Eigentliche Liebe nur bei Vollbewußtsein

Quelle: GA 103, S. 049-059, 11. Ausgabe 1995, 20.05.1908, Hamburg

Wie wird den Kindern in der Schule schon eingetrichtert der große Fortschritt, den die Menschen gemacht haben, durch die Erfindung des Papiers zum Beispiel. Nun, die Wespen erzeugten das Papier schon viele tausend Jahre vorher; denn das, was die Wespen in ihren Nestern bauen, besteht aus genau derselben Substanz, aus der das menschliche Papier hergestellt wird, und das wird genau auf dieselbe Weise erzeugt, nur durch den Lebensprozeß. Der Wespengeist, die Gruppenseele der Wespen, die ein Teil ist der göttlich-geistigen Substanz, ist die Erfinderin des Papiers schon viel früher gewesen. So tappt der Mensch eigentlich immer hinter der Weltenweisheit nach. Im Prinzip ist alles, was der Mensch im Laufe der Erdenentwickelung erfinden wird, schon in der Natur enthalten. Was aber der Mensch wirklich der Erde geben wird, das ist die Liebe, die sich von der sinnlichsten zur vergeistigtsten Art entfalten wird. Das ist die Aufgabe der Erdenentwickelung. Die Erde ist der Kosmos der Liebe.

Was ist denn aber, so fragen wir, notwendig zur Liebe? Was gehört denn dazu, daß ein Wesen ein anderes lieben kann? Dazu ist nötig, daß dieses Wesen sein volles Selbstbewußtsein habe, ganz selbständig sei. Kein Wesen kann ein anderes im vollen Sinne lieben, wenn diese Liebe nicht eine freie Gabe ist gegenüber dein anderen Wesen. Meine Hand liebt nicht meinen Organismus. Nur ein Wesen, das selbständig ist, das losgeschnürt ist von dem anderen Wesen, kann dieses lieben. Dazu mußte der Mensch zu einem Ich-Wesen werden. Das Ich mußte der dreifachen menschlichen Leiblichkeit eingepflanzt werden, damit die Erde ihre Mission der Liebe durch den Menschen ausführen kann. Deshalb werden Sie verstehen, daß in der christlichen Esoterik gesagt wird: Ebenso, wie andere Kräfte, zuletzt die Weisheit während des Mondendaseins, von den Göttern heruntergeströmt sind, strömt die Liebe während des Erdendaseins in dieses ein; und der Träger der Liebe kann nur das selbständige Ich sein, das sich nach und nach im Laufe der Erdenentwickelung herausbildet. Aber der Mensch muß zu allem ganz langsam vorbereitet werden, auch zu der gegenwärtigen Art seines Bewußtseins. Setzen wir den Fall, gleich in der alten lemurischen Zeit würde der Mensch untergetaucht sein in seinen physischen Leib, er hätte damals schon die volle äußere Wirklichkeit gesehen. Er hätte sich dann in diesem schnellen Tempo die Liebe nicht einpflanzen können! Er mußte nach und nach erst zu seiner Erdenmission herangeführt werden. Ohne daß er schon sein volles Selbstbewußtsein hatte, ohne daß er schon so weit war, im hellen Tagesbewußtsein die Gegenstände um sich herum wahrzunehmen, wurde ihm in seinem dämmerhaften Bewußtsein unbewußt der erste Unterricht der Liebe gegeben. So sehen wir, daß während der ganzen Zeiten, während der Mensch noch ein altes, traumhaftes Hellseherbewußtsein hatte, während die Seele also lange Zeit außerhalb des Leibes war, dem Menschen in einem dämmerhaften, noch nicht selbstbewußten Zustande die Liebe eingepflanzt wird. Stellen wir ihn uns einmal so recht vor die Seele, diesen Menschen der alten Zeit, der noch nicht auf der Höhe des vollen Selbstbewußtseins angelangt ist.

