Angeborenes Rechtsbewußtsein will Arbeits- statt Müßiggängerrecht

Quelle: GA 330, S. 095-098, 2. Ausgabe 1983, 25.04.1919, Stuttgart

Dem Staat gehört alles dasjenige, worin alle Menschen gleich sind, wofür besondere Begabungen nicht in Betracht kommen, wofür das in Betracht kommt, das dem Menschen eingeboren ist, wie ihm eingeboren ist im gesunden Auge die Fähigkeit, blau oder rot zu sehen. Für den Staat kommt in Betracht das Rechtsbewußtsein. Dieses Rechtsbewußtsein, es kann in der Seele schlafen, aber es ist in das Herz eines jeden Menschen gelegt. Der Proletarier suchte die Auslebung dieses Rechtsbewußtseins. Was fand er? Wie er auf dem Gebiete des Geisteslebens den Geistesluxus fand, der wie ein Rauch war, der aus dem Wirtschaftsleben hervorquoll, so fand er auf dem Gebiete des Staates nicht die Auslebung des Rechtsbewußtseins, sondern Standesvorrechte, Klassenvorrechte und Klassenbenachteiligungen. Da haben Sie die Wurzel des antisozialen Lebenselementes der neueren Zeit. Dem Staat gehört alles dasjenige, worin alle Menschen gleich sind. Gleich sind sie nicht in bezug auf geistige und physische Fähigkeiten und Geschicklichkeiten. Die gehören zur Pflege dem freien Geistesleben. Der Staat wird erst dann etwas Gesundes sein, wenn er nicht im Sinne der modernen bürgerlichen Ordnung, man könnte auch sagen, der eben ihrem Niedergang entgegengehenden bürgerlichen Ordnung, aufsaugt das Geistesleben und das Wirtschaftsleben, sondern wenn er auf der einen Seite das Geistesleben, auf der andern Seite das Wirtschaftsleben für deren eigene Sozialisierung freigibt. Das ist das, um was es sich handelt. Dann wird es möglich sein, daß der Arbeiter, als gleicher allen Menschen im Gebiete des Staates gegenüberstehend, regelt Maß und Art und Charakter seiner Arbeitskraft, bevor er sich überhaupt in das Wirtschaftsleben zu stürzen hat. Es muß in Zukunft so unmöglich sein, daß durch wirtschaftliche Konjunktur, durch die wirtschaftlichen Zwangsverhältnisse etwas über das Arbeitsrecht bestimmt wird, wie es einfach durch Naturverhältnisse unmöglich ist, daß aus dem wirtschaftlichen Kreislauf oder aus sonstigem heraus die Naturkräfte, Regen und Sonnenschein, geregelt werden. Unabhängig vom Wirtschaftsleben muß staatlich festgestellt werden auf demokratischem Boden, wo ein Mensch dem andern gleich ist, in dem vom Wirtschaftsleben ganz abgesonderten Staat, was Arbeitsrecht ist, und was dasjenige ist, was diesem Arbeitsrecht entgegensteht, was Verfügung über eine Sache ist, was man heute Besitz nennt, was aber im weitestgehenden Umfang aufhören muß und einem Gesunden weichen muß in Zukunft. Wenn nicht das Wirtschafsleben bestimmt die Arbeitskraft, sondern wenn umgekehrt das Wirtschaftsleben sich richten muß nach dem, was der Arbeiter aus sich selber heraus in der staatlichen Demokratie über seine Arbeit bestimmt, dann ist eine wichtige Forderung erfüllt.

Nun ja, man wird einwenden können: Dann wird das Wirtschaftsleben abhängig von dem Gesetz und Recht über Arbeitskraft. Sehr wohl, aber das wird eine gesunde Abhängigkeit sein, eine ebenso naturgemäße Abhängigkeit sein, wie die Abhängigkeit von der Natur. Der Arbeiter wird, bevor er in die Fabrik geht, wissen, wieviel und wie lange er zu arbeiten hat; er wird überhaupt gar nichts mehr zu regeln haben mit irgendeinem Arbeitsleiter über das Maß und die Art seiner Arbeit. Er wird nur zu reden haben über dasjenige, was als Verteilung zu existieren hat des gemeinsam mit dem Arbeitsleiter Hervorgebrachten. Das wird ein möglicher Arbeitsvertrag sein. Es wird Verträge geben bloß über die Verteilung des Geleisteten, nicht über die Arbeitskraft. Das ist nicht ein Zurückkehren zum alten Stücklohn; das wäre nur so, wenn dieser Prozeß der Sozialisierung nicht im ganzen Großen drinnen gedacht würde.

