Anarchistische Bewegung leider versandet

Quelle: GA 185, S. 131-135, 3. Ausgabe 1982, 27.10.1918, Dornach

Ich schrieb diese «Philosophie der Freiheit», um auf der einen Seite die Idee der Freiheit, den Impuls der Freiheit, der im wesentlichen der Impuls des fünften nachatlantischen Zeitalters sein muß - er muß sich herausentwickeln aus den mancherlei anderen versplitterten Impulsen -, rein vor die Menschheit hinzustellen. Dazu war ein Doppeltes notwendig. Erstens war notwendig, den Impuls der Freiheit stark zu verankern in dem, was man wissenschaftliche Begründung einer solchen Sache nennen kann. Daher ist der erste Teil meiner «Philosophie der Freiheit» derjenige, welchen ich überschrieben habe «Wissenschaft der Freiheit». Selbstverständlich war dieser Teil «Wissenschaft der Freiheit» für viele etwas Abstoßendes, etwas Unbequemes, denn nun sollte man sich zu dem Impuls der Freiheit hinbequemen in der Art, daß man ihn solid verankert fühlen soll in streng wissenschaftlichen Betrachtungen, die allerdings auf der Freiheit des Gedankens fußten, die nicht verankert waren in demjenigen, was oftmals heute als naturwissenschaftlicher Monismus sich geltend macht. Es hat vielleicht dieser Abschnitt «Wissenschaft der Freiheit» einen kampfartigen Charakter. Der ist zu erklären aus der ganzen Geistesstimmung der damaligen Zeit heraus. Auseinanderzusetzen hatte ich mich mit der Philosophie des 19. Jahrhunderts, mit dem, was die Philosophie des 19. Jahrhunderts über die Welt gedacht hatte. Denn ich wollte den Freiheitsbegriff als Weltbegriff entwickeln, wollte zeigen, daß nur derjenige die Freiheit verstehen kann und sie auch nur in der richtigen Weise erfühlen kann, der einen Sinn dafür hat, daß im menschlichen Inneren sich nicht etwas abspielt, was nur irdisch ist, sondern daß der große kosmische Weltprozeß hindurchflutet durch das menschliche Innere und aufgefaßt werden kann im menschlichen Inneren. Und nur, wenn dieser große kosmische Weltprozeß im menschlichen Inneren aufgefangen wird, wenn er im menschlichen Inneren durchlebt wird, dann ist es möglich, durch eine Erfassung des menschlichen Innersten als etwas Kosmischem zu einer Philosophie der Freiheit zu kommen.

Zu einer Philosophie der Freiheit kann derjenige nicht kommen, welcher nach der Anleitung der modernen naturwissenschaftlichen Erziehung sein Denken bloß am Gängelbande der äußeren Sinnenfälligkeit hinführen will. Das ist gerade das Tragische in unserer Zeit, daß die Menschen überall auf unsern Hochschulen dazu erzogen werden, ihr Denken am Gängelbande der äußeren Sinnlichkeit zu führen. Dadurch sind wir in ein Zeitalter hineingeraten, welches mehr oder weniger hilflos ist in allen ethischen, sozialen und politischen Fragen. Denn nimmermehr wird dasjenige Denken, das sich nur am Gängelbande der äußeren Sinnlichkeit führen läßt, in der Lage sein, sich innerlich so zu befreien, daß es zu den Intuitionen aufsteigt, zu denen es aufsteigen muß, wenn dieses Denken sich betätigen will innerhalb der Sphäre des menschlichen Handelns. Daher ist der Impuls der Freiheit geradezu ausgeschaltet worden durch dieses am Gängelbande geführte Denken.

Das war das erste, was natürlich den Zeitgenossen unbequem war an meiner «Philosophie der Freiheit», daß sie sich hätten bequemen müssen, nun wirklich zunächst sich durchzuringen in einem sich selbst in Zucht nehmenden Denken zu einer Wissenschaft von der Freiheit.

