Bakuninismus als Maske des Sozialismus

Quelle: GA 185, S. 198-231, 3. Ausgabe 1982, 03.11.1918, Dornach

Dann aber haben wir eine dritte Strömung. Das ist diejenige, welche der ganzen Menschheit eigen ist, vermöge welcher die ganze Menschheit in ihrem Entwickelungsalter ist, indem sie immer jünger und jünger wird, und jetzt in dem Zeitalter der Empfindungsseele ist, vom 28. bis zum 21. Jahre. Das geht durch die ganze Menschheit. Wenn wir die erste Strömung, die ethnische, schildern, wo Volksreligionen entstehen: Christus-Religion, Kirchenreligion, Logenreligion, dann stehen wir auf dem Standpunkt der volkstümlichen Entwickelung, die ich gewöhnlich so einteile: italienische Völker = Empfindungsseele, französische = Verstandes- oder Gemütsseele und so weiter.

Wenn wir dasjenige schildern, was als Bewußtseinsseele in jedem einzelnen Menschen seit dem fünften nachatlantischen Zeitraum sich entwickelt, so haben wir da vorzugsweise dasjenige, was in dieser Weise ins Religiöse einströmt. Aber von da aus geht dann auch das Zusammenwirken mit dem anderen, mit dem, was Evolution in allen Menschen ist: Empfindungsseelen-Evolution, die ja parallel läuft und viel unbewußter ist als die Bewußtseinsseelen-Evolution.

Studieren Sie, wie solch ein Mensch wie Goethe, wenn auch vielfach durch Impulse im Unterbewußten, aber doch sehr bewußt sich seine religiöse Richtung gibt, so kommen Sie auf das Walten der Bewußtseinsseele. Doch daneben waltet in der modernen Menschheit ein anderes Element, welches sehr stark in Instinkten, in unterbewußten Impulsen durch diese moderne Menschheit wirkt, aber innig verknüpft ist mit der Empfindungsseelen-Entwickelung, und das ist dasjenige, was man nennen muß die Entwickelung zum Sozialismus hin, die jetzt im Beginne ihres Verlaufes ist, und die in einer gewissen Weise ihren Abschluß finden wird von der Seite, wie ich es erzählt habe. Gewiß, die Anstöße werden immer gegeben, wie ich schon gesagt habe, von der Bewußtseinsseele aus; aber daß der Sozialismus die Mission des fünften nachatlantischen Zeitraums ist und bis zum vierten Jahrtausend hin zu einem Abschlusse kommen wird, das rührt für die ganze Menschheit gewissermaßen davon her, daß sie im Empfindungsseelen-Zeitalter lebt vom 28. bis 21. Jahre. Das liegt da drinnen. Der Sozialismus ist nicht etwas, was eine Parteirichtung ist, obwohl es innerhalb der sozialen Körperschaften viele Parteien gibt, aber das sind Parteien innerhalb der sozialen Strömung. Der Sozialismus ist nicht eine Parteisache als solche, sondern der Sozialismus ist etwas, was sich ganz notwendig nach und nach im fünften nachatlantischen Zeitraum in der Menschheit ausbildet. So daß, wenn dieser fünfte nachatlantische Zeitraum abgeschlossen sein wird, im wesentlichen, soweit sie für die zivilisierte Welt in Betracht kommen, in den Menschen die Instinkte für den Sozialismus vorhanden sein werden.

Nun können Sie sich denken: Das alles, was ich Ihnen gesagt habe, wirkt zusammen in diesem fünften nachatlantischen Zeitraum. Da wirken alle die Dinge zusammen, die ich geschildert habe. Da wirkt aber auch noch das, was im wesentlichen in unterbewußten Tiefen ist: die Tendenz, bis ins vierte Jahrtausend hinein die richtige sozialistische Gestaltung der ganzen Erdenwelt zu finden.

Man braucht sich von einem tieferen Gesichtspunkte aus wahrhaftig nicht zu wundern, daß der Sozialismus alle möglichen Blasen aufwirft, die auch sehr schlimm sein können, wenn man bedenkt, wie er aus unterbewußten Tiefen herauf seine Impulse hat; wenn man bedenkt, wie das alles brodelt und kraftet und der Zeitpunkt noch weit, weit entfernt ist von derjenigen Epoche, wo es in sein richtiges Fahrwasser kommen wird. Aber es rumort, und zwar jetzt nicht einmal in den menschlichen Seelen, sondern es rumort in den menschlichen Naturen, in den menschlichen Temperamenten vor allen Dingen. Und für dasjenige, was in menschlichen Temperamenten rumort, für das findet man Theorien. Diese Theorien - wenn sie nicht Ausdrücke sind, so wie wir es in der Geisteswissenschaft haben, für dasjenige, was in den Tiefen der Wirklichkeit vorhanden ist -, diese Theorien, ob es Bakuninismus, Marxismus, Lassallismus ist, was weiß ich, das ist ganz einerlei, das sind alles Masken, Verbrämungen, alles Dinge, die sich der Mensch oberflächlich über die Wirklichkeit zieht. Die Wirklichkeiten sieht man doch erst, wenn man so tief hineinschaut in die Menschheitsentwickelung, wie wir es durch diese Betrachtungen zu tun versuchen.

