Alle geistige Arbeit wird Ware, wenn nur physische Arbeit befreit wird

Quelle: GA 337a, S. 095-096, 1. Ausgabe 1999, 30.05.1919, Stuttgart

Der große Kampf zwischen Bürgertum und Proletariat geht dahin, die Arbeitskraft nicht mehr eine Ware sein zu lassen. So wie die Dinge heute liegen, handelt es sich darum, daß das Proletariat energisch verlangt - und das ist nicht allein eine proletarische Forderung, sondern eine geschichtliche -, daß in der Zukunft die physische Arbeitskraft nicht mehr Ware sein dürfe. Das Bürgertum hat den Liberalismus verlangt, weil es die alten aristokratischen Vorrechte nicht mehr wollte, weil es das Recht nicht mehr zu einer Eroberungs- und Kaufsache machen wollte. Das Proletariat verlangt die Emanzipation der Arbeitskraft vom Warencharakter. Wollen wir nicht etwas übriglassen, was ganz Mittel- und Osteuropa in den Zustand der Barbarei bringen würde, so müssen wir heute noch ein weiteres einsehen. Würde sich heute nicht die Forderung aus dem Proletariat heraus ergeben, mit den geistigen Arbeitern verständnisvoll zusammenzuarbeiten, dann würde das Proletariat zwar die physische Arbeit des Warencharakters entkleiden, aber die Folge davon wäre, daß in der Zukunft eintreten würde ein Zustand, durch den alle geistige Menschenkraft zur Ware wird. Dieser Zustand darf nicht erreicht werden, darf nicht herbeigeführt werden. Es muß der Ernst der Aufgabe so erfaßt werden, daß mit der physischen Arbeit zu gleicher Zeit auch der geistigen, wirklich geistigen Arbeit ihr Recht werde. Die alte Aristokratie hat herbeigeführt die Rechtlosigkeit des Menschen, das alte Bürgertum hat herbeigeführt die Besitzlosigkeit des Proletariats. Wenn die bloß materialistisch-wirtschaftliche Auffassung der proletarischen Frage bliebe, so würde zurückbleiben die Entmenschtheit des Geisteslebens. Vor dieser Gefahr stehen wir, wenn nicht diejenigen, welche Herz und Sinn haben für das Geistesleben, sich auf den Boden stellen, dieses Geistesleben selbst zu befreien. Und dieses Geistesleben kann nur befreit werden, wenn wir von [der Abhängigkeit des] Geisteslebens, das ich ja in der verschiedensten Weise charakterisiert habe, Abschied nehmen und wirklich durch einen ernsthaften Kulturrat eine Neugliederung des Geisteslebens herbeiführen.