Elend durch geistig unproduktive Rentiers erzeugt

Quelle: GA 330, S. 082-085, 2. Ausgabe 1983, 25.04.1919, Stuttgart

Leicht ist es denjenigen, die die heutige untergehende Wirtschaftsordnung noch vertreten wollen, zu sagen: Ja, wenn man nun wirklich alles dasjenige aufteilt, was an Kapitalrente und Besitz von Produktionsmitteln vorhanden ist, in der Aufteilung verbessert es dasjenige, was der einzelne Proletarier hat, nicht besonders. - Es ist ein törichter, dummer Einwand, weil es gar nicht auf diesen Einwand ankommt, weil es sich gar nicht um diesen Einwand handelt, weil es sich um etwas viel Gründlicheres, Größeres und Gewaltigeres handelt. Um was es sich handelt, ist dieses, daß eben diese ganze Wirtschaftskultur, wie sie sich entwickelt hat unter der Einflußnahme der herrschenden Klassen, eine solche geworden ist, daß ein Überschuß, ein Mehrwert nur wenige eben mit den Früchten dieser Kultur beschenken kann. Unsere ganze Wirtschaftskultur ist so, daß eben nur wenige die Früchte genießen können. Es wird auch nicht mehr hergegeben an Mehrwert, als das, was nur wenige genießen können. Wenn man das Wenige aufteilen würde für die, die auch ein Recht haben, ein menschenwürdiges Dasein zu führen, so würde das allerdings nicht einmal im mindesten genügen. Woher kommt das?

Diese Frage muß anders gestellt werden, als sie heute sehr viele stellen. Ich möchte Ihnen nur einige Beispiele anführen, ich könnte diese Beispiele nicht verhundert-, sondern vertausendfachen; einige Beispiele vielleicht in Form von Fragen. Ich möchte fragen: Brauchten innerhalb der deutschen Wirtschaftskultur der letzten Jahrzehnte wirklich zum Beispiel alle Maschinen genau so viel Kohlen, als unbedingt nötig war für diese Maschinen? Fragen Sie einmal sachlich, und Sie werden zur Antwort bekommen, daß unsere Wirtschaftsordnung in einem solchen Chaos war, daß viele Maschinen viel mehr Kohlen in Anspruch nahmen in den letzten Jahrzehnten, als nach den technischen Fortschritten notwendig gewesen wäre. Was heißt das aber? Das heißt nichts anderes, als daß zur Produktion, zur Förderung dieser Kohlen viel mehr Menschenarbeit aufgewendet worden ist, als hätte aufgewendet werden sollen und hätte aufgewendet werden können, wenn wahrhaftig sozialökonomisches Denken vorhanden gewesen wäre. Diese menschliche Arbeitskraft wurde nutzlos verwendet, sie wurde verschwendet. Ich frage Sie: Ist es den Menschen bewußt, daß wir in den Jahren vor dem Krieg innerhalb der deutschen Wirtschaft doppelt so viel Kohlen gebraucht haben, als hätten gebraucht werden dürfen? Wir haben so viel Kohlen verschwendet, daß wir heute sagen müssen, wir hätten mit der Hälfte der Kohlenförderung ausgereicht, wenn die Menschen, welche die Technik, die Wirtschaft zu versorgen gehabt haben, auf ihrer Höhe gestanden hätten. Ich führe dieses Beispiel aus dem Grunde an, damit Sie sehen, daß ein Gegenpol vorhanden ist zur Luxuskultur der wenigen auf der einen Seite. Diese Luxuskultur hat es eben nicht dahin gebracht, fähige Köpfe aus sich heraus zu erzeugen, die wirklich gewachsen gewesen wären dem neueren Wirtschaftsleben. Dadurch ist unendlich viel Arbeitskraft verschwendet worden. Dadurch ist die Produktivität untergraben worden. Das sind die geheimen Ursachen, ganz sachliche Ursachen sind es, durch die wir in jene Lage hereingebracht worden sind, in der wir jetzt drinnenstehen. Daher muß man auch die soziale und die Sozialisierungsfrage in technisch-sachlicher Weise lösen. Die bisherige Kultur hat nicht die Köpfe hervorgebracht, die gewachsen gewesen wären, irgendwie eine Industriewissenschaft zu schaffen. Es gab keine Industriewissenschaft, alles beruht auf Chaos, auf Zufällen. Vieles war überlassen der Gerissenheit, dem Übervorteilen, dem unsinnigsten persönlichen Wettbewerb. Das aber mußte sein. Denn wäre man durch Industriewissenschaft auf das Sachliche eingegangen, dann wäre längst nicht mehr das herausgekommen, was nur eine Luxuskultur von dem Mehrwert der arbeitenden, produzierenden Bevölkerung für einzelne wenige ergeben hat. Man muß heute die Sozialisierungsfrage in einer ganz anderen Weise anfassen, als sie viele anfassen.

