Reine Demokratie statt Streik

Quelle: GA 330, S. 072, 2. Ausgabe 1983, 23.04.1919, Stuttgart

Ich brauche nur ein Wort auszusprechen, da rühre ich an etwas, woran zahlreiche Proletarier denken, aber zugleich auch an etwas, worüber sie heute noch nicht richtig fühlen können, weil sie nicht die ganzen wirtschaftlichen Konsequenzen überschauen, - ich brauche nur das Wort «Streik» auszusprechen. Ich weiß, sehr verehrte Anwesende, wenn der Proletarier hineingestellt wäre in die Möglichkeit, sich ohne Streik zu helfen, so würde er jeden Streik ablehnen. Ich kann mir wenigstens keinen vernünftigen Proletarier denken, der den Streik um des Streiks willen irgendwie wollte. Warum ist er heute oftmals so geneigt dem Streik? Aus dem Grunde, weil unser Wirtschaftsleben mit dem Staatsleben zusammengeht. Der Streik ist eine reine Wirtschaftssache und auch nur von wirtschaftlicher Wirkung. Es soll aber erzwungen werden eine staatliche Wirkung, eine politische Wirkung oftmals auch. Das kann nur sein in einem ungesunden sozialen Organismus, in dem noch nicht die Trennung eingetreten ist zwischen Staat und Wirtschaftsleben. Derjenige, der ins Wirtschaftsleben hineinschaut, weiß, daß es nur dann gesund sein kann, wenn niemals die Produktion unterbunden wird. Mit jedem Streik unterbinden Sie die Produktion. Wer streiken zu müssen glaubt, handelt aus Notwendigkeiten, die sich aus der Verquickung zwischen Staats- und Wirtschaftsleben gebildet haben. Das ist das große Unglück, daß wir heute zur Zerstörung des Lebens gezwungen werden durch diese unglückselige Verquickung dessen, was dreigeteilt sein soll. Es gibt keinen anderen Weg, endgültig Streik in der richtigen Weise zu vermeiden, als die staatliche Demokratie auf eigenen Boden zu stellen und es unmöglich zu machen, auf wirtschaftlichem Boden Rechte zu erkämpfen. Würde das eingesehen, ich weiß, die Leute würden sagen: Nun, wenn die Menschen endlich Vernunft annehmen, wenn sie uns nur sagen würden, daß sie auf etwas eingehen, was die sozialen Forderungen erfüllen soll, dann würden wir nicht streiken, denn wir wissen ja auch, daß nicht alles von heute auf morgen erreicht werden kann; wir wollen warten, aber wir wollen Garantien haben.