Der Mensch schläft des Abends ein; aber kein schroffer Übergang vom Wachen zum Schlafen findet statt. Bilder tauchen auf, lebendige Traumbilder, die aber einen lebendigen Bezug haben zu der geistigen Welt. Das heißt, der Mensch lebte sich während des Einschlafens in die geistige Welt ein. Da träufelte ihm in das dämmerhafte Bewußtsein der göttliche Geist die ersten Keime alles Liebeswirkens ein. Was sich durch die Liebe im Laufe der Erdenentwickelung offenbaren soll, das strömt zuerst während der Nacht in den Menschen ein. Der Gott, der die eigentliche Erdenmission auf die Erde bringt, offenbart sich zuerst zu nächtlicher Zeit dem dumpfen, alten hellseherischen Bewußtsein, bevor er sich dem hellen Tagesbewußtsein offenbaren kann. Dann, langsam und allmählich, werden die Zeiten, in denen der Mensch in dem dumpfen hellseherischen Zustande ist, kürzer, das Tagesbewußtsein immer länger, die aurischen Säume um die Gegenstände werden immer unbedeutender, die Gegenstände bekommen immer festere Grenzen. Vorher hat der Mensch die Sonne, den Mond mit einem mächtigen Hof gesehen, alles wie in einer Nebelmasse liegend. Langsam erst reinigt sich der ganze Anblick, und es treten feste Grenzen an den Dingen auf. In diesen Zustand ist der Mensch allmählich gekommen. Was da der Mensch äußerlich sieht, während die Sonne die Erde bescheint und ihm durch das sichtbare Licht das ganze Erdendasein, Mineralien, Pflanzen und Tiere offenbart, das empfindet der Mensch als die Offenbarungen des Göttlichen in dem Äußeren.

Was ist denn im Sinne der christlichen Esoterik das, was im hellen Tagesbewußtsein sichtbar wird, woraus sich die Erde im weiten Umfange zusammensetzt? Es ist eine Offenbarung der göttlichen Kräfte, eine äußere materielle Offenbarung des innerlich Geistigen! Wenn Sie den Blick hinaus auf die Sonne richten oder auf das, was Sie auf der Erde finden: Es ist eine Offenbarung des Göttlich-Geistigen. Dieses Göttlich-Geistige in der heutigen Gestalt, wie es allem zugrunde liegt, was dem hellen Tagesbewußtsein erscheint, die unsichtbare Welt hinter dieser ganzen sichtbaren Tageswelt, das nennt die christliche Esoterik den «Logos» oder das «Wort». Denn wie der Mensch zuletzt das Wort in sich selber aussprechen kann, so ist zuerst alles, das Tierreich, Pflanzenreich, Mineralreich, aus dem Logos entstanden. Alles ist eine Verkörperung dieses Logos. Und so, wie Ihre Seele unsichtbar in Ihrem Innern waltet und sich äußerlich einen Leib schafft, so schafft sich in der Welt ein jedes Seelische den ihm passenden äußeren Leib und offenbart sich durch irgendein Physisches.

Wo ist denn nun der physische Leib des Logos, von dem das Johannes-Evangelium spricht und den wir uns heute immer mehr zum Bewußtsein bringen wollen? Wo ist der physische Leib des Logos? Am reinsten erscheint dieser äußere physische Leib des Logos zunächst im äußeren Sonnenlicht. Das Sonnenlicht ist nicht bloß materielles Licht. Für die geistige Anschauung ist es ebenso das Kleid des Logos, wie Ihr äußerer physischer Leib das Kleid für Ihre Seele ist. Wenn Sie ebenso zu einem Menschen stehen, wie heute die Mehrzahl der Menschen zur Sonne steht, so können Sie nicht den anderen Menschen kennenlernen; da würden Sie sich zu jedem Menschen, der eine fühlende, denkende, wollende Seele hat, so stellen, daß Sie nicht ein Seelisch-Geistiges bei ihm voraussetzen, sondern bloß einen physischen Leib abtasten und glauben, daß der dann auch aus Papiermache sein könnte. Wenn Sie aber durchdringen wollen zu dem Geistigen im Sonnenlicht, dann müssen Sie es so betrachten, wie wenn Sie von der leiblichen Seite eines Menschen aus das Innere kennenlernen. Wie Ihr Leib sich zu Ihrer Seele verhält, so verhält sich das Sonnenlicht zu dem Logos. In dem Sonnenlichte strömt ein Geistiges der Erde zu. Dieses Geistige ist, wenn wir nicht nur den Sonnenleib, sondern auch den Sonnengeist zu fassen vermögen, dieser Geist ist die Liebe, die herunterströmt auf die Erde. Nicht allein weckt das physische Sonnenlicht die Pflanzen, so daß diese verkümmern müßten, wenn das physische Sonnenlicht nicht auf sie wirkte, sondern mit dem physischen Sonnenlichte strömt die warme Liebe der Gottheit auf die Erde; und die Menschen sind dazu da, die warme Liebe der Gottheit in sich aufzunehmen, zu entwickeln und zu erwidern. Das können sie aber nur dadurch, daß sie selbstbewußte Ich-Wesen werden. Nur dann können sie die Liebe erwidern.