Der zweite größere Abschnitt handelt dann von der Wirklichkeit der Freiheit. Da kam es mir darauf an zu zeigen, wie die Freiheit im äußeren Leben sich ausgestalten muß, wie die Freiheit wirklicher Impuls des menschlichen Handelns, des sozialen Lebens werden kann. Da handelte es sich mir darum zu zeigen, wie der Mensch aufsteigen kann dazu, sich in seinem Handeln wirklich als freier Geist zu fühlen. Und diejenigen Dinge, die ich dazumal schrieb, sie sind, wie ich meine, etwas, was gerade heute, fünfundzwanzig Jahre hinterher, sehr wohl von den Seelen aufgefaßt werden könnte gegenüber dem, was in der äußeren Welt uns entgegentritt.

Das, was ich niedergeschrieben hatte, war zunächst ein ethischer Individualismus. Das heißt, ich hatte zu zeigen, daß der Mensch nimmermehr frei werden könne, wenn nicht sein Handeln entspringe aus jenen Ideen, die in den Intuitionen der einzelnen menschlichen Individualität wurzeln. So daß dieser ethische Individualismus als letztes ethisches Entwickelungsziel des Menschen nur anerkannte den sogenannten freien Geist, der sich herausarbeitet sowohl aus dem Zwang der Naturgesetze wie

auch aus dem Zwang von allen konventionellen sogenannten Sittengesetzen, der auf dem Vertrauen fußt, daß der Mensch im Zeitalter, in dem das Böse so anrückt in seinen Neigungen, wie ich das gestern charakterisiert habe, in der Lage ist, wenn er sich zu Intuitionen erhebt, umzuwandeln die bösen Neigungen in dasjenige, was gerade für die Bewußtseinsseele das Gute, das wirklich Menschenwürdige werden soll. So schrieb ich dazumal:

«Erst die hierdurch gewonnenen Gesetze verhalten sich zum menschlichen Handeln so wie die Naturgesetze zu einer besonderen Erscheinung. Sie sind aber durchaus nicht identisch mit den Antrieben, die wir unserem Handeln zugrunde legen. Will man erfassen, wodurch eine Handlung des Menschen dessen sittlichem Wollen entspringt, so muß man zunächst auf das Verhältnis dieses Wollens zu der Handlung sehen.»

In mir entsprang eine Idee des freien menschlichen Zusammenlebens, wie ich es Ihnen von einem anderen Gesichtspunkte aus gerade in diesen Tagen hier charakterisiert habe, des freien menschlichen Zusammenlebens, wo nicht nur der einzelne für sich auf seine Freiheit pocht, sondern wo durch das gegenseitige Verständnis der Menschen im sozialen Leben die Freiheit als Impuls dieses Lebens auch realisiert werden könnte. So schrieb ich dazumal rückhaltlos:

«Leben in der Liebe zum Handeln und Lebenlassen im Verständnisse des fremden Wollens ist die Grundmaxime der freien Menschen. Sie kennen kein anderes Sollen als dasjenige, mit dem sich ihr Wollen in intuitiven Einklang versetzt; wie sie in einem besonderen Falle wollen werden, das wird ihnen ihr Ideenvermögen sagen.»

Ich hatte selbstverständlich mit diesem ethischen Individualismus den ganzen Kantianismus dazumal wider mich, denn meine kleine Schrift «Wahrheit und Wissenschaft» beginnt in der Vorrede mit dem Satze: Wir müssen über Kant hinaus. - Ich wollte dazumal den Goetheanismus, der aber der Goetheanismus vom Ende des 19. Jahrhunderts war, durch die sogenannten Intellektuellen, durch diejenigen, die sich die Intellektuellsten nennen, an das Zeitalter heranbringen. Daß ich damit nicht besondere Erfahrungen gemacht habe, das kann Ihnen ja mein Aufsatz, den ich jüngst im «Reich» geschrieben habe, besonders meine Beziehungen zu Eduard von Hartmann, zeigen.

