Freiheit, Brüderlichkeit durch Staatsbeschränkung

Quelle: GA 329, S. 097-098, 1. Ausgabe 1985, 19.03.1919, Winterthur

Eine Heilung, eine wirkliche Gesundung des sozialen Organismus kann sich nur ergeben, wenn man einen Blick dafür hat, wie die Schäden, unter denen wir leben, gerade dadurch entstanden sind, daß man drei Gebiete, die nichts miteinander zu tun haben, miteinander verschmolzen hat, und daß der moderne Staat alles aufnehmen mußte, weil immer mehr und mehr gefragt wurde: Was soll der Staat tun? - Was er tun kann, man hat es gesehen in den Verheerungen, Verwüstungen Europas, die in den letzten viereinhalb Jahren eingetreten sind! Heute gebührt es vielmehr zu fragen: Was soll der Staat eigentlich unterlassen? Was ist besser, wenn er es nicht tut? - Zu dieser Frage müßte man sich heute aufschwingen. Wenn Sie den ganzen Kreis der Auseinandersetzungen betrachten, wie wir sie bisher gepflogen haben, dann werden Sie nicht erstaunt sein, wenn ich Ihnen sage, daß man auf der Grundlage gewissenhaftester Betrachtung des sozialen Lebens, wirklich mit ebenso guter Wissenschaft, die nur nicht in allen Einzelheiten im Laufe eines einzigen Vortrages vorgeführt werden kann, dazu kommt, die Forderung aufzustellen, die heute notwendigste praktische Forderung geradezu zur Befriedigung der proletarischen Bedürfnisse, nämlich: den Rückweg anzutreten in bezug auf das Verstaatlichen, in bezug auf das Zusammenschweißen von drei Dingen, die im Leben ganz verschieden voneinander sind.

Damit wir uns besser verstehen, lassen Sie mich Sie erinnern an jene drei Grundideen der neueren Zeit, die am Ende des 18. Jahrhunderts aus innerstem Bedürfnisse der Menschheit heraus, aus der Französischen Revolution heraus wie eine Devise der neueren Zeit erklungen sind: Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit. - Nun, es waren keineswegs dumme Leute des 19. Jahrhunderts und bis in unsere Zeit, die immer wieder und wiederum gezeigt haben, daß diese drei Ideen miteinander nicht vereinbar sind, daß Freiheit nicht vereinbar ist mit Gleichheit und so weiter. Dennoch, wer das empfinden kann, empfindet diese Ideen selber als gesunde Stufen des menschlichen Lebens, selbst wenn sie sich widersprechen. Und warum widersprechen sie sich? Sie widersprechen sich nur, weil man sie als Forderung erhoben hat immer mehr innerhalb dessen, was nimmermehr eine einzige Zentralisation in sich selber sein kann, sondern was sich in drei voneinander unabhängige, nebeneinander sich entwickelnde Glieder spalten muß.