Geistige, seelische und physische Freiheit

Quelle: GA 186, S. 258-261, 3. Ausgabe 1990, 15.12.1918, Dornach

Deshalb findet auch das, was als anthroposophischer Standpunkt gegenüber der sozialen Frage geltend gemacht werden muß, heute noch so viel Widerstand, weil die Leute nicht wirklichkeitsgemäß denken können, weil die Leute vor allen Dingen nicht differenziert denken können und oftmals sogar glauben, wenn jemand differenziert denken kann, so widerspricht er sich selber.

Wichtige Fragen der Gegenwart sind nur zu lösen durch wirklichkeitsgemäßes Denken. Ich will Ihnen eine solche Frage, die sich anknüpft an das, was wir schon besprochen haben, sagen. Ich habe gesagt: Das, was in den proletarischen Köpfen besonders spukt, was einen treibenden Motor bildet, das ist, daß an die Stelle des alten Sklaventums die Versklaverei der Arbeit getreten ist, indem Arbeit in der heutigen sozialen Struktur Ware ist. Ich habe Ihnen gestern scharf betont, daß gerade darin die Aufgabe des sozialen Denkens besteht, die Ware loszulösen von der Arbeitskraft. Die dreigliedrige soziale Struktur, von der ich gesprochen habe, enthält schon denjenigen Impuls, der die Ware von der menschlichen Arbeit loslöst. Denn was durch diese Dreigliederung bewirkt wird, sind nicht logische Konsequenzen, sondern sind eben Wirklichkeitskonsequenzen, die auch der Anschauungswirklichkeit entsprechen.

Nun schließt sich an diese Frage eine andere an, die gewissermaßen brennend ist. Sie wissen, eine der Grundforderungen des proletarischen Materialismus, der marxistisch gefärbt ist, ist die der Vergesellschaftung der Produktionsmittel. Die Produktionsmittel sollen in den Gemeinbesitz übergehen. Das würde ja nur der Anfang des Gemeinbesitzes überhaupt sein, auch des Grund und Bodens und so weiter.

Und Sie wissen ja auch aus dem, was ich Ihnen vorgeführt habe als das Programm der russischen Räte-Republik-, daß es zu dem Programm gehört, die Produktionsmittel und Grund und Boden zu verstaatlichen, besser gesagt, zu vergesellschaften. Das weist Sie schon hin auf die denkbar wichtigste soziale Unterfrage der Gegenwart. Die kann man so formulieren: Soll das soziale Eingreifen in die gegenwärtige Kultur, oder auch in das gegenwärtige Chaos, wenn wir auf die Mittelländer und Ostländer sehen, so geschehen, daß die Tendenz sich herausbildet, daß gegen die Zukunft hin möglichst immer mehr einzelne Menschen Eigentümer werden, Besitzer werden, oder soll es sich so entwickeln, daß die Gemeinschaft Besitzer wird? - Sie verstehen, was ich meine. - Soll es so werden, daß möglichst der einzelne Mensch einen Besitz, ein Eigentum hat, oder soll, um die Ungerechtigkeit zu vermeiden, dasjenige, was Besitz werden kann, Grund und Boden, Produktionsmittel und so weiter, Gemeinbesitz werden? - Das ist eine sehr wichtige soziale Unterfrage. Die Tendenz des proletarischen Denkens strebt heute darauf hin, die Dinge zum Gemeinbesitz zu machen. Aber, es ist mit Bezug auf die wichtigsten sozialen Impulse kein Unterschied, ob ein einzelner oder eine Assoziation oder die Gesamtheit Besitzer ist. Die Gesamtheit - für den, der die Wirklichkeit studieren kann, bezeugt sich dieses - wird kein anderer, kein minder schlimmer Unternehmer sein gegenüber dem einzelnen, als es der einzelne Unternehmer ist. Das liegt einfach wie ein Naturgesetz in der Natur der Tatsachen, und das sieht man nur nicht ein; deshalb geht man in die Irre. Denn die Frage ist diese: Sollen alle Menschen Besitzer werden? - Das würde dann sein, wenn man nicht gemeinschaftlichen Besitz hätte - ich kann die Technik weiter nicht ausführen, sie ist aber vollständig durchführbar -, sondern wenn die einzelnen Individualitäten nach der Opportunität, die auf irgendeinem Territorium herrscht, wenn jeder in gerechter Weise Besitzer wäre. Sollen alle Besitzer werden, oder sollen, wie es das heutige proletarische Denken will, alle Proletarier werden? Das ist die Alternative. Das heutige proletarische Denken will alle zu Proletariern machen und nur die Gesamtheit zum Unternehmer.

Was sich da ergibt, wenn man die Wirklichkeit erfassen kann, das ist das Gegenteil. Denn niemals ist es möglich, die Dreigliedrigkeit der sozialen Struktur zu erreichen, wenn man alle Menschen zu Proletariern macht. Was erreicht werden muß als Tendenz der dreigliedrigen Struktur, ist die Freiheit des einzelnen Menschen in leiblicher, seelischer und geistiger Beziehung. Das ist nicht zu erreichen, wenn alle Menschen Proletarier werden; aber sie ist für jeden Menschen zu erreichen, wenn alle eine Grundlage des Besitzes haben.

Was zweitens erreicht werden muß, ist eine solche Regulierung der Verhältnisse, daß vor dem Gesetze oder vor der Verfassung, überhaupt vor der Regierung alle gleich sind. Freiheit auf dem geistigen Wege, Gleichheit meinetwillen im Staate, wenn man das eine Drittel weiter so nennen will, Brüderlichkeit in bezug auf das Leben in der Ökonomie. Ich kenne sehr geistvolle Bücher, die mit Recht hervorheben, daß die drei Ideen «Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit» einander widersprechen. Nun, Gleichheit widerspricht der Freiheit ganz entschieden; das haben 1848, und auch schon früher, geistvolle Schriftsteller ausgesprochen; das ist ganz richtig. Wenn man alles durcheinanderwirft, widersprechen sich die Dinge. Freiheit auf dem geistigen, juristischen Gebiete, der Religion, des Unterrichts, der Jurisprudenz; Gleichheit in der Verwaltung, in der Regierung, in dem Sicherheitsdienst; Brüderlichkeit auf ökonomischem Gebiete. - Auf ökonomischem Gebiete ist das Eigentum, das nur in entsprechender Weise für die Zukunft ausgebildet werden muß; auf dem Gebiete des Sicherheitsdienstes und der Verwaltung das Recht, und auf dem Gebiete des geistigen und juristischen Lebens die Freiheit. Wenn die Dinge nach der Trinität verteilt sind, widersprechen sie einander nicht. Denn dasjenige, was sich in Gedanken widerspricht, das ist deshalb wirklichkeitsgemäß, weil es in der Wirklichkeit auf Verschiedenes verteilt ist. Der Gedanke, der krebst nach Widersprüchen; die Wirklichkeit lebt aber nach Widersprüchen. Nun kann man die Wirklichkeit nicht erfassen, wenn man die Widersprüche nicht erfassen kann, wenn man in seinen Gedanken den Widersprüchen nicht nachkommt. Sie sehen aus alledem, daß die Geisteswissenschaft, wie sie hier gemeint ist, tatsächlich etwas zu sagen hat bei den wichtigsten Fragen der Gegenwart.

Das werden vielleicht doch einige von Ihnen begreifen, daß diese anthroposophisch orientierte Geisteswissenschaft einiges zu sagen hat und daß die Art, wie man über sie denken sollte, im Grunde beeinflußt werden sollte von dem Bewußtsein, wie sie zu den wichtigsten Forderungen der Zeit steht.