Aber wie mußten auch diese Zeitgenossen, die nach und nach in das volle Philisterium hineinzusegeln die Absicht hatten, sich abgestoßen fühlen von einem Satze, der jetzt auf Seite 176 der «Philosophie der Freiheit» steht:

«Wenn Kant von der Pflicht sagt: "Pflicht! du erhabener, großer Name, der du nichts Beliebtes, was Einschmeichelung bei sich führt, in dir fassest, sondern Unterwerfung verlangst", der du "ein Gesetz aufstellst ..., vor dem alle Neigungen verstummen, wenn sie gleich im geheimen ihm entgegenwirken", so erwidert der Mensch aus dem Bewußtsein des freien Geistes: "Freiheit! du freundlicher, menschlicher Name, der du alles sittlich Beliebte, was mein Menschentum am meisten würdigt, in dir fassest, und mich zu niemandes Diener machst, der du nicht bloß ein Gesetz aufstellst, sondern abwartest, was meine sittliche Liebe selbst als Gesetz erkennen wird, weil sie jedem nur aufgezwungenen Gesetze gegenüber sich unfrei fühlt."»

So im Empirischen die Freiheit zu suchen, die zugleich auf einer solid wissenschaftlichen Grundlage auferbaut sein sollte, das war eigentlich das Bestreben, welches der «Philosophie der Freiheit» zugrunde lag. Freiheit ist dasjenige, was als Wort einzig und allein einen unmittelbaren Wahrheitsklang in unserer Zeit haben kann. Wenn man Freiheit so verstehen würde, wie es dazumal gemeint war, so würde ein ganz anderer Ton hineinkommen in all das, was heute über die Weltordnung über den Erdball hin gesprochen wird. Heute redet man von allen möglichen anderen Sachen. Wir reden von Rechtsfrieden, von Gewaltfrieden und so weiter. Alle diese Dinge sind Schlagworte, weil weder Recht noch Gewalt mit ihren ursprünglichen Bedeutungen noch zusammenhängen. Recht ist heute ein vollständig verworrener Begriff. Freiheit allein wäre dasjenige, welches, wenn es die Zeitgenossen angenommen hätten, diese Zeitgenossen zu elementaren Impulsen, zur Auffassung der Wirklichkeit hätte bringen können. Würde man statt von den Schlagworten Rechtsfriede, Gewaltfriede, einigermaßen auch reden können von Freiheitsfriede, dann würde das Wort durch die Welt rollen, welches in diesem Zeitalter der Bewußtseinsseele einige Sicherheit in die Seelen hineinbringen könnte. Selbstverständlich ist auch dieses zweite größere Kapitel in gewisser Beziehung ein Kampf-Kapitel geworden, denn es mußte alles abgewehrt werden, was aus der philiströsen Welt heraus, aus dem billigen Schablonentum heraus, aus der Anbeterei aller möglichen Autoritäten sich gegen diese Auffassung des freien Geistes wenden konnte.

Trotzdem sich nun einzelne Menschen fanden, die gespürt haben, welcher Wind eigentlich durch die «Philosophie der Freiheit» weht, ist es außerordentlich schwierig gewesen und eigentlich gar nicht gegangen, irgendwie die Zeitgenossen für das gestimmt zu finden, was in der «Philosophie der Freiheit» geschrieben war. Zwar schrieb dazumal, aber das sind eben vereinzelte Vögel geblieben, ein Mann in der «Frankfurter Zeitung» von diesem Buche: Klar und wahr, das sei die Devise, die man diesem Buche auf die erste Seite schreiben könnte. Aber die Zeitgenossen verstanden wenig von dieser Klarheit und Wahrheit.

Nun fiel dieses Buch - und das hat gar nicht auf seinen Inhalt, wohl aber auf die Tendenz gewirkt, daß der Glaube hätte bestehen können, doch bei einigen Zeitgenossen Verständnis zu finden - hinein in die Zeit, als gerade, man kann schon sagen, durch die ganze zivilisierte Welt dazumal die Nietzsche-Welle ging. Und zwar war dies, was ich jetzt meine, die erste Nietzsche-Welle, jene erste Nietzsche-Welle, wo man verstand, wie durch Nietzsches oftmals gewiß krank wirkenden Geist große, bedeutsame Zeitimpulse hindurch wallten. Und man konnte hoffen, bevor es Leuten wie dem Grafen Keßler oder ähnlichen, auch Nietzsches Schwester im Verein mit solchen Menschen wie etwa dem Berliner Kurt Breysig oder dem schwätzenden Horneffer gelungen ist, das Bild zu verzerren, daß durch die Vorbereitung, welche ein gewisses Publikum durch Nietzsche gefunden hatte, auch solche Freiheitsideen einigermaßen sich einleben könnten. Allerdings konnte man das nur so lange hoffen, bis durch die angeführten Leute Nietzsche in das moderne Dekadententum, man könnte sagen, in das literarische Gigerltum, Snobtum - ich weiß nicht, wie ich, um verstanden zu werden, den Ausdruck wählen soll - hineingesegelt worden ist.

