht, dann kommt es einem nicht mehr so absonderlich vor, wenn der uralte Satz der Geisteswissenschaft ausgesprochen wird, der heute so unverständlich wie möglich klingt: In einem sozialen Zusammenleben muß der Antrieb zur Arbeit niemals in der eigenen Persönlichkeit des Menschen liegen, sondern einzig und allein in der Hingabe für das Ganze. - Das wird auch öfter betont, aber niemals so verstanden, daß man sich klar ist, daß Elend und Not davon kommen, daß der einzelne das, was er erarbeitet, für sich entlohnt haben will. Wahr ist es aber, daß wirklicher sozialer Fortschritt nur möglich ist, wenn ich dasjenige, was ich erarbeite, im Dienste der Gesamtheit tue, und wenn die Gesamtheit mir selbst dasjenige gibt, was ich nötig habe, wenn, mit andern Worten, das, was ich arbeite, nicht für mich selber dient. Von der Anerkennung dieses Satzes, daß einer das Erträgnis seiner Arbeit nicht in Form einer persönlichen Entlohnung haben will, hängt allein der soziale Fortschritt ab. Zu ganz andern Zielen führt jemand eine Unternehmung, der da weiß, daß er nichts für sich haben soll von dem, was er erarbeitet, sondern daß er der sozialen Gemeinschaft Arbeit schuldet, und daß, umgekehrt, er nichts für sich beanspruchen soll, sondern seine Existenz einzig auf das beschränkt, was ihm die soziale Gemeinschaft schenkt. So absurd dies heute für viele ist, so wahr ist es. Unser Leben steht heute unter dem entgegengesetzten Zeichen: in dem Zeichen, daß der Mensch immer mehr beanspruchen will, wie man sagt, den vollen Ertrag seiner Arbeit. Solange das Denken sich in dieser Richtung bewegen wird, so lange wird man in immer üblere Lagen hineinkommen.