Zukünftiges Denkverbot wird vom Westen ausgehen

Rudolf Steiner, GA 167, S. 097-101, 2. Ausgabe 1962, 04.04.1916, Berlin

Denken Sie, wir stehen jetzt seit dem Jahre 1413 etwa im fünften nachatlantischen Zeitraum. Der wird lang sein, ungefähr 2160 Jahre. Er ist also abgelaufen im Jahre 3573. Also wir stehen ja erst im Anfange. Im Laufe dieses fünften nachatlantischen Zeitraums wird viel, viel geschehen. Und im Sinne dessen, was da geschieht, muß das auch vor sich gehen, was durch die Entwickelung der Geisteswissenschaft geschieht. Das kann aber nur nach und nach alles sich offenbaren. Gewiß, die großen Linien können wir heute ziehen. Über viele Einzelheiten wissen wir auch zu berichten. Aber vieles, vieles wird erst kommen, wenn an dem Widerstande es sich stärken, kräftigen muß. Und dieser Widerstand wird immer größer und größer werden.

Wir leben ja heute - Sie können das aus Dingen, die ich in diesen Vorträgen erzählt habe, ersehen, und werden es aus manchen anderen Dingen noch ersehen, die ich Ihnen ja auch anführen kann -, wir leben heute noch in verhältnismäßig idealistischen, in spirituellen Zeiten gegenüber dem, was da kommen wird. Wir leben am Ende des zweiten nachchristlichen Jahrtausends. Es wird nicht lange dauern nach dem Jahre 2000, da wird die Menschheit Sonderbares zu erleben haben, Dinge, die sich heute nur langsam vorbereiten. Die Dinge gehen ja so, daß gewissermaßen die zwei Pole, die der künftigen Entwickelung entgegeneilen, von Osten und von Westen her sich vorbereiten. Immer mehr und mehr wird sich in den mehr östlichen Gegenden ausbilden - aber aus dem Volkstume heraus, selbstverständlich nicht aus jenen Kreisen heraus, die heute das mißleitete osteuropäische Volk führen -, wovon man sagen muß: Es wird eine ganz andere Art von Denken geben über die Menschen. Man wird dazu kommen in verhältnismäßig gar nicht zu ferner Zeit. Man wird dazu kommen, den aufwachsenden Menschen ganz anders anzusehen, als man ihn heute geneigt ist anzusehen. Man wird versuchen, wenn ein Kind geboren wird, zu sagen: Was könnte in diesem Kinde zutage treten? Man hat es mit einem verborgenen Geistwesen zu tun, das in diesem Kinde sich nach und nach entwickelt. Man wird das Kind enträtseln wollen. Man wird zunächst eine Art von Kultus verbinden mit dem Aufwachsen eines Kindes. Das bereitet sich im Osten vor. Es wird selbstverständlich übergreifen nach Europa herein. Die Folge davon wird sein, daß eine ungeheure Hochachtung sich entwickeln wird vor dem, was man Genialität nennt, ein Suchen nach der Genialität. Daß dann alle die pädagogischen Zöpfe ausgestorben sein müssen, wenn ein Zeitalter nach dieser Richtung anrückt, jene pädagogischen Zöpfe, die heute die tonangebenden sind, das ist ja selbstverständlich, nicht wahr? Dieses Zeitalter kommt von jener Seite her. Aber es wird der geringere Teil der Menschheit sein.

Der größere Teil der Menschheit wird seinen Einfluß von Amerika, von dem Westen herüber haben, und der geht einer anderen Entwickelung entgegen. Der geht jener Entwickelung entgegen, die heute sich erst in den idealistischen Spuren, gegenüber dem, was da kommt, in sympathischen Anfängen zeigt. Man kann sagen: Die Gegenwart hat es noch recht gut gegenüber dem, was da kommen wird, wenn die westliche Entwickelung immer mehr und mehr ihre Blüten treibt. Es wird gar nicht lange dauern, wenn man das Jahr 2000 geschrieben haben wird, da wird nicht ein direktes, aber eine Art von Verbot für alles Denken von Amerika ausgehen, ein Gesetz, welches den Zweck haben wird, alles individuelle Denken zu unterdrücken. Auf der einen Seite ist ein Anfang dazu gegeben in dem, was heute die rein materialistische Medizin macht, wo ja auch nicht mehr die Seele wirken darf, wo nur auf Grundlage des äußeren Experiments der Mensch wie eine Maschine behandelt wird.