Über etwas kann ich noch kurz sprechen, was dem Arbeitsrecht, das den Arbeiter frei machen wird, entgegensteht. Der gewöhnliche Sozialismus spricht sehr viel davon, daß das Privateigentum in die Gemeinsamkeit übergehen soll. Aber die große Frage dieser Sozialisierung wird ja eben das Wie sein. In unserer heutigen Wirtschaftsordnung haben wir nur auf einem Gebiete ein bißchen gesundes Denken mit Bezug auf das Eigentum. Das ist auf demjenigen Gebiet, das der modernen bürgerlichen Phraseologie, der modernen bürgerlichen Unwahrhaftigkeit innerlich doch nach und nach das unbedeutendste Eigentum geworden ist, es ist nämlich das geistige Eigentum. In bezug auf dieses geistige Eigentum, sehen Sie, denken die Leute doch noch ein bißchen gesund. Sie sagen sich da: Mag einer ein noch so gescheiter Kerl sein, er bringt sich mit der Geburt seine Fähigkeiten mit, aber das hat keine soziale Bedeutung, im Gegenteil, das ist er verpflichtet der menschlichen Gesellschaft darzubringen, mit diesen Fähigkeiten wäre es nichts, wenn der Mensch nicht drinnenstehen würde in der menschlichen Gesellschaft. Der Mensch verdankt, was er aus seinen Fähigkeiten schaffen kann, der menschlichen Sozietät, der menschlichen sozialen Ordnung. Es gehört einem in Wahrheit nicht. Warum verwaltet man sein sogenanntes geistiges Eigentum? Bloß deshalb, weil man es hervorbringt; dadurch, daß man es hervorbringt, zeigt man, daß man die Fähigkeiten dazu besser hat als andere. So lange man diese Fähigkeiten besser hat als andere, so lange wird man im Dienste des Ganzen am besten dieses geistige Eigentum verwalten. Nun sind die Menschen wenigstens darauf gekommen, daß sich nicht endlos forterbt dieses geistige Eigentum; dreißig Jahre nach dem Tode gehört das geistige Eigentum der gesamten Menschheit. Jeder kann dreißig Jahre nach meinem Tode drucken, was ich hervorgebracht habe; man kann es in beliebiger Weise verwenden, und das ist recht. Ich wäre sogar einverstanden, wenn noch mehr Rechte wären auf diesem Gebiet. Es gibt keine andere Rechtfertigung dafür, daß man geistiges Eigentum zu verwalten hat, als daß man, weil man es hervorbringen kann, auch die besseren Fähigkeiten hat. Fragen Sie heute den Kapitalisten, ob er einverstanden ist, für das ihm wertvolle materielle Eigentum einzugehen auf das, was er für das geistige Eigentum für das Richtige hält! Fragen Sie ihn! Und doch ist das das Gesunde. Es muß einer gesunden Ordnung zugrunde liegen, daß jeder aus der geistigen Organisation, die eine gesunde Verwaltung der menschlichen Fähigkeiten sein wird - Sie finden das näher ausgeführt in meinem Buche «Die Kernpunkte der sozialen Frage» -, zu Kapital kommen kann. Dahin muß es aber kommen, daß die Mittel und Wege gefunden werden, zu dieser großen, umfassenden Sozialisierung des Kapitals, das heißt der Kapitalsrente und der Produktionsmittel, daß jeder zu Kapital und Produktionsmittel kommen kann, der die Fähigkeiten dazu hat, daß er aber nur so lange die Verwaltung und Leitung von Kapital und Produktionsmitteln haben kann, als er diese Fähigkeiten ausüben kann oder ausüben will. Dann gehen sie über, wenn er sie selber nicht mehr ausüben will, auf gewissen Wegen in die Gesamtheit. Sie beginnen zu zirkulieren in der Gesamtheit.

Das wird ein gesunder Weg sein zur Sozialisierung des Kapitals, wenn wir dasjenige, was sich heute als Kapitalien im Erbschaftsrecht, im Entstehen von Renten, von Müßiggängerrecht, von anderen überflüssigen Rechten, was so sich aufhäuft in Kapitalien, in Fluß bringen im sozialen Organismus. Darauf kommt es an. Wir brauchen gar nicht einmal zu sagen: Privateigentum muß Gesellschaftseigentum werden. Der Eigentumsbegriff wird überhaupt keinen Sinn haben.