Dann hatte ich ja, nachdem die «Philosophie der Freiheit» geschrieben war, zunächst zu studieren, wie sich da oder dort das weiter entwickelte. Ich meine nicht die Ideen der «Philosophie der Freiheit», denn ich wußte sehr gut, daß in der ersten Zeit sehr wenige Exemplare des Buches verkauft worden sind, sondern ich meine diejenigen Impulse, aus denen herausgegriffen waren die Ideen der «Philosophie der Freiheit». Ich hatte das zunächst noch eine Anzahl von Jahren von Weimar aus zu studieren, was aber einen guten Gesichtspunkt schon abgab.

Ein Publikum, auf das vielleicht viele als auf ein bängliches zurückschauen, ein Publikum fand ja die «Philosophie der Freiheit». Sie war erst kurze Zeit erschienen, da fand sich gewissermaßen eine Art von bis zu einer gewissen Grenze gehender Zustimmung zur «Philosophie der Freiheit» innerhalb derjenigen Kreise, welche am besten vielleicht charakterisiert sind durch die beiden Namen des Amerikaners Benjamin Tucker und des schottischen Deutschen oder deutschen Schotten John Henry Mackay. Es war dies in dem nun immer mehr und mehr hereinbrechenden Philistertum selbstverständlich nicht gerade ein Empfehlungsschein, weil diese Leute zu den radikalsten Erstrebern einer auf freie Geistigkeit aufgebauten sozialen Ordnung gehörten, und weil man, wenn man gewissermaßen protegiert wurde von diesen Leuten, wie es ja eine Zeitlang der «Philosophie der Freiheit» geschah, sich dadurch höchstens das Anrecht erwarb, daß nicht nur die «Philosophie der Freiheit», sondern auch andere meiner später erscheinenden Schriften zum Beispiel nach Rußland von der Zensur nie durchgelassen worden sind. Das «Magazin für Literatur», das ich später, nach Jahren herausgegeben habe, ist aus diesem Grunde auf seinen meisten Spalten schwarz angestrichen nach Rußland gewandert, und so weiter. Nur war diese Bewegung, um die es sich da handelte und die man durch Namen wie Benjamin Tucker und John Henry Mackay charakterisieren kann, allmählich, ich möchte sagen, versandet in dem heraufkommenden Philistertum des Zeitalters. Und im Grunde genommen war auch die Zeit dem Verständnisse der «Philosophie der Freiheit» nicht besonders günstig. Ich konnte ruhig diese «Philosophie der Freiheit» vorläufig liegen lassen. Jetzt scheint mir aber allerdings die Zeit gekommen zu sein, wo diese «Philosophie der Freiheit» wenigstens wieder da sein muß, wo von den verschiedensten Seiten doch vielleicht die Seelen kommen werden, die Fragen stellen, welche in der Richtung dieser «Philosophie der Freiheit» liegen.

Gewiß, Sie können sagen, es wäre immerhin möglich gewesen die ganzen Jahre her, die «Philosophie der Freiheit» neu aufzulegen. Ich zweifle ja auch nicht daran, daß man im Laufe der Jahre viele Auflagen hätte absetzen können. Aber es wäre eben dabei geblieben, daß die «Philosophie der Freiheit» verkauft worden wäre. Und darum handelt es sich mir bei meinen wichtigsten Büchern wahrlich nicht, daß sie in so und so viel Exemplaren durch die Welt wandeln, sondern darum handelt es sich mir, daß sie verstanden und in ihrem eigentlichen inneren Impuls aufgenommen werden.