Als die Menschen anfingen in der ersten Zeit, zuerst nur kurze Zeit in ihrem Tagesleben zu verweilen, da konnten sie nichts vernehmen von dem Lichte, das zugleich die Liebe entzündete. Das Licht schien in die Finsternis, aber die Finsternis konnte noch nichts begreifen von dem Lichte. Und wäre dem Menschen dieses Licht, das zugleich die Liebe des Logos ist, nicht anders geoffenbart worden als nur durch die kurzen Tagesstunden, der Mensch hätte dieses Licht der Liebe nicht begriffen. Aber in dem dumpfen hellseherischen Traumbewußtsein jener alten Zeit strömte doch die Liebe in den Menschen ein. Und jetzt blicken wir hinter das Dasein auf ein großes Mysterium der Welt, unserer Erde, auf ein wichtiges Mysterium.

Fassen wir es einmal, daß sozusagen die Lenkung der Welt für unsere Erde so war, daß eine Zeit hindurch auf unbewußte Art dem Menschen die Liebe einströmte durch ein dämmerhaftes Hellseherbewußtsein und ihn innerlich vorbereitete zur Aufnahme der Liebe im vollen hellen Tagesbewußtsein. - Wir haben gesehen, daß unsere Erde allmählich der Kosmos geworden ist, der die Mission der Liebe durchzuführen hat. Die Erde wird beschienen von der heutigen Sonne. Wie der Mensch die Erde bewohnt und die Liebe nach und nach sich aneignet, so bewohnen die Sonne andere, höhere Wesen, weil die Sonne auf einer höheren Stufe des Daseins angekommen ist. Der Mensch ist Erdenbewohner, und Erdenbewohner sein, bedeutet ein Wesen sein, das sich die Liebe aneignet während der Erdenzeit. Ein Sonnenbewohner in unserer Zeit bedeutet ein Wesen, welches die Liebe entzünden kann, welches die Liebe einströmen lassen kann. Nicht würden die Erdenbewohner die Liebe entwickeln, sie nicht aufnehmen können, wenn nicht die Sonnenbewohner ihnen die reife Weisheit schicken würden mit den Lichtstrahlen. Indem das Licht der Sonne auf die Erde herunterströmt, entwickelt sich auf der Erde die Liebe. Das ist eine ganz reale Wahrheit. Die Wesenheiten, die so hoch stehen, daß sie die Liebe ausströmen können, haben die Sonne zu ihrem Schauplatze gemacht.

Es waren da, als der Mond fertig war mit seiner Entwickelung, sieben solcher Hauptwesenheiten, die so weit waren, daß sie Liebe ausströmen konnten. Hier berühren wir ein tiefes Mysterium, das die Geheimwissenschaft enthüllt. - Da ist im Beginne der Erdenentwickelung der kindliche Mensch, der die Liebe aufnehmen sollte und bereit war zur Aufnahme des Ich, und auf der anderen Seite die Sonne, die sich abspaltete und zu einem höheren Dasein aufstieg. Auf dieser Sonne konnten sich entwickeln sieben Hauptlichtgeister, die zu gleicher Zeit die gebenden Geister der Liebe waren. Nur sechs von ihnen nahmen auf der Sonne Wohnung; und das, was uns im Lichte der Sonne physisch zuströmt, enthält in sich die geistigen Liebeskräfte dieser sechs Lichtgeister oder der sechs Elohim, wie wir sie in der Bibel finden. Einer spaltete sich ab und ging einen anderen Weg zum Heile des Menschen, er wählte sich nicht die Sonne, sondern den Mond zu seinem Aufenthalte. Und dieser eine der Lichtgeister, der freiwillig auf das Sonnendasein verzichtete und sich den Mond wählte, ist kein anderer als derjenige, den das Alte Testament «Jahve» oder «Jehova» nennt. Dieser eine, der sich den Mond zum Aufenthalt wählte, ist derjenige, der vom Monde aus die reife Weisheit auf die Erde strömte und dadurch die Liebe vorbereitete.