Und auch dasjenige, was jetzt äußerlich geschieht, das sind ja nur tumultuarische Vorbereitungen zu dem, was schließlich in allen - und zwar jetzt wirklich, man kann sagen, eben nicht Seelen, sondern in den Temperamenten lauert. Sie alle sind sozialistisch. Sie wissen es oftmals nicht, wie stark Sie sozialistisch sind, weil es im Temperamente, ganz im Unterbewußten lauert. Aber nur dadurch, daß man so etwas weiß, kommt man hinaus über jenes nebulose, lächerliche Suchen nach Selbsterkenntnis, die hineinschaut in das menschliche Innere und da, ich will es nicht schildern, was man da für ein wesenloses Caput mortuum, für ein Abstraktum findet. Der Mensch ist ein kompliziertes Wesen. Man lernt ihn nur kennen, wenn man die ganze Welt kennenlernt. Das ist es, was dabei berücksichtigt werden muß.

Betrachten Sie einmal von diesem Gesichtspunkte aus die Welt, die Menschheit, wie sie sich im fünften nachatlantischen Zeitraum heranentwickelt hat.

Sagen Sie sich nun selbst: Da haben wir im Osten das Christus-Volk mit dem wesentlichsten Impuls: Christus ist Geist. - Es lebt in der Natur dieses Volkes, daß dasjenige, was nur als Vorläufer hat geschehen können durch die andere europäische Bildung, wie mit instinktiver, mit elementarer Gewalt, mit historischer Notwendigkeit durch den Russizismus in die Welt kommt. Es ist dem russischen Volke als Volk diese Mission übertragen, das Gralswesen als religiöses System bis zum sechsten nachatlantischen Zeitraum so auszubilden, daß es dann ein Kulturferment der ganzen Erde werden kann. Kein Wunder, wenn sich dieser Impuls kreuzt mit den anderen Impulsen, die vorhanden sind, daß die anderen Impulse sonderbare Formen annehmen.

Welches sind die anderen Impulse? Nun: Der Christus ist König, Christus ist Lehrer. Ja, bis zu dem «der Christus ist Lehrer» kann man kaum gehen, denn das versteht eigentlich das russische Gemüt, wie ich schon sagte, doch eigentlich nicht, was das heißen soll, daß man das Christentum lehren kann, daß man das nicht erlebt als etwas, was in der eigenen Seele ist. Aber «Christus ist König» - so ist doch das Russentum mit dem «Christus ist König» zusammengewachsen. Und da sehen wir das Zusammenstoßen desjenigen, was am allerwenigsten jemals in der Welt zusammengehört hat: das Zusammenstoßen mit dem Zarismus, die östliche Karikatur des Prinzips, irdische Herrschaft einzuführen auf dem Gebiete des Religionswesens. «Christus ist König» - und der Zar ist sein Stellvertreter: diese Zusammenkoppelung dieses Westlichen, das im Zarismus sich ausspricht, mit dem, was gar nichts damit zu tun hat, mit dem, was durch die russische Volksseele im russischen Gemüte lebt!

In der äußeren physischen Wirklichkeit ist eben gerade das Charakteristische, daß diejenigen Dinge, die oftmals innerlich am wenigsten miteinander zu tun haben, sich äußerlich aneinander abreiben müssen. Fremdest waren von jeher Zarismus und Russentum, gehörten nicht zusammen. Wer das russische Wesen versteht, namentlich religiös, der wird daher die Einstellung auf die Ausscheidung des Zarismus immer als etwas Selbstverständliches für den wirklichen nötigen Zeitpunkt haben finden müssen.

Aber bedenken Sie, daß dieses «Christus ist der Geist» Innerlichstes ist, daß es zusammenhängt mit der edelsten Kultur der Bewußtseinsseele, und nun zusammenstößt, während der Sozialismus rumort, mit dem, was in der Empfindungsseele lebt, so wie ich es dargestellt habe. Kein Wunder, daß die Ausbreitung des Sozialismus in diesem östlichen Teile von Europa Formen annimmt, die überhaupt unbegreiflich sind, ein unorganisches Ineinanderspielen der Bewußtseinsseelenkultur und der Empfindungsseelenkultur.