Westwirtschaft statt Brüderlichkeit, Ostgeistesleben ohne Freiheit

Quelle: GA 192, S. 120-122, 1. Ausgabe 1964, 18.05.1919, Stuttgart

Wer den Westen, insofern er anglo-amerikanisch ist, richtig zu studieren versteht, der findet dort eine Summe von menschheitlichen Instinkten, von Impulsen, die aus dem geschichtlichen Leben heraus kommen. Alle diese Impulse sind politisch-wirtschaftlicher Art. Es gibt elementare, bedeutsame Impulse innerhalb des Anglo-Amerikanertums, die alle politisch-wirtschaftliche Färbung haben, die alle politisch so denken, daß politisch über die Wirtschaft gedacht wird. Aber nun gibt es da eine Eigentümlichkeit; das ist die: Sie wissen, wenn wir reden über das Wirtschaftliche, so fordern wir, daß im Wirtschaftlichen in der Zukunft walte die Brüderlichkeit; die war gerade herausgetrieben aus dem westlichen imperialistischen, politisch-wirtschaftlichen Streben. Die Brüderlichkeit war da gerade weggeblieben, die war ausgeschaltet worden. Daher nahm das, was da lebte, den stark kapitalistischen Zug an.

Die Brüderlichkeit, die entwickelte sich im Osten. Wer den Osten nach seiner ganzen geistig-seelischen Art studiert, der weiß, daß da aus dem Menschen herausquillt wirklich der Sinn für die Brüderlichkeit. Und so war das Eigentümliche im Westen die Hochflut des wirtschaftlichen Lebens unter der Unbrüderlichkeit, daher zum Kapitalismus hintendierend. Im Osten die Brüderlichkeit ohne die Wirtschaft; beides wurde auseinandergehalten durch Mitteleuropa, durch uns. Wir haben die Aufgabe - und das ist dasjenige, was vor allen Dingen der Lehrer wissen müßte -, wir haben die Aufgabe, synthetisch zusammenzufassen die Brüderlichkeit des Ostens mit der Unbrüderlichkeit, aber wirtschaftlichen Denkweise des Westens. Dann sozialisieren wir im großen Weltensinn, wenn wir das zustande bringen.

Und wiederum schauen wir nach dem Osten mit einer richtigen Richtlinie. Da haben wir von alters her ein hohes Geistesleben. Daß es heute schon erstorben wäre, kann nur jemand behaupten, der Rabindranath Tagore nicht versteht. Es lebt da der Mensch ein geistig-politisches Leben. Das ist im Osten. Wo ist sein Gegenpol? Der ist nun wiederum im Westen! Denn diesem geistig-politischen Leben des Ostens fehlt etwas: die Freiheit. Es ist eine Gebundenheit, die bis zur Selbstentäußerung des Menschen in Brahma oder Nirwana geht. Es ist das Widerspiel aller Freiheit. Freiheit hat sich dafür der Westen erobert. Wir sind dazwischen drinnen, wir müssen das synthetisch zusammenfassen. Solches können wir nur, wenn wir klar im Leben auseinanderhalten Freiheit und Brüderlichkeit, und das dazu haben, was die Gleichheit ist. Wir müssen unsere Aufgabe nicht nur verstehen so, daß sich für alle alles schickt. Denn es ist der Verderb alles Wirklichkeitsstrebens, wenn man abstrakt denkt. Diejenigen Menschen ruinieren alles wirklichkeitsgemäße Denken, die glauben, man könne über die ganze Erde hin ein einheitlich abstraktes Ideal aufstellen, oder für die Gegenwart eine solche gesellschaftliche Ordnung bestimmen, die ewig gültig wäre. Unsinn ist das nicht nur, sondern Versündigung wider die Wirklichkeit, denn jeder Raumteil und jeder Zeitteil hat seine eigene Aufgabe, die man erkennen muß.