Jetzt schauen Sie einmal auf dieses Mysterium, das hinter den Dingen ist. Die Nacht gehört dem Monde, und sie gehörte in einem viel größeren Maße dem Monde in jener alten Zeit, als der Mensch noch nicht von der Sonne die Kraft der Liebe empfangen konnte, als er noch nicht im direkten Lichte diese Kraft der Liebe empfangen konnte. Da empfing er die reflektierte Kraft der reifen Weisheit vom Mondenlichte. Sie strömte ihm zu von dem Mondenlicht während der Zeit des Nachtbewußtseins. Jahve nennt man daher den Regierer der Nacht, der den Menschen vorbereitete auf die Liebe, die später während des vollen Tagbewußtseins entstehen sollte. So schauen wir zurück auf die alte Menschheitszeit, wo geistig der Vorgang stattfand, der durch die Himmelskörper nur symbolisiert wird, wo Sie die Sonne auf der einen Seite, den Mond auf der anderen Seite haben.

Während der Nacht, zu gewissen Zeiten, sendet uns der Mond die reflektierte Sonnenkraft zu. Es ist dasselbe Licht, das uns auch von der Sonne zukommt. So strahlte zurück in den alten Zeiten Jahve oder Jehova die Kraft der reifen Weisheit, die Kraft der sechs Elohim, und diese Kraft strömte er während der Zeit des Nachtschlafens in die Menschen ein und bereitete sie vor, so daß sie fähig wurden, auch später die Kraft der Liebe nach und nach während des tagwachen Bewußtseins zu bekommen. [...]

Jetzt kommen wir zu der anderen Seite des Mysteriums. Wir haben uns gesagt, daß der Mensch zur selbstbewußten Liebe auf der Erde berufen war. Er mußte also einen Führer, einen Lehrer während des hellen Tagesbewußtseins haben, der ihm so gegenübertrat, daß er ihn wahrnehmen konnte. Nur während der Nacht, im dämmerhaften Bewußtsein konnte ihm die Liebe eingepflanzt werden. Nach und nach aber mußte etwas eintreten, etwas mit voller Tatsächlichkeit eintreten, was dem Menschen möglich machte, außen, physisch das Wesen der Liebe selber zu sehen. Wodurch konnte das eintreten? Das konnte nur dadurch eintreten, daß das Wesen der göttlichen Liebe, des Logos, ein Wesen auf der Erde wurde - ein fleischliches Wesen auf der Erde, wie es der Mensch auf der Erde durch seine Sinne wahrnehmen konnte. Weil der Mensch zur Wahrnehmung durch seine äußeren Sinne sich entwickelte, mußte der Gott, der Logos, selbst ein Sinneswesen werden. Er mußte in einem fleischlichen Leibe auftreten. Das geschah durch den Christus Jesus, und die historische Erscheinung des Christus Jesus bedeutet nichts anderes, als daß die Kräfte der sechs Elohim oder des Logos sich verkörpert haben in dem Jesus von Nazareth im Anfange unserer Zeitrechnung, in ihm real da waren in der Welt der Sichtbarkeit. [...]

Damit also ist die Erdenmission, das, was aus der Erde werden sollte durch das Ereignis von Palästina, erst richtig in die Erde eingetreten. Vorher war alles Vorbereitung. Als was mußte sich also der Christus, der in dem Leibe des Jesus von Nazareth wohnte, vorzugsweise bezeichnen?