Sehen Sie, es kann heute einer kommen und kann sagen: Ja, sieh mal, du bist der Ansicht, daß es künftig nicht mehr faulenzende Rentiers geben darf? - Jawohl, ich bin dieser Ansicht. Da wird er mir sagen, wenn er im Sinne der gegenwärtigen Wirtschaftsordnung als ihr Anhänger kämpft: Aber bedenke doch nur, wenn du alle die Rentenvermögen zusammenzählst und verteilst, wie wenig das ist, wie klein das ist mit Bezug auf dasjenige, was nun all die Millionen von arbeitenden Menschen zusammen haben. - Ich werde ihm sagen: Ich weiß ebensogut wie du, daß die Rentenvermögen nur weniges sind, aber sieh mal, eine Gegenfrage: Es ist ein ganz kleines Geschwür, das jemand an irgendeiner Körperstelle hat. Dieses Geschwür ist im Verhältnis zum ganzen Körper sehr klein. Aber kommt es auf die Größe des Geschwürs an oder darauf, daß, wenn es auftritt, es zeigt, daß der ganze Körper ungesund ist? Nicht darauf kommt es an, die Größe des Rentenvermögens auszurechnen, nicht darauf, die Rentiers unbedingt moralisch zu verurteilen - sie können ja nichts dafür, sie haben diese Weisheit, Rentiers zu sein, ererbt oder dergleichen—, sondern darauf kommt es an, daß, ebenso wie sich im natürlichen menschlichen Organismus eine Krankheit, ein Ungesundes in seiner Ganzheit zeigt, wenn ein Geschwür ausbricht, so zeigt sich das Ungesunde des sozialen Organismus, wenn in ihm überhaupt Müßiggang oder Rente möglich ist. Die Rentiers sind einfach der Beweis, daß der soziale Organismus ungesund ist; sie sind der Beweis, daß alle Müßiggänger wie alle diejenigen, die nicht selber arbeiten können, zu ihrem Unterhalt die Arbeit anderer benützen.

Die Gedanken müssen einfach in ein ganz anderes Fahrwasser gebracht werden. Man muß sich überzeugen können davon, daß unser Wirtschaftsleben ungesund geworden ist. Und man muß jetzt die Frage stellen: Woher kommt es denn, daß innerhalb des Wirtschaftskreislaufes Kapital, Menschenarbeit, Ware sich in einer so ungesunden Weise namentlich für die Frage der breiten Massen der Menschheit, ob man als Arbeiter ein menschenwürdiges Dasein führen kann ausgestalten? Das muß gefragt werden. Dann aber kann man nicht mehr innerhalb des bloßen Wirtschaftslebens stehenbleiben, dann wird man notwendig dazu geführt, wenn man diese Frage in all ihrer Tiefe sieht, die soziale Frage dreigliedrig zu fassen, als Geistesfrage, als Staats- oder Rechtsfrage und als Wirtschaftsfrage. Deshalb müssen Sie mir schon auch ein Viertelstündchen es zugute halten, wenn ich zunächst spreche über die soziale Frage als Geistesfrage. Denn derjenige, der sich gerade mit dieser Seite ein wenig befaßt hat, der weiß, warum wir keine Industriewissenschaft haben, warum wir nicht haben dasjenige, was nun wirklich aus den Menschenköpfen heraus eine gesunde Leitung, eine gesunde Sozialisierung unseres Wirtschaftslebens längst ergeben hat. Wenn ein Ackerboden krank ist, dann wächst darauf auch keine Frucht. Wenn das Geistesleben einer Menschheit in einem bestimmten Zeitalter nicht gesund ist, dann wächst diejenige Frucht nicht darauf, welche wachsen soll als ökonomische Wirtschaftsübersicht, als eine Möglichkeit, die ökonomische Wirtschaftsordnung so zu beherrschen, daß wirklich ein Heil für die breiten Massen daraus entstehen kann.