Aber, meine lieben Freunde, man darf mich ja nicht mißverstehen, denn auf diesem Gebiet wird ungeheuer viel gesündigt gerade heute noch von sogenannter spiritueller Seite her. Man kann es zum Beispiel erleben, daß Leute zu einem kommen, die sagen: Ja, ich habe nun alles mögliche durchgemacht in der Medizin, ich bin nicht geheilt worden. Da bin ich zu einem gegangen, der hat mich ganz spirituell behandelt. - Nun, was hat denn der mit Ihnen gemacht? - Er hat mir gesagt, in meinem Leib sind böse Geister, und ich müsse diese bösen Geister zunächst herausbeten. - Ich mußte sagen, weil es ja eigentlich der Grund war, warum der Betreffende zu mir gekommen ist: Und hat Ihnen das geholfen? - Nein, es ist viel schlechter geworden, viel, viel schlechter. - Nun, sagte ich, ich bitte Sie, nun denken Sie sich einmal, in welche Lage Sie da gebracht worden sind. Glauben Sie nicht, daß Ihnen der Mann etwas Unrichtiges gesagt hat. Es ist ganz richtig, daß in Ihnen irgend welche geistige Wesen waren, die das verursacht haben, was in Ihnen ist. Aber gerade weil Ihnen der Mann etwas Richtiges gesagt hat, etwas, was Sie gerade als etwas Richtiges anerkennen mußten, gerade deshalb mußte Ihnen der Mann so schaden. Denn denken Sie sich einmal: Ein nichtsnutziger Schusterbub richtet eine Maschine zu Grunde. Dieser Schusterbub ist die wirkliche Ursache, daß die Maschine nicht geht. Das ist die reale Ursache. Na, wie werde ich die Maschine wiederum zum Gehen bringen? Nach der Methode Ihres spirituellen Arztes müßte ich nun den Schusterbuben nehmen, ordentlich durchhauen und dann meinen, wenn der jetzt davonläuft, so wird die Sache in Ordnung sein. Selbstverständlich: denn er hat Ihnen ja gesagt, sobald die bösen Geister weg sind, ist Ihre Maschine in Ordnung. Aber gerade so wenig, wie die Maschine dadurch in Ordnung ist, daß der Bub davonläuft, sondern wie die jetzt kuriert werden muß mit ganz anderen Mitteln, die mit dem Maschinellen zusammenhängen, so ist es auch bei Ihnen. Ob Sie die Geister wegbringen oder nicht, das ist schließlich für Ihr Gesundwerden von so geringer Bedeutung, als wenn ich nun den Schusterbuben durchhaue, so daß er nun davonläuft, oder als ob ich ihn sogar zuschauen lasse. Ich könnte ihn sogar zuschauen lassen - ich würde doch die Maschine wieder in Ordnung bringen.

Also es wird schon von der andern Seite sehr viel gesündigt, denn sehr gut denken kann man heute nicht. Man sagt immer nur aut - aut: entweder - oder, aber darum handelt es sich nicht, sondern darum, daß man die Dinge wirklich einsieht. Man muß eben wissen, daß in allem Materiellen Geistiges ist und daß durch die Erkenntnis des Geistes auch nur allein das Materielle geheilt werden kann. Aber das soll ausgeschaltet werden, das Geistige, von der ganzen Welt. Das ist einer der Anfänge.

Einer der anderen Anfänge: Wir haben ja heute schon Maschinen zum Addieren, Subtrahieren: nicht wahr, das ist sehr bequem, da braucht man nicht mehr zu rechnen. Und so wird man es auch machen mit allem. Das wird nicht lange dauern, ein paar Jahrhunderte - dann ist alles fertig; dann braucht man nicht mehr zu denken, nicht mehr zu überlegen, sondern man schiebt. Zum Beispiel da steht: «330 Ballen Baumwolle Liverpool », so überlegt man heute sich da noch etwas, nicht wahr? Aber dann schiebt man bloß, und die Geschichte ist ausgemacht. Und damit nicht gestört wird das feste Gefüge des sozialen Zusammenhangs der Zukunft, werden Gesetze erlassen werden, auf denen nicht direkt stehen wird: Das Denken ist verboten, aber die die Wirkung haben werden, daß alles individuelle Denken ausgeschaltet wird. Das ist der andere Pol, dem wir entgegen arbeiten. Dagegen ist das Leben heute immerhin nicht gar so unangenehm. Denn wenn man nicht über eine gewisse Grenze hinausgeht, so darf man ja heute noch denken, nicht wahr? Allerdings eine gewisse Grenze überschreiten darf man ja nicht, aber immerhin, innerhalb gewisser Grenzen darf man noch denken. Aber das, was ich geschildert habe, das steckt in der Entwickelung des Westens, und das wird kommen durch die Entwickelung des Westens.

Also in diese ganze Entwickelung muß sich auch die geisteswissenschaftliche Entwickelung hineinstellen. Das muß sie klar und objektiv durchschauen. Sie muß sich klar sein, daß das, was heute wie ein Paradoxon erscheint, geschehen wird: ungefähr im Jahre 2200 und einigen Jahren wird eine Unterdrückung des Denkens in größtem Maßstabe auf der Welt losgehen, in weitestem Umfange. Und in diese Perspektive hinein muß gearbeitet werden durch Geisteswissenschaft. Es muß soviel gefunden werden - und es wird gefunden werden -, daß ein entsprechendes Gegengewicht gegen diese Tendenzen da sein kann in der Weltenentwickelung.