Soziales Verständnis statt Sympathie und Antipathie

Quelle: GA 168, S. 098-101, 4. Ausgabe 1995, 10.10.1916, Zürich

Dieser Anflug von Gruppenseelentum, der noch über dem vierten nachatlantischen Zeitraum war, der hat keinen Sinn mehr für diesen fünften nachatlantischen Zeitraum. Dafür aber muß bewußterweise soziales Verständnis auftauchen, das heißt, es muß auftauchen alles dasjenige, was hervorgeht aus einem tieferen Verständnis für richtige individuelle menschliche Wesenheit. Dafür wird erst Geisteswissenschaft dieses richtige Verständnis entwickeln. Und Platz greifen wird, wenn die Geisteswissenschaft aus dem Abstrakten ins Konkrete, ins Lebensvolle sich immer mehr und mehr hineinentwickeln wird, innerhalb der Kreise, welche Geisteswissenschaft treiben, eine ganz besondere Art, ich möchte sagen von Menschenkunde, von Erweckung für menschliches Interesse. Da wird es geben diejenigen, die gewisse Anlagen dazu haben, ihre Mitmenschen zu unterrichten darüber, wie die Menschen verschiedene Temperamente haben, wie die Menschen verschiedene Charakteranlagen haben, wie der eine Mensch, der ein solches Temperament hat, so genommen werden muß, wie ein anderer Mensch, der eine solche Charakteranlage hat, mit diesem Temperament wieder anders genommen werden muß; da werden die Menschen, die besonders dafür begabt sind, andere Menschen, die etwas lernen müssen, darinnen unterrichten: Sehet es euch genauer an: Es gibt diesen Menschentyp, es gibt einen anderen Menschentyp, und man muß den einen Menschen so nehmen und den anderen anders nehmen. - Praktische Psychologie, praktische Seelenkunde, aber auch praktische Lebenskunde wird getrieben werden, und durch dieses wird sich ergeben ein wirkliches soziales Verständnis der Menschheitsentwickelung.

Was ist denn bis jetzt aufgetreten als soziales Verständnis? Bis jetzt sind aufgetreten abstrakte Ideale, die mannigfaltigsten abstrakten Ideale von Menschheits-, von Völkerbeglückung, diese und jene Sozialismen. Wenn man diese da oder dort auftretenden sozialen Ideen wirklich einführen wollte in die Welt, würde man erst sehen, wie man es nicht machen kann. Dasjenige, um was es sich handelt, ist ja zunächst gar nicht, Gesellschaften oder Sekten zu gründen mit bestimmten Programmen, sondern Menschenkunde, praktische Menschenkenntnis zu verbreiten, namentlich auch solche Menschenkenntnis, die uns möglich macht, den werdenden, den aufwachsenden Menschen richtig zu verstehen, das Kind richtig zu verstehen, wie sich jedes Kind mit einer eigenen Individualität entwickelt. Dadurch lernen wir uns ins Leben so hineinzustellen, daß wir die richtigen karmischen Wirkungen, die in uns sind, wenn wir dann durch das Karma einem Menschen gegenübergestellt werden, mit dem wir ein näheres solches oder solches Verhältnis bekommen sollen, daß wir die richtigen, die Dauerbeziehungen entwickeln, diejenigen Beziehungen, die wirklich am fruchtbarsten für das Leben werden können. Praktische Menschenkunde, praktisch wirkendes Menschheitsinteresse, das ist es, worauf es ankommt. Heute ist die Menschheit auf diesem Gebiete noch gar nicht besonders weit, noch sehr wenig weit gediehen. Wie urteilen wir denn heute, wenn wir einem Menschen gegenübertreten? Er ist uns sympathisch oder antipathisch. Gehen Sie durch die Welt und sehen Sie, wie in den meisten Fällen dies das einzige Urteil ist, oder, wenn mehrere Urteile auftreten, wie sie doch ganz beherrscht sind von diesem einzigen Gesichtspunkte: der ist mir sympathisch, der ist mir antipathisch, oder: das an ihm ist mir sympathisch, das an ihm ist mir antipathisch. Vorgefaßte Meinungen! Man stellt sich vor: so und so sollte der Mensch eigentlich sein; wenn man dann sieht, er ist in dem oder jenem anders, dann fällt man über ihn ein Urteil. Ehe nicht diese Art des Sympathisch- oder Antipathischfindens aus Vorurteilen, aus besonderen Liebhabereien heraus, die man über diesen oder jenen Menschencharakter hat, aufhört, und ehe sich nicht verbreitet die Gesinnung, den Menschen zu nehmen, wie er ist, kann nicht vorwärtsgeschritten werden in wirklicher praktischer Menschenkenntnis.

Denken Sie doch, wie heute sehr häufig, wenn zwei Menschen einander gegenübertreten unter diesen oder jenen Voraussetzungen, in dem einen sogleich etwas auftaucht von Antipathie - er mag den anderen nicht - und wie dann alles das, was er diesem Menschen gegenüber tut, in das Licht dieses Nichtmögens gestellt wird. Dadurch wird sehr häufig ein karmisches Verhältnis ganz und gar ausgelöscht, ganz und gar auf eine falsche Fährte geführt und muß erst wiederum zurückgelegt werden bis in die nächste Inkarnation, wo diese Menschen wiederum zusammentreffen. Sympathien und Antipathien sind die größten Feinde des wirklichen sozialen Interesses. Das beachtet man sehr häufig nicht. Derjenige, der weiß, was in wirklichem, sozialem Verständnis liegt für die Weiterentwickelung der Menschheit, der beachtet mit manchmal furchtbar beklommenem Herzen, wie Lehrer in der Schule wirken, die aus gewissen Vorurteilen heraus den einen Schüler von vornherein sympathisch oder nicht sympathisch dem anderen gegenüber finden. Das ist oft furchtbar; während es sich darum handelt, jeden zu nehmen, wie er ist, und aus dem, was er ist, das Allerbeste zu machen.

Das geht aber dann in die Einrichtungen hinein. Unsere Einrichtungen, unsere sozialen Gesetze, die die Individualität der Lehrer oftmals furchtbar auslöschen, die sind schon so, daß auf die Individualität in Wirklichkeit nicht eingegangen werden kann. Da muß wirkliches Verständnis für Geisteswissenschaft so wirken, daß praktische Seelenkunde und praktische Menschenkunde in das allgemeine Interesse aufgenommen werden. Das ist notwendig zum sozialen Verständnis, um in dem sozialen Verständnis gewissermaßen den anderen Pol zu schaffen für das Schwierigwerden des Sich-Verstehens.