Brüderlichkeit halb-, Gleichheit un- und Freiheit höchstpersönlich

Quelle: GA 188, S. 163-165, 2. Ausgabe 1967, 24.01.1919, Dornach

Sie sehen daraus, daß wirkliche Menschenerkenntnis und wirkliche Erkenntnis der sozialen Struktur sich gegenseitig bedingen, daß man zu dem einen nicht kommen kann, ohne das andere. So wie der Mensch Kopfmensch, Brustmensch, Stoffwechselmensch ist, also Sinnes- und Nervenmensch, rhythmischer Mensch und Stoffwechselmensch ist, so ist der Staat nicht ein ganzer Organismus, sondern die soziale Struktur ist: Staat und Wirtschaft und geistiges Leben.

Das muß geradezu das Einmaleins werden für die soziale Einsicht in die Zukunft. Und die Sünde, die in bezug auf den Menschen gemacht wird, indem man Eingebung und Erfahrung eliminiert, die wird heute gemacht von dem sozialistischen Denken, indem ignoriert wird auf der einen Seite das Halbpersönliche, in jenem sozialen Denken, in dem die Brüderlichkeit walten muß für sich; indem ignoriert wird auf der andern Seite das geistige Leben, in welchem die Freiheit walten muß, während auf dem unpersönlichen Gesetzeselemente die Gleichheit zu walten hat.

Sie können in den Staat nicht die Brüderlichkeit hineinbringen; Sie können aber keine wirtschaftliche Organisation zustande bringen ohne die Brüderlichkeit. Das ist der große Irrtum des gegenwärtigen Sozialismus, daß er glaubt, durch staatliche Regelung, vor allen Dingen durch Sozialisierung der Produktionsmittel irgendwie eine gesunde soziale Struktur schaffen zu können. An alle Kräfte des sozialen Organismus muß appelliert werden, wenn eine gesunde soziale Struktur geschaffen werden soll. Da muß neben der Gleichheit, die heute einzig und allein angestrebt wird, die für alles Gesetzmäßige ganz richtig angestrebt wird, walten die Brüderlichkeit und die Freiheit. Aber sie können nicht walten, wenn nicht Dreigliedrigkeit eintritt. Sagt man: im Staate muß walten Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit, und der Staat ist omnipotent, dann ist das dasselbe, als wenn man sagt: Du brauchst keinen Kopf und du brauchst keinen Magen, sondern du sollst nur Herz und Lunge haben, denn das Herz muß denken, und die Lunge muß essen oder trinken. Geradeso unsinnig, wie es ist, vom Herzen und der Lunge zu verlangen, daß sie denken und essen sollen, so unsinnig ist es, von einem omnipotenten Staatswesen zu verlangen, daß es Wirtschaft führt und daß es das geistige Leben versorgt. Das geistige Leben muß auf sich selbst gestellt sein und nur so zusammenwirken, wie der Magen mit dem Kopf zusammenwirkt und mit dem Herzen. Es wirken schon die Dinge im Leben zusammen, aber sie wirken nur dann richtig, wenn sie ihre individuelle Ausgestaltung bekommen, nicht wenn man sie abstrakt zusammenpfercht. Das ist es, was vor allen Dingen eingesehen werden muß, und ohne diese Einsicht kommt man sicher nicht weiter. Und daß diese Einsicht errungen werden muß, das beweisen gerade die Tatsachen der Gegenwart. Es ist im höchsten Grade bemerkenswert, wie die Menschen in der Gegenwart diesen Zusammenhang zwischen Materialismus auf der einen Seite und abstraktem Denken auf der andern Seite gerade in bezug auf die soziale Frage gar nicht sehen.