Er mußte sich vorzugsweise bezeichnen als den großen Bringer und den Verlebendiger des selbstbewußten freien menschlichen Wesens. Fassen wir diese lebendige Christus-Lehre einmal in kurze, paradigmatische Sätze. Dann müssen wir sagen: Die Erde ist dazu da, dem Menschen das volle Selbstbewußtsein, das «Ich-bin» zu geben. Vorher war alles nur Vorbereitung zu diesem Selbstbewußtsein, zum «Ich-bin»; und der Christus ist derjenige, der den Impuls gibt, daß die Menschen alle - jeder als einzelnes Wesen - empfinden können das «Ich-bin». Jetzt erst ist der mächtige Impuls gegeben, der die Menschen auf der Erde mit einem gewaltigen Ruck nach vorwärts bringt. Wir können das verfolgen beim Vergleich des Christentums mit der alttestamentlichen Lehre. In der alttestamentlichen Lehre fühlte der Mensch noch nicht vollständig das «Ich-bin» in seiner eigenen Persönlichkeit. Er hatte noch einen Rest dessen, was geblieben war von der alten Zeit des träumerischen Bewußtseins, wo der Mensch sich nicht als ein Selbst fühlte, sondern als Glied der göttlichen Wesenheit, wie das Tier heute noch ein Glied der Gruppenseele ist. Von der Gruppenseele sind die Menschen ausgegangen, und zum individuellen selbständigen Dasein, das in jedem Einzelmenschen das «Ich-bin» fühlt, sind sie fortgeschritten, und der Christus ist die Kraft, die die Menschen zu diesem freien «Ich-bin»-Bewußtsein gebracht hat. Überschauen wir das einmal in seiner vollen innerlichen Bedeutung.

Der Bekenner des Alten Testaments fühlte sich noch nicht so abgeschlossen in seiner einzelnen Persönlichkeit wie der Bekenner des Neuen Testaments. Der Bekenner des Alten Testaments sagte noch nicht in seiner Persönlichkeit: Ich bin ein Ich. Er fühlte sich in dem ganzen alten jüdischen Volke und fühlte das «Gruppen-Volks-Ich». Versetzen wir uns einmal lebendig in das Bewußtsein eines solchen alttestamentlichen Bekenners. So, wie der wirkliche Christ das «Ich-bin» fühlt und allmählich immer mehr fühlen lernen wird, so fühlte der Bekenner des Alten Testaments nicht das «Ich-bin». Er fühlte sich als ein Glied de ganzen Volkes und schaute hinauf zu der Gruppenseele, und wenn er das aussprechen wollte, sagte er: Mein Bewußtsein reicht hinauf bis zum Vater des ganzen Volkes, bis zu Abraham; wir - ich und Vater Abraham - sind eins. Ein gemeinsames Ich umfaßt uns alle; und da erst fühle ich mich geborgen in der geistigen Substantialität der Welt, wenn ich in der ganzen Volkssubstanz mich ruhen fühle. - So sah der Bekenner des Alten Testaments hinauf bis zum Vater Abraham und sagte: Ich und der Vater Abraham sind eins. In meinen Adern fließt dasselbe Blut wie in Abrahams Adern. - Und den Vater Abraham fühlte er wie die Wurzel, aus der jeder einzelne Abrahamite als ein Glied hervorging.

Da kam der Christus Jesus und sagte zu seinen nächsten intimsten Eingeweihten: Bisher haben die Menschen bloß geurteilt nach dem Fleisch, nach der Blutsverwandtschaft; die war für sie das Bewußtsein, daß sie in einem höheren, unsichtbaren Zusammenhange ruhten. Ihr aber sollt an einen viel geistigeren Zusammenhang glauben, an den, der weiter geht als die Blutsverwandtschaft. Ihr sollt an einen geistigen Vatergrund glauben, in dem das Ich wurzelt, der geistiger ist als jener Grund, der das jüdische Volk als Gruppenseele verbindet. Ihr sollt glauben an dasjenige, was in mir und in jedem Menschen ruht, und das ist nicht nur eins mit Abraham, das ist eins mit dem göttlichen Weltengrunde! Daher betonte der Christus Jesus im Sinne des Johannes-Evangeliums:

« Bevor der Vater Abraham war, war das !» (8, 58)

Nicht nur bis zu dem Vater-Prinzip, das bis zu Abraham reicht, geht mein Ur-Ich hinauf, sondern mit dem, was den ganzen Kosmos durchpulst, ist das Ich eins; bis zu dem geht meine Geistigkeit hinauf.

«Ich und der Vater sind eins!» (10, 30)

Das ist das wichtige Wort, das man fühlen muß; dann wird man den Ruck fühlen, der die Menschen ergriff und die Menschheitsentwickelung weiter brachte durch jenen Impuls, den das Erscheinen des Christus Jesus gab. Der Christus Jesus war der große Beleber des «Ich-bin».