Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit als Menschenwürde

Quelle: GA 330, S. 073-074, 2. Ausgabe 1983, 23.04.1919, Stuttgart

Nehmen Sie vielleicht manches, was ich gesagt habe, so hin, als ob es Ihren Anschauungen widersprechen würde; aber zweifeln Sie nicht an der ehrlichen Bestrebung, dasjenige wirklich zu erreichen, was das Proletariat erreichen will und muß.

Seit mehr als einem Jahrhundert geht durch die Menschheit die Devise: Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit. Viele, die gescheit waren, haben im 19. Jahrhundert darüber geschrieben, wie widerspruchsvoll diese drei Worte seien. Sie hatten Recht. Warum? Weil diese Worte noch aufgestellt waren unter der Hypnose des Einheitsstaates. Erst wenn diese drei Worte, diese drei Impulse aufgestellt werden so, daß die Freiheit dem Geistesleben, die Gleichheit dem demokratischen Staat, die Brüderlichkeit der Assoziation des Wirtschafslebens gehört, erhalten sie ihre wirkliche Bedeutung. Erfüllen muß sich im 20. Jahrhundert noch dasjenige, was am Ende des 18. Jahrhunderts noch unverstanden als die Dreigliederung durch die Menschheit pulsierte. Machen wollen wir das, was wirkliche Gleichheit, Brüderlichkeit, Freiheit ist, aber einsehen müssen wir zuerst, wie notwendig ist, dasjenige, was sozialer Organismus ist, in seine drei Glieder zu teilen. Denn, wenn man einsieht, wie notwendig es ist und wenn man Hoffnung hat, daß innerhalb des Proletariats Verständnis erweckt werden muß für diese Dreigliederung, dann darf man auch den Glauben aussprechen, darf sagen: Ich glaube einmal daran, daß eine gesunde, gute, zukunftsfreudige Idee diejenige ist, die mehr oder weniger unbewußt in der neueren proletarischen Bewegung ruht. Der moderne Proletarier ist klassenbewußt geworden. Dahinter versteckt sich das Menschheitsbewußtsein, das Bewußtsein, daß Menschenwürde errungen werden muß. Durch das Leben selber will sich der Proletarier in einer menschenwürdigen Weise die Frage beantworten können: Was bin ich als Mensch? Stehe ich als Mensch menschenwürdig in der menschlichen Gesellschaft darinnen? Er muß eine Gesellschaftsordnung erringen, die ihn diese Frage mit «ja» beantworten läßt. Dann werden die heutigen Forderungen abgelöst sein durch einen gesunden sozialen Organismus. Damit wird die Arbeiterschaft erreicht haben, was sie erreichen will: Die Befreiung des Proletariats aus leiblicher und seelischer Not. Sie wird aber auch erreichen die Befreiung der ganzen Menschheit, das heißt, die Befreiung alles desjenigen Menschlichen im Menschen, was wert ist, wirklich befreit zu werden.