Bürgertum im Einsatz für Demokratie inkonsequent geblieben

Quelle: GA 330, S. 123-125, 2. Ausgabe 1983, 28.04.1919, Stuttgart

Nun ja gewiß, diese leitenden, führenden Klassen, die konnten nicht anders, als das Leben immer mehr und mehr demokratisch gestalten, sie riefen die breiten Massen der Menschheit zur Demokratie auf. Sie verfielen nach und nach auch darauf, von dem, was sie als Geistesleben pflegten, allerlei abzugeben an das Proletariat; Volkshochschulen wurden gegründet, Kunsthäuser, in denen dem Volke gezeigt wurde, was die anderen Klassen an Kunst hervorbringen und so weiter. Was sich da ausgestaltete - niemand soll natürlich ein Vorwurf gemacht werden, denn die Leute glaubten, das Rechte zu tun, was im Sinne des Fortschritts in der Demokratie lag -, aber was in Wirklichkeit in Szene gesetzt wurde, war nichts weiter als eine große Lebenslüge. Man verstand sie nur nicht, diese Lebenslüge. Wenn man aufrief die breiten Massen des Proletariats, daß sie anschauen sollten die Bilder der Bürgerlichen, daß sie zuhören sollten bei den Schulkursen der Bürgerlichen, und wenn ihnen dann eingeredet wurde, sie verständen etwas davon, dann war das nicht wahr. Denn man kann auf dem Gebiete des Geisteslebens nichts erleben, wenn nicht das Erzeugte innerhalb der gleichen Gemeinschaft erzeugt ist. Indem eine tiefe Kluft sie auftat in bezug auf die sozialen Erlebnisse des Proletariats und des Bürgertums, war auch das angebliche Verstehen der bürgerlich-geistigen Hervorbringung von seiten des Proletariats weiter nichts als eine Lebenslüge.

So konnte das Proletariat nicht anders, als sie hineingestellt fühlen in das bloße Wirtschaftsleben. Es war ja alles daraufhin organisiert, daß nur wenige die Früchte dieses Geisteslebens wirklich genießen konnten. Das Proletariat aber, was nahm es denn wahr? Auf dem Gebiete des Wirtschaftslebens nahm es wahr das Kapital, die Wirksamkeit seiner eigenen Arbeitskraft und die Warenzirkulation, Warenerzeugung und den Warenkonsum. Das war alles, was es in Wirklichkeit erlebte. Sah es aber auf den Staat hin, welcher in dieser Weise seinem Rahmen nach benützt wurde, wie ich es eben dargestellt habe von den leitenden, führenden Schichten der neueren Zeit, dann fühlte der Proletarier etwas, was jeder Mensch fühlen kann, der seelisch gesund organisiert ist. Man kann viel nachdenken darüber, was der wichtige Begriff des Rechtes innerhalb der Menschheit, besser gesagt, innerhalb der Menschlichkeit, eigentlich bedeutet. Man wird sich zuletzt sagen: Das Rechtsbewußtsein ist etwas so Ursprüngliches gegenüber der menschlichen Natur wie dem gesunden Auge gegenüber die Wahrnehmung der blauen oder roten Farbe. Zu dem gesunden Auge kann man immer sprechen von der roten oder blauen Farbe, aber man kann nicht irgendeine abstrakte Vorstellung davon hervorrufen. So kann man zu jedem gesunden Menschen über die einzelnen Redete sprechen. Das fühlte auch die breite Masse des Proletariats in den Zeiten, in denen es durch das demokratische Prinzip zur Selbstbesinnung gekommen ist an der Maschine und im Kapitalismus drinnen. Dann aber sah dieses Proletariat hin nah dem Staate. Was glaubte es von seinem Standpunkte aus mit Recht innerhalb dieses Staates zu finden? Wahrhaftig nicht die Verwirklichung des Rechtes, sondern den Klassenkampf mit seinen Klassenvorrechten und Klassenbenachteiligungen. Hier haben wir wieder ein Beispiel, wo das bürgerliche Denken sich kraftlos erwiesen hat. Auf der einen Seite war es genötigt, Demokratie walten zu lassen, auf der anderen Seite trug es nichts dazu bei, die Konsequenz dieser Demokratie zu ziehen, und ließ sie nicht wirklich dazu herbei, dasjenige vom Staate auszuscheiden, was ausgeschieden werden muß, und in die Sphäre des Staates einzubeziehen, was in die Sphäre des Staates einbezogen werden muß.

Ich will heute wegen der vorgerückten Zeit nur auf etwas hinweisen, aber auf ein Wichtigstes, auf den zweiten Kernpunkt der sozialen Bewegung der neueren Zeit. In will darauf hinweisen, wie eingeschlagen hat - wie gesagt, derjenige, den sein Schicksal dazu bestimmt hat, mit dem Proletariat zu denken, der hat es immer wieder und wiederum gesehen - in die Gemüter der Proletarier das Wort von Karl Marx, daß das moderne Proletariat leiden muß darunter, daß seine Arbeitskraft auf dem Arbeitsmarkte gekauft wird wie eine Ware, daß im Wirtschaftsleben nicht bloß zirkulieren Waren, sondern daß menschliche Arbeitskraft da zirkuliert. Die Entlohnung ist nichts anderes als das Kaufen der menschlichen Arbeitskraft wie eine Ware. Gewiß, der Proletarier war nicht so gebildet durch das Erbgut der bürgerlichen Wissenschaft, die er übernommen hat, daß er sich im Verstande deutlich machen konnte, was eigentlich vorlag. Und die proletarischen Führer hatten ja erst recht die bürgerliche Wissenshaft geerbt, sie konnten es erst recht nicht. Aber der Proletarier fühlte im Herzen gegenüber dem eben angeführten Wort von Karl Marx das Folgende. Er blickte zurück in alte Zeiten und sagte sich: Es gab einmal Sklaven, da konnte der Kapitalist den ganzen Menschen kaufen wie eine Kuh oder wie einen Gegenstand. Dann kam die Zeit der Leibeigenschaft, da konnte man schon weniger vom Menschen kaufen, aber immerhin noch genug. Dann kam die neuere Zeit, die Zeit, in der man dem Menschen weismachte, er sei ein freies Wesen. Aber der Proletarier konnte sich seiner Freiheit nicht erfreuen, denn er mußte jetzt noch immer etwas von sie verkaufen, nämlich seine Arbeitskraft. Man kann nicht die Arbeitskraft verkaufen wie etwas, das man erzeugt hat. Ein Wagenrad, ein Pferd kann man auf den Markt bringen und verkaufen und dann wieder zurückgehen, mit der Arbeitskraft muß man mitgehen. Da ist ein Rest von Sklaverei im wirklichen Leben, wenn auch noch so viel geredet wird und noch so viel wissenschaftlich gelehrt wird von der sogenannten Freiheit. Das war dasjenige, was sich in den Gefühlen des Proletariers festlegte, was auch hätte gefühlt werden müssen von einem wirklichen Geistesleben in den leitenden, führenden Kreisen. Aber indem man zwar die Demokratie mit Recht heraufbrachte, die dieses Gefühl großzog gegenüber der menschlichen Arbeitskraft, war man kurzsichtig genug, diesem Gefühl durch keine Einrichtung entgegenzukommen.