Gliederung statt Widerspruch der drei Ideale I

Quelle: GA 328, S. 124, 1. Ausgabe 1977, 25.02.1919, Zürich

Denken Sie zurück an die drei großen Ideale der Französischen Revolution: Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit. Derjenige, der verfolgt, was diese Ideen in den Köpfen der Menschen im Laufe der Zeit für Schicksale durchgemacht haben, der weiß, wie oftmals die Menschen logisch gerungen haben mit dem Widerspruch, der besteht zwischen der Freiheit auf der einen Seite, die auf die einzelne persönliche Initiative hinweist, und der Gleichheit auf der anderen Seite, die realisiert werden soll in der Zentralisierung des staatlich orientierten sozialen Organismus. Das geht doch nicht. Aber die Sucht nach dieser Konfundierung ist entstanden in der neueren Zeit. Daß der Kapitalismus von heute noch nicht die Konzeption fassen konnte nach dem dreigliederigen sozialen Organismus, das ist entstanden aus der Idee des ganz zentralisierten Staates heraus.

Faßt man heute dasjenige, was schon in diesem Wollen, das sich in den drei Idealen: Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit zum Ausdrucke bringt, auf, so faßt man es heute leicht so auf, daß man es betrachtet von dem Gesichtspunkte des dreigliederig geordneten sozialen Organismus. Dann findet man als erstes Glied das geistige Leben. Es muß sich ganz durchdringen von dem Prinzip, dem Impuls der Freiheit. Da muß alles gestellt sein auf die freie Initiative des Menschen, und kann es auch, wird am fruchtbarsten wirken, wenn es so gestellt ist. In bezug auf den Rechtsstaat, in bezug auf das zwischen dem geistigen und dem wirtschaftlichen Leben regulierende Staatswesen, das eigentlich politische System, ist dasjenige, was alles durchdringen muß, die Gleichheit von Mensch und Mensch. Und in bezug auf das Wirtschaftsleben kann einzig und allein gelten die Brüderlichkeit, das soziale Miterleben des ganzen äußeren und inneren Lebens des einen Menschen durch den anderen.