Verwechslung des Karmas mit Bestrafung und Belohnung fördert Egoismus

Quelle: GA 062, S. 075-076, 2. Ausgabe 1988, 07.11.1912, Berlin

Wahr ist es, wenn gesagt wird, daß jemand nur aus Egoismus heraus etwas Gutes tue, wenn er glaube, daß es ihm dann durch das Karma in einer Art Vergeltung wieder als ein Gutes im neuen Erdenleben zukomme, oder wenn er das Böse deshalb unterläßt, weil es sich als eine Art Strafe im neuen Leben wieder zeigen könnte. Es ist gewiß, daß man eine solche Behauptung als den Egoismus begründend einsehen kann und daher mit vollem Rechte sagen darf: Also werde ja gerade durch das, was die Geistesforschung über den Menschen zu sagen habe, der Egoismus unter den Menschen gefördert.

Schopenhauer hat einmal mit Recht gesagt - Sie wissen, daß ich durchaus nicht überall mit ihm übereinstimme -: «Moral predigen ist leicht, Moral begründen schwer.» Was heißt Moral begründen? Es heißt, eine Seelenverfassung herbeiführen, durch welche der Mensch zu einem moralischen Handeln kommen kann. Wer das Völkerleben kennt, der weiß, daß Moral predigen nicht nur leicht ist, sondern meistens sehr nutzlos ist; denn man kann sehr wohl recht gute Moralgrundsätze kennen - und recht schlecht handeln. Wenn es sich bloß um das Anhören von Moralpredigten handelte, so würde es ganz gewiß viel mehr moralische Menschen geben, als es der Fall ist.

Es könnte jemand zum Beispiel sagen: Man nehme ein Elternpaar an, das seinen Kindern gegenüber alles anstreben würde, damit diese ordentliche und tüchtige Menschen werden. Denn, so sagen die Eltern, wenn wir sie zu ordentlichen, tüchtigen Leuten machen, so werden sie uns im Alter eine Stütze sein können, und wir werden alles Mögliche von ihnen haben können. Wenn die Eltern ihre Kinder unter diesem Gesichtspunkte erziehen, so ist es zweifellos ein höchst egoistischer Gesichtspunkt. Aber nehmen wir nun an, die Kinder werden ordentlich, so daß sie tüchtige Leute sind, wenn sie herangewachsen sind. Dann haben die Eltern zwar etwas Egoistisches getan, aber sie haben Moral nicht selbst gepredigt, wohl aber Moral begründet, und es könnte sich herausstellen, daß sie, wenn sie die Kinder zu tüchtigen Leuten machen, und diese dann später etwas ganz anderes zeigen, als sie sich vorgestellt haben, noch zu einer ganz anderen ethischen Auffassung kommen. Da wäre auch für die Eltern Moral begründet, nicht gepredigt.

Nehmen wir an, ein Mensch hätte nicht die Gelegenheit, für sein nächstes Erdenleben den Ausgleich für schlechte Handlungen zu berechnen. Aber indem er nun unter dem Einflusse einer solchen Anschauung von dem Karma Handlungen begeht, wird sich ihm allmählich eine moralische Weltanschauung herausbilden. Sie wird aus der menschlichen Natur heraus begründet werden. Wer noch auf einer niederen moralischen Stufe steht, wird ja gewiß aus einer egoistischeren Auffassung des Karma heraus handeln. Wer aber auf den höheren Standpunkt gekommen ist und daher auch eine höhere Auffassung von dem Karma hat, wird in sich eine selbstlose Moralforderung erfüllen.